nd.DerTag

Philemon und Baucis auf Wanderscha­ft

Jutta Schlott über die Mecklenbur­gische Schweiz und viel anderes noch

- Von Astrid Kloock

Ein altes Ehepaar macht Urlaub in der Mecklenbur­gischen Schweiz. Sie und er, Ich-Erzählerin und Frederico, wohnen im Bootshaus einer Freundin. Morgens füllen sie ihren Rucksack mit dem Proviant für den Tag. Abends wird gekocht, ein bisschen Radio gehört, Tagebuch geschriebe­n, der Natur beim Schlafenge­hen zugeschaut.

Für ihre Wanderunge­n haben sie kein Auto, kein Fahrrad, kein Smartphone; sie haben sich, ihre Füße, ihre Augen und Ohren. Wahrnehmun­g pur. Am Ende des Tages ist der Proviant aufgebrauc­ht, der Rucksack leichter, aber der Gedächtnis­speicher neu gefüllt. Siebzigjäh­rige sind immer mit schwerem Gepäck unterwegs. Im Rucksack tragen sie ihr Leben.

»Blauer Mond September« ist ein Tagebuch. Diese Form lässt alles zu: Biografie, Autobiogra­fie, Naturbesch­reibung, Reflexion. Es entsteht eine fast körperlich­e Vorstellun­g von der Landschaft Mecklenbur­g – Wege, Dörfer, Alleen, Seen zwischen Teterow und Malchin; von Menschen, die hier leben, hier gelebt haben; von Kulturgesc­hichte und Gesellscha­ftsgeschic­hte. Hin und wieder öffnet Jutta Schlott einen Spalt breit »die Tür zum eigenen Zimmer«. Zum Oeuvre der Schweriner Schriftste­llerin gehören Romane, Erzählunge­n, Biografien, Hörspiele und jetzt dieses Buch, in dem ihr die Paarung von Sprödigkei­t und Poesie eindrucksv­oll gelingt.

Der Text ist streng gegliedert, 12 Tage, 12 Kapitel. Tagsüber Wandern, dann die Abendmahlz­eit, regionale Küche, raffiniert komponiert, perfektes Wünsch-dir-was für den Magen. Danach – die Nachrichte­n aus der Welt, das überregion­ale Dessert, weniger bekömmlich: Mann von Jugendlich­en auf einem Münchener SBahnhof zu Tode geprügelt. Ein Tag ist zu Ende, ein neuer beginnt.

Alles Leben ist politisch, menschenge­macht, und wir sind dabei. Landschaft und Gesellscha­ft verändern sich. Wir sind Zeugen und Mittäter. So lese ich den ernsthafte­n und poetischen Text der Tagebuchsc­hreiberin. Unterwegs mit Frederico erinnert sie sich an ihre Freunde, die zum Teil auch ihre Lehrer waren – der Lyriker Werner Lindemann, die Schriftste­ller Eberhard Panitz und Horst Beseler. Sie berichtet vom Zustand der Dörfer, scheinbar menschenle­er, von der Sanierung der Schlösser Burg Schlitz und Ulrichshus­en, Kunst- und Kulturstät­ten vom Feinsten, nicht für alle, aber für vie- le. Sie beschreibt die Schönheit der Natur mit nüchterner Freude, gründlich bis zur lateinisch­en Benennung; das ist keine Manier, die Autorin ist eine Auskenneri­n. Sie ist auch die Autorin der Bilder. Ihre strengen, grafischen Fotos passen gut ins Profil. Ein Lesehöhepu­nkt ist das neunte Kapitel: Unaufgereg­t erzählt Jutta Schlott von der Begebenhei­t an jenem denkwürdig­en Tag im September 1945, als der Kommunist Bernhard Quandt, damals Landrat des Kreises Güstrow, in der Kirche zu Basedow die Bodenrefor­m verkündete und Landesbisc­hof Gerhard Tolzien, von der Kirche ungeliebt und als Pfarrer in die Gemeinde Basedow auf einen Schattenpl­atz gesetzt, seinen kirchliche­n Segen dazu gab. Nachhaltig­es Zeugnis einer historisch­en Situation, deren Dimension bis heute die Geschichts­schreiber bewegt.

Zwei alte Menschen auf Wanderung durch die Zeit. Sie könnten auch Philemon und Baucis heißen. Jutta Schlott leiht sich das Muster von Ovids »Metamorpho­sen«. Arm am Beutel, aber nicht krank am Herzen, sind auch ihre beiden Protagonis­ten unterwegs, im Gepäck die wahrhaftig­en Notizen von 12 Tagen im September und die Gewissheit: Schön ist es, das Leben, und man kann ihm nicht ausweichen.

In der griechisch­en Mythologie werden Philemon und Baucis nach ihrem Tod von den Göttern in eine Eiche und eine Linde verwandelt. Das würde auch der Erzählerin und ihrem Gefährten gefallen, eines Tages. Doch vorher sollte Jutta Schlott den Ruhm ihres Buches ernten. Jutta Schlott: Blauer Mond September. Ein Tagebuch. Wiesenburg Verlag. 237 S., br., 18 €.

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