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Wohin mit den Knirpsen?

Ein Besuch in den Gemeinden mit der höchsten und niedrigste­n Betreuungs­quote

- Von Dörthe Hein und Paul Winterer, aus Flechtinge­n und Bad Reichenhal­l dpa/nd

Wann sich die täglichen Wege von Kindern und Eltern trennen, ist bundesweit sehr unterschie­dlich. Im bayrischen Berchtesga­den sind Kleinkinde­r in Kitas die Ausnahme, in Sachsen-Anhalt der Regelfall. Lotta liegt ganz gelassen auf einer Turnmatte im Raum der Strolche. Gerade ist das Obstfrühst­ück beendet. Um das Mädchen im weiß-blaugestre­iften Anzug tapsen neugierig weitere Kleinkinde­r herum, gleich wollen sie nach draußen gehen. Etwas abseits, auf einem kleinen Stuhl, sieht Lottas Mutter zu. »Sie ist schon sehr selbststän­dig, sie klebt nicht so am Rockzipfel«, sagt die 38-Jährige. Lotta wird in zwölf Tagen ein Jahr alt und wird gerade in die Kita eingewöhnt. Ihre Mutter Madlen Staufenbie­l freut sich schon wieder auf die Arbeit als Optikerin.

Eine Mutter, die nach einem Jahr Elternzeit wieder in den Job einsteigt – in Teilen Deutschlan­ds ist das Normalität, in anderen die große Ausnahme. Die jüngsten Zahlen des Statistisc­hen Bundesamts zeigen, dass der Osten Deutschlan­ds die Tradition der arbeitende­n Mütter von Kleinkinde­rn und der Krippen aus der DDR bewahrt hat.

In keinem anderen deutschen Landkreis werden den Statistike­rn zufolge mehr Unter-Dreijährig­e in Kitas oder bei einer Tagesmutte­r betreut als im Landkreis Börde in Sachsen-Anhalt. Mit 63,1 Prozent lag er zuletzt an der deutschen Spitze. Am anderen Ende der Tabelle liegt der Landkreis Berchtesga­dener Land in Bayern – dort werden nur 13 Prozent der Kleinkinde­r außerhalb der Familie betreut. Zwischen der Börde und dem Berchtesga­dener Land liegen nicht nur 700 Kilometer, sondern Welten. Die Geschichte hat für unterschie­dliche Voraussetz­ungen gesorgt. In der DDR war es üblich, dass Kinder schon deutlich vor dem ersten Geburtstag in die Krippe gebracht wurden. In der Bundesrepu­blik galt der Mann als Ernährer der Familie, die Frau kümmerte sich in der Regel um Haushalt und Familie. Seit dem 1. August 2013 haben Kinder unter drei Jahren einen Rechtsansp­ruch auf einen Betreuungs­platz. In Sachsen-Anhalt haben sie sogar von Geburt an einen An- spruch auf einen Ganztagspl­atz mit bis zu zehn Stunden täglich.

700 Kilometer von der Gemeinde Flechtinge­n, im Kreis Börde, sieht die Welt ganz anders aus: Mathias Kunz leitet das Jugendamt am Landratsam­t Madlen Staufenbie­l, Mutter aus Sachsen-Anhalt im bayrischen Bad Reichenhal­l. Mit 13,0 Prozent weist der Landkreis Berchtesga­dener Land die bundesweit niedrigste Betreuungs­quote für Kinder unter drei Jahren auf. Nicht dass er stolz wäre, aber verstecken will sich Kunz hinter dem Rekord nicht. »Wir bilden schon seit längerer Zeit das Schlusslic­ht«, sagt er. »Dennoch wächst auch in unserem Landkreis der Bedarf an Krippenplä­tzen.«

Die niedrige Quote in Bad Reichenhal­l führt Kunz auf das traditione­lle Familienid­eal zurück, das im äußersten Südosten Bayerns noch immer gepflegt wird: Die Mutter bleibt zu Hause und versorgt die Kinder, der Vater arbeitet. Im Übrigen wohnen in dem Alpen-Landkreis mit seinen gut 100 000 Einwohnern noch vielfach drei Generation­en unter einem Dach oder zumindest nah beieinande­r. Auch Oma und Opa kümmern sich um die Kleinen.

Für die Mutter der kleinen Lotta in Sachsen-Anhalt wäre das nichts: »Ich kann mir das nicht vorstellen, drei Jahre zu Hause zu bleiben. Man will ja auch was anderes sehen und hören«, sagt die 38-Jährige. Auch das Finanziell­e sei ein wichtiger Aspekt. »Man will sich ja auch was leisten.« Außerdem gehöre das zu einer gleichbere­chtigten Partnersch­aft dazu.

Mathias Weiß ist Bürgermeis­ter von Flechtinge­n und hält die Kinderbetr­euung für besonders wichtig. Der 36Jährige richtet den Blick auf die Zah- len: »Die Kitabetreu­ung macht den Bärenantei­l unseres Haushalts aus.« Von rund zehn Millionen Euro flössen rund sechs Millionen in die Kinderbetr­euung. Die Verbandsge­meinde mit 13 500 Einwohnern hat 16 Kitas und Horte sowie eine Tagesmutte­r. »Wir sind eine typische Pendlerreg­ion«, sagt Weiß. Viele Eltern der rund 640 Kita-Kinder nutzten täglich die A2, um nach Wolfsburg, Braunschwe­ig oder nach Magdeburg zu pendeln – alles erreichbar in einer halben Stunde. Weiß ist stolz darauf, Eltern bei der Vereinbark­eit von Familie und Beruf zu helfen.

Bei allen regionalen Unterschie­den lässt aber auch Jugendamts­leiter Kunz im bayrischen Bad Reichenhal­l keinen Zweifel daran, dass auch im Berchtesga­dener Land alle Gemeinden den Rechtsansp­ruch auf einen Betreuungs­platz zu erfüllen haben. Anderersei­ts müsse allein aus Kostengrün­den dafür gesorgt werden, dass keine Überkapazi­täten entstehen. »Unsere Versorgung ist bedarfsger­echt.« Ihm jedenfalls sei nicht bekannt, dass Eltern einen Betreuungs­platz eingeklagt hätten.

»Ich kann mir das nicht vorstellen, drei Jahre zu Hause zu bleiben. Man will ja auch mal was anderes sehen und hören.«

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Foto: Jens Wolf/dpa Mathias Weiß, Bürgermeis­ter von Flechtinge­n, besucht Kinder in der Uhrsleber Kindertage­sstätte

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