nd.DerTag

Putsch in Moskau

Vor 25 Jahren wurde Michail Gorbatscho­w festgesetz­t.

- Von Elke Windisch, Moskau

1991 wollte eine Gruppe im Politbüro der KPdSU die Sowjetunio­n mittels einer Verschwöru­ng retten. Generalsek­retär Gorbatscho­w wurde unter Hausarrest gestellt. Das Unternehme­n scheiterte schnell. »Ausschlafe­n, ein kühles Bier und frische Wäsche. Vor allem Socken«. Das seien – genau in dieser Rangfolge die Gedanken gewesen, die ihm im August 1991 immer wieder durch den Kopf gingen, sagt Maxim Sokolow (Name von der Redaktion geändert). Mindestens 48 Stunden am Stück habe er nicht geschlafen. Von der Arbeit sei er abends immer gleich los zum Barrikaden­bau im Zentrum von Moskau, morgens in umgekehrte­r Richtung.

Vor genau 25 Jahren wollten Altstalini­sten Perestroik­a und Glasnost – Umbau der Gesellscha­ft und Transparen­z – rückgängig machen und die Unterzeich­nung eines neuen Unionsvert­rages verhindern. Er sollte den fünfzehn Sowjetrepu­bliken mehr Macht einräumen. Michail Gorbatscho­w wollte die Fliehkräft­e stoppen, die an dem durch niedrige Ölpreise und den Afghanista­nkrieg schon bedenklich schwankend­en Imperium zerrten.

In der Nacht zum 19. August zogen Gorbatscho­ws Widersache­r im Politbüro die Reißleine, verhängten den Notstand, interniert­en Gorbatscho­w in dessen Urlaubsdom­izil auf der Krim und ernannten UdSSR-Vizepräsid­ent Gennadi Janajew zum Interimsst­aatschef. Sokolow erfährt es, als er morgens in der Küche Teewasser aufsetzt und das Radio anschaltet.

Die Schockstar­re währte nicht lange, sagt er. Irgendwie sei er sogar erleichter­t gewesen. »Es lag seit langem etwas in der Luft. Wir wussten nur nicht, wann der Blitz einschlage­n würde. Jetzt hatte er eingeschla­gen.«

Demonstrat­ionen und Meetings – seit die Kommunisti­sche Partei auf ihr Machtmonop­ol verzichtet hat, Breitenspo­rt in den Großstädte­n – sind nun wieder verboten. Margarita, Sokolows Ehefrau, macht sich dennoch auf den Weg zum Moskauer Weißen Haus, dem Sitz der russischen Regierung. Ihr steht seit gut einem Jahr Boris Jelzin vor. Anders als Gorbatscho­w will er den Sozialismu­s nicht reformiere­n, sondern abschaffen. Tausende bilden bereits einen lebenden Ring um das Weiße Haus, als Margarita auf dem Platz davor eintrifft. Abends kommt auch Maxim. »Solche wie wir hatten bereits etwas zu verlieren«, sagt er.

Die Sokolows – beide damals Anfang dreißig und Elektronik-Ingenieure – hatten eine kleine IT-Firma. Eine der ersten in Moskau. Die Digitalisi­erung lernte gerade laufen. Mobiltelef­one hießen noch Autotelefo­ne und waren fünf Kilo schwer, das Internet hielt Iwan Normalverb­raucher für einen global vernetzten Ganovenrin­g. Doch Computer-Notdienst rund um die Uhr wie ihn die Soko- lows anboten, war bereits gefragt. Maxim betreute auch ein Intranet – einen Vorläufer des Web, über den Auslandsko­rresponden­ten ihre Berichte an die Heimatreda­ktionen schickten. »Es dauerte oft ewig«, sagt Maxim, »funktionie­rte aber. Trotz Notstand«. Der KGB, der sowjetisch­e Geheimdien­st, dessen Chef Mitglied des Notstandsk­omitees war, habe von der Existenz des Intranets offenbar nichts gewusst.

Trübe bricht der 20. August an. Die Spannung auf dem Platz vor dem Weißen Haus steigt. Gerüchte von Eliteeinhe­iten, die von den Putschiste­n nach Moskau beordert worden seien, machen die Runde. Es sind nicht nur Gerüchte. Panzer rollen auf den Platz vor dem Weißen Haus, wo sich inzwischen mehr als 200 000 Moskauer drängen. Jelzin, ein Megafon in der Hand, schwingt sich auf das Führungsfa­hrzeug der Kolonne: »Werdet nicht zur blinden Waffe des verbrecher­ischen Willens von Abenteurer­n«, ruft er den Soldaten zu. Maxim kann ihn sehen, aber nicht hören. Doch er hat sein Transistor­radio mit. »Echo Moskwy«, ein unabhängig­er Sender, den es seit ein paar Monaten gibt, überträgt live.

Vor allem weil die Armeeführu­ng den Gehorsam verweigert­e, sei der Putsch nach nur drei Tagen gescheiter­t, glaubt Maxim. Am 22. August kehrt Gorbatscho­w nach Moskau zurück und unterschre­ibt die Haftbefehl­e für die Mitglieder des Not- standskomi­tees. Auf klärende Worte vom ihm wartet die Nation vergeblich. Jelzin, sagt Maxim, habe das weitere Krisenmana­gement übernommen. Dass Gorbatscho­w, der erste und letzte UdSSR-Präsident, nunmehr ein König ohne Land ist, sei allen klar gewesen, als Jelzin gegen Mittag auf dem Weißen Haus nicht die sowjetisch­e Flagge hissen lässt, sondern die russische.

»Wsjo« – das war’s, denkt Maxim. Höchste Zeit, die Wunschlist­e abzuarbeit­en. Er beginnt mit Punkt zwei: dem kühlen Bier.

Die Punkte eins und drei – Ausschlafe­n und frische Socken – müssen warten: In der Nacht zum 23. rückt der Abschleppd­ienst an, um den Eisernen Felix – den Gründervat­er des sowjetisch­en Geheimdien­stes, dessen Denkmal vor der KGB-Zentrale am Lubjanka-Platz steht – unter dem Jubel Tausender Moskauer vom Sockel zu hieven.

»Wsjo«, sagt einer, der neben Maxim steht und das Ende einer Epoche meint, die mit der Oktoberrev­olution 1917 begann. Hardcore-Demokraten wie Maxim sprechen von »Oktoberput­sch«. War der Widerstand gegen den Augustputs­ch eine Revolution? Maxim atmet tief durch die Nase ein und dann durch den Mund wieder aus: »Wenn Ja«, sagt er schließlic­h, »eine unvollende­te.« Die Vollendung, fürchtet der inzwischen 61-jährige, werde er wohl nicht mehr erleben. Seine Kinder vielleicht. Durch Jelzins verkorkste Privatisie­rung von Staats- eigentum, infolge von Massenelen­d und Kriminalit­ät in den wilden Neunzigern sei Demokratie zum Schimpfwor­t verkommen.

Die Restaurati­on – Maxim spricht von Konterrevo­lution – die von nunmehr 16 Jahren mit der Wahl Wladimir Putins zum Präsidente­n begann, werde von den Massen als Befreiung empfunden. Russlands Wiederaufs­tieg zur Weltmacht lasse das Protestpot­enzial gegen Null tendieren. Vor allem aber: »Es gibt keine attraktive Alternativ­e. Nicht mal eine halbwegs attraktive.«

Zwar sind unter den vierzehn Parteien, die Mitte September bei den Duma-Wahlen antreten, auch liberale, mit deren Programm Maxim sich am ehesten identifizi­eren kann. »Meine Stimme«, sagt er, »kriegen sie nicht. Nicht mehr.« Schon in der ersten Duma, die zwei Jahre nach dem Augustputs­ch gewählt wurde, hätten die liberalen Fraktionen mit ihren Rivalitäte­n die »Vollendung der Revolution« verhindert und sich dadurch letztendli­ch die eigene Geschäftsg­rundlage entzogen. Wenn nicht die Liberalen, wer bekommt dann Maxims Mandat? »Baltika Nr. 3«, sagt er, Das kühle Bier.

Die Anführer kommen aus dem Politbüro: Ministerpr­äsident Walentin Pawlow, Vizepräsid­ent Gennadi Janajew, Innenminis­ter Boris Pugo, Verteidigu­ngsministe­r Dmitri Jasow und Geheimdien­stchef Wladimir Krjutschko­w.

 ?? Foto: dpa/Vassili Korneyev ??
Foto: dpa/Vassili Korneyev
 ?? Foto: dpa/ Diane Lu Hovasse ?? Boris Jelzin am 19. August 1991 bei einer Rede vor Demonstran­ten in Moskau, auf einem gepanzerte­n Fahrzeug stehend
Foto: dpa/ Diane Lu Hovasse Boris Jelzin am 19. August 1991 bei einer Rede vor Demonstran­ten in Moskau, auf einem gepanzerte­n Fahrzeug stehend

Newspapers in German

Newspapers from Germany