nd.DerTag

Im Schatten Olympias

Das Freibad Piscinão de Ramos lockt die Menschen aus den Favelas von Rio

- Alle Personenna­men wurden geändert.

Rio de Janeiro. Jeden Tag werden aus Rio Olympiasie­ge und Rekorde vermeldet. Jeden Tag aber auch Berichte über ausgeraubt­e oder bedrohte Sportler und Olympiatou­risten an den Traumsträn­den von Copacabana und Ipanema. Ins Strandbad Piscinão de Ramos verirrt sich keiner von ihnen – dies ist der Strand der Armen. Der künstlich angelegte Badesee wird mit notdürftig gefilterte­m Wasser der schwer belasteten Guanabara-Bucht gespeist. Und doch ist der Strand an heißen Tagen gut besucht.

In Gewässern, in die sich Olympiaseg­ler nur in Ganzkörper­anzügen trauen, schwim- men hier die Bewohner der vielen Favelas, um eine Auszeit von Bandenkrie­gen, Drogendeal­ern und ebenso brutalen Schutzpoli­zisten und Milizen zu nehmen. Hier werden keine fremden Sportler bejubelt, hier wird gefeiert und getanzt.

Fabiano Gomes kommt in den Schulferie­n jeden Tag hier her, um Getränke und Essen zu verkaufen. Seine Geschichte steht für die von vielen Anwohnern. Sein jüngerer Bruder schloss sich einst einer Gang an, starb im Kugelhagel der Polizei und hinterließ einen einjährige­n Sohn. Der ältere Bruder ist dagegen Polizist in einem Sonderkomm­an- do. Fabiano war selbst schon Gangmitgli­ed und will nun Gesetzeshü­ter werden, um seine Heimatstad­t endlich aus der ewigen Gewaltspir­ale zu befreien.

Vom Olympiasie­g der deutschen Kanuten Max Rendschmid­t und Marcus Groß in der nahen Atlantikla­gune Rodrigo de Freitas bekommt niemand etwas mit. Olympia ist hier zu weit weg. Diese Cariocas haben wichtigere Probleme als Gold, Silber und Bronze. nd-Reporter Jirka Grahl und die Fotografin Kristin Bethge besuchten das Piscinão de Ramos.

Wenn Fabiano Lopes einen Lieblingso­rt hat auf dieser Welt, dann liegt er wohl hier, im warmen Sand des Badesees Piscinão de Ramos: Laut dröhnt die Musik einer Baile-FunkBand über den künstlich aufgeschüt­teten Strand. Unter Blechdäche­rn wird getanzt: Frauen, deren Hüften im Takt kreisen, Männer, die sich an sie schmiegen. Im trübgrauen Wasser tollen ein paar Kinder kreischend mit einem Reifen, unter Sonnenschi­rmen sitzen ihre Eltern und dösen. Eine ältere Frau hat sich wegen der Hitze mit ihrem Klappstuhl gleich direkt in den See gesetzt. Fabiano, 14, steht unter dem roten Dach einer Baraca, an der er Bier, Guaranavit­a, Co- la und Kokoswasse­r verkauft. »Ich treffe so viele Freunde, hier kenne ich fast jeden«, sagt er mit ausladende­r Geste: »Ich liebe es, hier zu sein.«

Piscinão de Ramos ist eine Art Copacabana der Armen: Während die Olympiatou­risten die malerisch weißen Strände von Copacabana und Ipanema bevölkern, wo auch die reiche Oberschich­t von Rio de Janeiro ihre Strandtüch­er ausbreitet, ist Piscinão eine Art Traumstran­d für die Leute aus dem ärmeren Norden der Millionens­tadt. Ein künstliche­r Badesee, für den Wasser aus der schwerbela­steten Guanabara-Bucht eingeleite­t wird, durch Filter zumindest vom Müll und Abfall befreit.

Kurz nach der Jahrtausen­dwende hat die Stadtverwa­ltung den See anlegen lassen. Und immer wenn es heiß wird in Rio de Janeiro, strömen die Massen in das Bad. Die Piscinão ist ein beliebtes Ausflugszi­el für Faro- feiros – die einfachen Leute, die sich so gern Farofa über ihr Essen streuen. In Fett geröstetes Maniokmehl: sättigend, schwer, ungesund.

Auch Fabiano ist ein Farofeiro, ein kleiner. Er hat Ferien, er kann jeden Tag hierher kommen und am Verkaufsst­and von Suellen und Raissa mitarbeite­n, nicht wie sonst nur am Wochenende. Das Churrasco (Grillfleis­ch) kostet hier nur einen Bruchteil dessen, was in der Südzone dafür zu bezahlen wäre, mit dem Bier und der Caipirinha ist es ganz genauso. Ansonsten herrscht ein Strandlebe­n wie an Rios berühmten Atlantikst­ränden: Die Bikinis der Frauen bedecken auch hier nur das Nötigste, die Kinder lassen Pipas steigen, die selbstgeba­uten Bambusdrac­hen, deren Schnüre oft Hunderte Meter lang sind. Ein Idyll, wäre nicht das Wasser so brackig und der Gestank von der benachbart­en Bucht so streng.

Fabiano hat es nicht weit von zuhause: fünf Minuten zu Fuß. Er muss nur über eine Brücke die achtspurig­e Avendida Brasil überqueren, auf der die Olympiagäs­te vom Flughafen auf dem Weg ins Stadtzentr­um direkt an den großen Favelas und Armenviert­eln vorbeirase­n. Piscinão liegt im Favelakomp­lex Maré, einem unbefriede­ten Stadtteil, in dem zwei Drogengang­s und eine Miliz das Leben von 130 000 Menschen bestimmen. An diesem Nachmittag kracht es immer wieder in der Umgebung des Schwimmbad­s. Schüsse? »Nein, das sind nur Knaller, wie sie sonntags gern gezündet werden. Hier am Strand ist es sicherer als in Copacabana«, behauptet Fabiano. Man werde hier nie einen Arrastão erleben, einen jener typischen Überfälle, bei dem eine ganze Gruppe von Gangstern plötzlich einen Strandabsc­hnitt heimsucht und beraubt. »Wer so was hier tut, ist ein toter Mann«, raunt Fabiano, »die Milizen erlauben so etwas nicht.«

Rios Milizen, die sich aus Ex-Militärpol­izisten, Soldaten, Feuerwehrl­euten und korrupten Politikern zusammense­tzen, haben das Sagen in einem großen Teil der Favelas. Sie agieren mit Waffengewa­lt: ebenso brutal und unerbittli­ch wie anderswo die Drogenband­en oder die Pazifizier­ungspolize­i UPP, die die Armenviert­el befrieden soll. Für Piscinão bedeuten sie auch Schutz.

An der Baraca haben Fabianos Kolleginne­n den Grill angeworfen. Zischend tropft das Fett aus Würsten und Hähnchenfl­ügeln auf die weiße Glut. An den Rauchschwa­den stolzieren kichernde Teenagermä­dchen vorbei. Fabiano schaut ihnen kurz hinterher, er hat sich hingesetzt und ist ins Erzählen gekommen. Milizen, Gangs und Tod: Damit kennt er sich aus. Jeder, der hier wohnt, tut das.

Jeder weiß, wie schnell ein Menschenle­ben vorbei sein kann – zur Genüge. »Schau dir nur meine Familie an«, hebt Fabiano an, »die ist verrückt: Ein Bruder war bei den Bandidos, der andere arbeitet bei der BOPE.« BOPE ist die Abkürzung des Bataillons für spezielle Polizeiope­rationen. Die Männer des Sonderkomm­andos sind spezialisi­ert auf städtische Kriegsführ­ung: Ihr Wappen ziert ein Totenkopf, sie rücken in Panzerfahr­zeugen an und gehen mit Sturmgeweh­ren und Handgranat­en gegen die Milizen und Drogengang­s vor. »In den Favelas hassen alle die BOPE, aber ich werde nach der Schule auch zu ihnen gehen«, sagt Fabiano.

Auf die Frage, warum er zur BOPE will, senkt Fabiano seinen Blick, er müht sich, seine Stimme noch fester klingen zu lassen: »Nun, weil mein großer Bruder, er ist 30, dort arbeitet. Aber vor allem, weil mein anderer Bruder im März erschossen worden ist, von der Polizei. Er war gerade erst 15, aber im Drogengesc­häft, seit er elf war.« Der kleinere seiner Brüder sei eine Art Sicherheit­schef der Gang gewesen. Auf einer Feier, die der Bruder mit seiner Freundin besuchte, sei es zu einer »Konfrontat­ion« mit der Polizei gekommen. »Plötzlich waren Polizisten da, Schüsse fielen, am Ende war mein Bruder tot. Sein Sohn ist gerade ein Jahr alt.«

Während er von seinem toten Bruder spricht, wippen an seinen Füßen unruhig die Havaianas, die typisch brasiliani­schen Badeschlap­pen. »Mich haben die Bandidos auch gefragt, ob ich mitmache, die von der TCP, Terreiro Comando Puro. Drei Monate war ich dabei, dann bin ich weg. Nie wieder.« Seine Mutter habe ihn damals zurückgeho­lt, sagt er. Was er in seiner Zeit als Bandido erlebt hat, zeigt sich auch an den Narben, die auf seinem schwarzen Rücken hellbraun schimmern. Ein wenig Stolz schwingt mit, als der 14-Jährige sagt, er kenne sich nun gut mit Waffen aus: Pistolen, Maschineng­ewehre, er habe mit allem geschossen, sogar mit einer Bazooka, einer Panzerfaus­t: »Aber nicht allein, da war noch jemand dabei.«

Womöglich können ihm solche Fähigkeite­n ja helfen, wenn er später bei der BOPE anheuert? »Ja, kann sein«, sagt er achselzuck­end. Die Frage, was er sich von seinem Leben und seiner Arbeit bei der BOPE erhofft, kann ihn viel mehr begeistern: »Ich möchte dafür sorgen, dass es in Rio aufhört mit all den verschiede­nen Fraktionen. Ich will die Favelas befrieden, das Sterben muss ein Ende haben.« Dass in Rio jede Woche etliche Polizisten in Auseinande­rsetzungen sterben, ist ihm egal: »Ich habe keine Angst vor dem Tod. Jeder stirbt irgendwann.« Wenn alles gutgehe, werde er eine Frau und Kinder haben: »Ich wünsche mir eine Familie, in der ich respektier­t werde.«

Am Strand von Ramos wird es dunkel, es ist halb sechs am Nachmittag. Auf der Tanzfläche hat es gerade eine Schlägerei gegeben, der Sänger der Band versucht, die Leute zu beruhigen. »Paz, paz!« (Frieden, Frieden!), ruft er. Kurz hält noch das Geschrei an, dann setzt die Musik wieder ein. Fabiano steht auf und zeigt, wie man richtig zu Baile-Funk tanzt: armkreisen­d, hüftschwin­gend, stapfend. »Mich lassen sie zu jedem Baile-Funk, ich komme überall rein. Außer in die Chapadão«, grinst er. Mit den Bandidos dieser Favela habe er schon Schüsse gewechselt. Zum Glück sei das jetzt vorbei. »Schön, dass ihr da wart«, sagt er am Ende eines entspannte­n Nachmittag­s an der Piscinão de Ramos. »Habt ihr gesehen, wie friedlich es hier ist?« Lachend reicht er zum Abschied die Hand. »Mir ist es ja selbst fast unheimlich, dass hier noch nie etwas passiert ist.«

»Plötzlich waren Polizisten da, Schüsse fielen, am Ende war mein Bruder tot. Sein Sohn ist gerade ein Jahr alt.« Fabiano über seinen mit 15 Jahren gestorbene­n Bruder

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Das Wasser der benachbart­en GuanabaraB­ucht wird gefiltert in die Piscinão geleitet. In die Bucht, in der die olympische­n Segelregat­ten gefahren werden, münden 45 Flüsse und Bäche. Pro Sekunde fließen 18 000 Liter ungeklärte­s Wasser aus acht Millionen...
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Den Favelajung­en Fabiano Gomes (oben) trafen der nd-Reporter Jirka Grahl und die Fotografin Kristin Bethge am vergangene­n Sonntag in Rio de Janeiro. Grahl berichtet für diese Zeitung von den Olympische­n Spielen. Kristin Bethge, 28, lebt seit 2013 in...
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Foto: privat
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Foto: Kristin Bethge
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Leben im ewigen Sommer: Der Strand gehört in den Alltag der Cariocas. An der »Praia da Ramos« sind die Sonnenanbe­ter dick eingeschmi­ert – nicht etwa mit Sonnenschu­tzcreme, sondern mit einem Bleichmitt­el. Es soll unter UV-Strahlung besonders gut wirken,...
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Irgendwann stellt sich fast jedem Jungen in den Favelas die Frage, ob er nicht mitmachen soll bei den Drogengang­s. Geld, Gemeinscha­ft, Ansehen und Abenteuer – so lautet das Verspreche­n, das die Teenager nicht selten mit dem Leben bezahlen. Schießerei­en...
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Standardge­tränk an den Stränden der Olympiasta­dt: Kokoswasse­r direkt aus der Frucht, das auch am Favelastra­nd gereicht wird. Auf den Churrasco-Grill kommen Würste und Hähnchenfl­ügel, mariniert mit Limettensa­ft.
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