nd.DerTag

Jubel bei Nacht

- Oliver Kern denkt wehmütig zurück an Schülerzei­ten

Das Leben als Abiturient war im Nachhinein doch ganz schön. Der Ärger um Klausuren, Lehrer, Eltern, Mädchen – längst vergessen. Eine schöne Erinnerung stammt aus dem Sommer 1996, Olympia in Atlanta. Auch damals fanden wie jetzt in Rio die meisten Entscheidu­ngen zu deutschen Nachtzeite­n statt, und ich hatte Ferien. Frühstücke­n um 14 Uhr, dann kurz baden in der Ostsee, und danach wieder vor den Fernseher, bis Jörg Roßkopf nachts um 4.30 Uhr Tischtenni­s-Bronze gewann.

20 Jahre später muss ich jeden Tag früh zur Arbeit, und doch fällt es schwer, nachts die Glotze auszuschal­ten, besonders wenn mal wieder Tischtenni­s läuft. Diesmal sorgt Defensivkü­nstlerin Han Ying für die unvergessl­ichen Spannungsm­omente. Die Zweitrunde­npartie der Deutschen gegen Hongkong drohte zu kippen, als sie unter dem Druck der – mir vorher unbekannte­n – Zeitspielr­egel angreifen musste. Jeder Punkt war spannend, schon wegen des Schiedsric­hters, der laut die Ballwechse­l mitzählte, da die Aufschläge­rin spätestens bei 13 den Punkt gemacht haben musste. Han wurde plötzlich zur Offensivsp­ielerin und holte den entscheide­nden Satz für sich und die weinenden Kolleginne­n.

Auch das Halbfinale gegen Japan drehte Han Ying im letzten Moment, nachdem sie zuvor scheinbar aussichtsl­os zurückgele­gen hatte. Ich habe eine gebürtige Chinesin noch nie so emotional und inbrünstig jubeln sehen. Jörg Roßkopf hätte es nicht mitreißend­er machen können. Das dachten sich Shan Xiaona und Petrissa Solja wohl auch, denn wieder kullerten die Tränen.

Das Finale habe ich mir nicht mehr live angesehen. Zu übermächti­g sind die noch für die Heimat spielenden Chinesinne­n. Ein glattes 3:0 kam dann auch heraus, und besonders gejubelt oder geweint hat keine mehr. Gold ist am Ende doch nicht immer das Wichtigste.

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