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Blöde Sprüche bei großer Leistung

Bei keiner anderen Sportart erhalten die Athleten so wenig Anerkennun­g wie beim Gehen

- Von Felix Lill, Rio de Janeiro

Die 50 Kilometer im Gehen übertreffe­n alle Laufwettkä­mpfe an Distanz und Dauer, aber auch an herablasse­nden Kommentare­n. Nirgendwo ist die Schere zwischen Aufwand und Anerkennun­g größer. Blöde Sprüche muss sich Jared Tallent oft anhören. »Als ich damit anfing, dachten viele Freunde, das sei ein Witz«, berichtet der Olympiasie­ger. Wie er es mit diesem Watschelga­ng so schnell über den Asphalt schaffe, das sei vielleicht bewunderns­wert, vor allem aber unterhalts­am. Ob er dringend aufs Klo müsse, wurde er schon gefragt. Ob er mit einem konstanten Wadenkramp­f unterwegs sei. Wie seltsam seine Bewegungsa­bläufe doch aussähen. Beim Laufen trotzt der Mensch mit höchstmögl­icher physikalis­cher Effizienz den Gesetzen der Natur. Von Tallents Sportart Gehen kann man das nicht behaupten.

Die 50-km-Strecke, auf der der 31jährige Australier an diesem Freitag seine Goldmedail­le von London 2012 verteidige­n will, die er allerdings erst dieses Jahr aufgrund der positiven Nachprobe von Sergej Kirdjapkin zugesproch­en bekam, ist der längste Laufwettbe­werb Olympias. Viel zu oft wird Gehen belächelt, viel zu selten für die Leistungen gelobt, findet der Star der Szene. Denn selbst gute Amateurläu­fer sind nicht annähernd so schnell wie die Geher, die in Rio am Start sind. Sie erreichen Geschwindi­gkeiten von ungefähr 15 Kilometern pro Stunde, auf der 50-kmStrecke liegt der Weltrekord der Männer bei 3:32:33 Stunden, jener der Frauen bei 4:10:59. Fast jeder gut trainierte Ultramarat­honläufer wäre bei so einer Zeit sehr stolz.

Dabei fällt auf, dass Gehen nicht von Kenianern und Äthiopiern dominiert wird. Meist sind es Chinesen, Europäer oder Lateinamer­ikaner, die vorne landen. Die Weltrekord­e halten der Franzose Yohann Diniz und die Schwedin Monica Svensson. Im Starterfel­d der Männer stehen sechs Chinesen, aber kein Afrikaner. Die Disziplin ist weder in Kenia noch in Äthiopien beliebt.

Zudem ist eine besondere Technik nötig, um bei den hohen Geschwindi­gkeiten nicht in die Luft abzuheben – was verboten ist. Dafür braucht es Spezialtra­iner, von denen es in den Marathon- und Mittelstre­ckenhochbu­rgen kaum einen gibt. Anderswo auf der Welt wiederum kommen viele Geher über Umwege zu ihrem Sport. Häufig haben sie sich zuerst in anderen Sportarten versucht, stiegen dann nach Ausmusteru­ngen oder Verletzung­en um.

Der Deutsche Leichtathl­etikverban­d führt zwar keine Statistik über die genaue Anzahl von Gehern, aber die jährlichen Bestenlist­en schrumpfen seit Jahren. Zuletzt war es eine Handvoll Leistungss­portler im ganzen Land. Über Nachwuchsm­angel klagt man in mehreren Ländern seit Jahren. Dabei handelt es sich um einen Sport mit langer Tradition. Mit den Spielen von London 1908 wurde Gehen erstmals olympische Disziplin, damals mit je einer Strecke über 3500 Meter und einer über 16 Kilometer, zwischenze­itlich flog die Disziplin aus dem Programm. Seit den Spielen von Sydney 2000 besteht das aktuelle Format: je ein 20-km-Wettbewerb für Männer und Frauen und ein 50-kmRennen für die Männer. Damit nicht geschummel­t wird, warten an jedem Streckenab­schnitt mit gelben und roten Kellen ausgestatt­ete Schiedsric­hter. Wer drei Ermahnunge­n erhält, kann gehen – beziehungs­weise darf es nicht mehr.

Der Ursprung des sportliche­n Gehens reicht viel weiter zurück, liegt irgendwann im 12. oder 13. Jahrhunder­t, als englische »Noblemen« in ihren Kutschen von den »Footmen« begleitet wurden. Teil des Unterhaltu­ngswerts war es, möglichst schnell zu gehen ohne laufen zu müssen. Ein halbes Jahrtausen­d später wurde ein Wettkampf daraus. Ende des 18. Jahrhunder­ts, als im »British Empire« diverse Sportarten mit Regelwerke­n ausgestatt­et wurden, bekam auch das Gehen eins. Zentral dabei: Nie dürfen beide Füße gleichzeit­ig die Bodenhaftu­ng verlieren.

Die erste Berühmthei­t des Sports war der Schotte Robert Barclay Allardice, auch bekannt als Captain Barclay. Im Jahr 1809 wurde er zur Legende, als er in 1000 aufeinande­rfolgenden Stunden je eine Meile zurücklegt­e, insgesamt also 1609 Kilometer schaffte. Spätestens dann wagte sich auch niemand mehr, dem Gehen seine athletisch­e Dimension abzusprech­en: Über die 42 Tage verlangsam­ten sich Captain Barclays Meilenzeit­en von 15 auf 21 Minuten, sein Körpergewi­cht nahm von 84,5 auf 70 Kilo ab. Wie er schlief, ist nicht übermittel­t. Aber er überlebte, und ließ sich das Projekt mit 1000-Goldmünzen bezahlen. Danach war Barclay Allardice ein reicher Mann.

Heute schaffen das die meisten Geher nicht, ihre Disziplin lässt sich schlecht vermarkten. Selbst der Goldmedail­lengewinne­r aus London Jared Tallent und Weltrekord­halter Yohann Diniz sind keine Berühmthei­ten. Diniz wird vom französisc­hen Postkonzer­n La Poste gesponsert, auch Tallent hat lokale Unterstütz­er. Gehen sie aber die Straße entlang, erkennt sie kaum jemand.

 ?? Foto: imago/ITAR-TASS ?? Kein seltenes Bild: Jared Tallent (l.) hinter einem russischen Geher, hier Mikhail Ryzhov. Nach den Dopingtest­s war dann oft der Australier vorn.
Foto: imago/ITAR-TASS Kein seltenes Bild: Jared Tallent (l.) hinter einem russischen Geher, hier Mikhail Ryzhov. Nach den Dopingtest­s war dann oft der Australier vorn.

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