»Es ist ein Irrtum, ich komme wieder«
»Wir waren so arglos.«
Eine Arbeiterfamilie aus Berlin-Baumschulenweg packt im Oktober 1931, zur Zeit der Weltwirtschaftskrise, ihre sieben Sachen und macht sich auf den Weg in die Sowjetunion. Die Tiekes – Vater Rudolf, Mutter Anna und die Kinder Rudolf, Günter und Ursula – haben Freunde, die im Kaukasus eine landwirtschaftliche Kommune aufbauen. Ihr Reiseziel. Der wirkliche Grund muss geheim bleiben – ein Parteiauftrag ...
Für den Familienumzug wird eine Holzkiste gezimmert, deren Inhalt für Großstädter ungewöhnlich ist: Hacken, Spaten, Mistgabeln, Sägen, Baumscheren ... Mutter Anna besteht darauf, dass eine Nähmaschine in die Kiste kommt. Die zehnjährige Ulla darf ihren neuen Puppenwagen mitnehmen. In der kaukasischen Gemeinde Chosta unweit vom Erholungsort Sotschi angekommen, beginnen sie mit den anderen Deutschen, aus verwahrlosten Datschen der Zarenzeit Schutt und Geröll zu schaufeln, für die Familien hölzerne Behausungen zu zimmern und Sanitäranlagen zu improvisieren. Für die Großstadtfrauen gibt es »kein Karstadt, keine gepflasterten Straßen«, dafür eine exotische Pflanzenwelt mit Palmen, Zypressen, Feigenbäumen.
Anja Schindler beschreibt das Leben ihrer Großeltern. Der Alltag einer Familie in einer sowjetischen Kommune wird gleichsam per Großaufnahme in unsere Zeit gezoomt. Es sind Briefe erhalten geblieben, die ihre Großmutter Anna Tieke an die Verwandten in Berlin schrieb, der letzte Brief trägt das Datum vom 2. Juli 1937. Eine zweite Quelle der Familienerzählung sind die Erinnerungen von Ursula Schwartz, 1921 als jüngstes Kind der Tiekes geboren, die Mutter der Autorin Anja Schindler.
Der Titel »Verhaftet und erschossen« ist ein Zitat aus der Rehabilitierungsurkunde des Leningrader Militärtribunals von 1958. Er könnte, zusammen mit dem Untertitel den Eindruck erwecken, Terror und Krieg seien die Dominanten dieser Familienbiografie und die Tiekes hauptsächlich Opfer gewesen. Die Lektüre des Buches vermittelt eine andere Botschaft. Geschichte wird hier »von unten« geschildert, aus dem Blickwinkel einfacher Leute. Deren Enthusiasmus äußert sich nicht in Parolen, sondern im Zupacken. Die Kommunarden in Chosta, Russen und Deutsche, zeichnen Selbstbewusstsein, Aktivität und Schöpfergeist aus. Sie waren keine Befehlsempfänger oder bloße Objekte der Politik. Anders als die hierarchisch organisierten Kollektiv- und Staatsgüter waren die ersten Kommunen dezentrale, selbstbestimmte Arbeits- und Le- bensgemeinschaften, in denen Verteilungsgerechtigkeit praktiziert wurde und keiner Kommandogewalt über andere hatte.
Anja Schindler beschreibt revolutionäre Feiertage, an denen gemeinsam gesungen wurde: »Bjelaja armija, tschernyj baron« und »Ännchen von Tharau«. Unreglementierter proletarischer Internationalismus. Nie wieder sei die Mutter so ausgelassen gewesen wie in Chosta, wird sich später Tochter Ursula erinnern. Im Buch nehmen die vergleichsweise friedlichen Jahre bis 1937 den größten Raum ein. Weggelassen wurden auf Wunsch von Ursula Schwartz ihre autobiografischen Aufzeichnungen über Haft, Lager und Verbannung.
Anja Schindler hat in den 1990er Jahren begonnen, das Leben ihrer Familie in der Sowjetunion zu erforschen und niederzuschreiben. Geboren 1949, ist ihre Perspektive eine durchweg gegenwärtige: Sie schließt ein, was an Daten und Fakten bis 1991 in den Archiven der Sowjetunion und der DDR weggesperrt war, und sie leuchtet weiße Flecken in der damaligen Geschichtsvermittlung aus. Die Kommunen werden 1933 im Zuge der von Stalin angeordneten »Entkulakisierung« und Zwangskollektivierung aufgelöst. Anna Tieke schreibt: »Die Behörden haben uns ein Grundstück in der Nähe der Stadt Armawir zugewiesen, es gehört zu einem großen Kolchos.«
Die Tiekes müssen sich wieder auf den Weg machen. Jetzt geht es in den ke. Die Eltern plagen Schuldgefühle gegenüber ihren Kindern. Zum ersten Mal wendet sich der Vater an seine Partei, bittet, mit seiner Familie nach Moskau kommen zu dürfen. Über seine vom Hungertod bedrohte Familie schreibt er nichts. Als er tatsächlich die Reiseerlaubnis erhält, müssen die Tiekes ihre letzte Habe verkaufen, um das Geld für die Bahnfahrt zusammenzubekommen, ganz zum Schluss auch den geliebten Puppenwagen der Jüngsten.
In Moskau bleiben die Tiekes nicht lange. Wer keine Arbeit hat, erhält kein Wohnberechtigung. Vater Tieke zieht es nach Leningrad. Sein bester Freund aus Berliner und Chostaer Zeiten hat dort Arbeit gefunden. Nach Monaten zermürbender Kämpfe mit der Bürokratie kann die Familie in die Stadt an der Newa umsiedeln. Über das Emigrantenhaus in der Detskaja uliza 3 schreibt die Autorin: »Bis zum Jahre 1937 war dieses Haus ein Ort voller Leben mit allem, was dazu gehörte: Freundschaften und Zwistigkeiten, Streit und Versöhnung, Tratsch und Klatsch, aber auch Kameradschaft, Solidarität und gegenseitigen Beistand.« Die Tiekes können endlich in ihren Berufen arbeiten, die Kinder gehen in russische Schulen, erlernen Berufe in Leningrader Großbetrieben, wollen studieren, besuchen oft Konzerte und Theater. Die Versorgung der Bevölkerung verbessert sich. Die deutschsprachige »Rote Zeitung« würdigt das Organisationstalent, die Disziplin und den Initiativreichtum der deutschen Arbeiter. Wieder sind sie aktive Gestalter nicht nur des eigenen Lebens.
Dann kommt der Herbst 1937. Als erster wird am 3. September Rudolf Tieke verhaftet. Lautes Klopfen nachts an der Wohnungstür, Männer in Zivil durchsuchen die Räume, beschlagnahmen, was ihnen verdächtig erscheint. Zum Abschied sagt der Vater: »Es ist ein Irrtum ... ich komme bald wieder«. Zwei Monate später, wieder nachts, wird die Mutter abgeholt, ein paar Tage später der ältere Sohn Rudi. In den Erinnerungen der Tochter Ulla heißt es: »Wir waren so arglos. Wir glaubten an die Integrität der Sicherheitsorgane, so wie wir auch von der absoluten Treue der Eltern gegenüber der Partei überzeugt waren.«
In der Sitzung der Kleinen Kaderkommission der deutschen Sektion der Komintern am 1. Dezember 1937 werden Rudolf und Anna Tieke aus der KPD ausgeschlossen. Die sechzehnjährige Ulla muss die Schule abbrechen; als Kind von »Volksfeinden« ist es schwer, eine Beschäftigung zu finden, von der man leben kann. Zum Alltag in Leningrad gehört nun auch endlos langes Anstehen vor dem NKWD-Gebäude, um Auskunft über Angehörige zu erhalten. Erst im Alter von 71 Jahren, 1992, erfährt Ursula Schwartz aus einer Akte im Archiv der NKWD-Nachfolgebehörde, dass die Mutter und ihr Bruder am 15. Januar 1938 erschossen worden sind.
Rudolf Tieke weiß bis 1955 nicht, ob seine Frau und seine Kinder noch am Leben sind. Als er mit Hilfe des Roten Kreuzes seine Tochter Ulla ausfindig macht, kämpft er aus seinem Verbannungsort im Gebiet Wladimir um die Erlaubnis, zu ihr nach Kasachstan reisen zu dürfen. Sie teilt ihm mit, dass Mutter und Bruder nach ihm verhaftet wurden. »Mein Großvater starb im März 1989. Das Ende der DDR, den Zusammenbruch des Systems, erlebte er nicht mehr. Die Wahrheit über das Schicksal seiner Frau und seines ältesten Sohnes erfuhr er nie.«
1956 dürfen Vater Rudolf Tieke und Tochter Ursula mit Ehemann Meir Schwartz sowie den gemeinsamen Kindern Anja und Benno in die DDR ausreisen, die jene wie ein Paradies erscheint. Auf die Erwachsenen wartet ein kühler Empfang durch die Partei. Ein einziges Mal können Rudolf Tieke und seine Tochter einem verantwortlichen Funktionär vom ZK der SED ihr Schicksal schildern. Der Bericht verschwindet in einem Panzerschrank und bleibt bis 1989 weggesperrt.
Ursula Schwartz gehörte zu den Initiatoren der Gedenktafel am Berliner Karl-Liebknecht-Haus für die deutschen Kommunisten, die Stalins Opfer wurden. Zur Enthüllung der Tafel 2013 sagte sie: »Ich wünschte, mein Vater wäre heute hier. Er, der schreckliche Jahre im Lager und in der Verbannung für immer in seinem Innern begrub und der seiner Trauer um Frau und Sohn niemals öffentlich Ausdruck verleihen durfte.«
Anja Schindler: »... verhaftet und erschossen«. Eine Familie zwischen Stalins Terror und Hitlers Krieg. Karl Dietz Verlag, Berlin 2016. 256 S., geb., 24,90 €.
Eine von der Buchautorin und unserer Rezensentin gestaltete Wanderausstellung »›Ich kam als Gast in euer Land gereist ...‹. Deutsche Hitlergegner als Opfer des Stalinterrors. Familienschicksale 1933 - 1956« kann gegen Porto bei der Gedenkstätte Deutscher Widerstand, Stauffenbergstr. 13-14, 10785 Berlin, Tel.: 030/26 99 50 00, bestellt werden; der gleichnamige Katalog erschien im Lukas-Verlag Berlin (20 €).