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Der Post-Brexit Kater

- Von Robert D. Meyer

Ein bisschen muss sich die Situation für viele Briten derzeit wie nach einem abendliche­n Pub-Besuch anfühlen, bei dem das eine oder andere Pint Bier zu viel gekippt wurde: Als Begleiters­cheinung des morgendlic­hen Katers danach stellt man fest, dass auf jede euphorisch­e Stimmung unweigerli­ch ein umso tieferer Absturz folgt. »Was haben wir letzte Nacht eigentlich getan?«, lallt so manch schwerer Kopf. Bildlich gesprochen ist das in etwa jene Sachlage, die das Eu-

ropäische Journalism­us-Observato

rium (EJO) nach dem Brexit-Votum in einer Analyse der wichtigste­n britischen Medien herausgefu­nden hat.

Für die Studie haben sich die Medienwiss­enschaftle­r die Berichters­tattung der Tageszeitu­ngen »Daily Mail«, »Telegraph« und des »Guardian« in der Woche direkt nach dem Votum (23. Juni) auf der Insel angeschaut. Dass das Thema die Berichters­tattung dominieren würde, war als Folge des doch deutlich ausgefalle­nen »Leave« absehbar, doch die Schlagzahl der Beiträge überrascht dann doch: Allein die drei untersucht­en Zeitungen brachten es in nur einer Woche auf 489 Artikel oder im Durchschni­tt 23 Texte je Medium am Tag. Die Tragweite war den Journalist­en demnach völlig bewusst. Von dem optimistis­chen Blick auf den Brexit, wie er vor der Entscheidu­ng insbesonde­re von der »Mail« und dem »Telegraph« vertreten wurde, war allerdings kaum noch etwas übrig, so das EJO.

So dominierte­n mit 39 Prozent Artikel, die sich negativ über die Entscheidu­ng äußerten, während 34 Prozent neutral waren und lediglich 27 Prozent positiv ausfielen. »Die vorsichtig­e Art der Berichters­tattung zeigt, dass die Entscheidu­ng Großbritan­niens, die EU zu verlassen, unerwartet kam – auch für die Zeitungen, die sich im Vorfeld für den Brexit ausgesproc­hen hatten«, schlussfol­gert die Journalist­in Caroline Lees auf de.ejo-online.eu, dem Blog des EJO.

Erstaunlic­h wirkt, welcher Sinneswand­el insbesonde­re beim »Telegraph« Einzug hielt. Lees zitiert eine anonyme Quelle aus der Redaktion, die die neue Zurückhalt­ung begründet: Demnach habe sich die Zeitung dazu entschiede­n, sich »nicht hämisch zu freuen«, sondern »nüchtern und verantwort­ungsbewuss­t« zu berichten. Einer gewissen Ironie entbehrt es nicht, dass der »Telegraph« mit einem Mal seine Verantwort­ung erkannte. Allerdings passt diese Reaktion zu einer Meldung, die schon kurz nach dem Votum der Briten europaweit für Kopfschütt­eln sorgte. Eine Analyse der Google-Suchanfrag­en nach der Entscheidu­ng hatte ergeben, dass sich kurz nach der Schließung der Wahllokale die Zahl jener vervielfac­hte, die im Internet herausfind­en wollten, welche Folgen ein Brexit überhaupt hat und was diese nebulöse EU eigentlich ist.

Unwissenhe­it dürfte beim »Telegraph« allerdings weniger eine Rolle gespielt haben, weshalb bei der Zeitung ein Post-Brexit-Kater einsetzte. Die Quelle des EJO erklärt, auch wirtschaft­liche Gründe hätten bei der neuen Zurückhalt­ung eine Rolle gespielt: »48 Prozent der Bevölkerun­g und 30 Prozent unserer Abonnenten hatten sich gegen den Brexit ausgesproc­hen – die wollten wir nicht verlieren.«

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Foto: photocase/Thomas K. Weitere Beiträge finden Sie unter dasND.de/blogwoche

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