Die Frau mit dem Schlangentattoo
Petra Ivanov: Ihr Krimi »Täuschung« führt nach Thailand – und kritisiert Verhältnisse in der Schweiz
Die Ex-Polizistin Jasmin Meyer und ihren Freund, den Anwalt Pal Palushi, hätte man bereits aus früheren Krimis von Petra Ivanov kennen können, ebenso wie die Staatsanwältin Regina Flint und den Kriminalpolizisten Bruno Cavalli. Den beiden Letztgenannten hat die Schweizer Autorin bereits acht Romane gewidmet, wobei sie das Kunststück fertigbrachte, beide Serien – für »Meyer-Palushi« ist dies erst der dritte Roman – an winzigen Punkten miteinander zu verzahnen.
Der jeweilige Kriminalfall steht für den Leser natürlich im Mittelpunkt, aber die Autorin lässt uns spüren, dass er für die Ermittler nur eine Episode ihres Lebens ist. Jasmin, wie wir sie hier kennenlernen, ist eine tatkräftige junge Frau, die mitunter ein Messer mit sich führt, das sie auch einsetzen kann. Aber Pal hat sie jahrelang als verletzt und verletzlich, als schutzbedürftig erlebt. Als dieses Buch beginnt, nimmt er einen Brief aus dem Postkasten, den er ihr keinesfalls zeigen wird. Er stammt von dem »Metzger«, einem Gewaltverbrecher, der sie drei Monate lang an ein Bett gefesselt hat und nun im Gefängnis sitzt. In ihrem Eifer, einen Serienmörder aufzuspüren, war Jasmin nach über zehn Jahren bei der Polizei damals im Alleingang einer Spur gefolgt – und in eine Falle getappt.
Alleingänge – was nicht nur bei der Polizei verpönt ist, Krimis leben da- von. Ein großes Polizeiaufgebot ist bestenfalls im Fernsehen spektakulär, in einem Roman muss es sich auf wenige Szenen beschränken. So viel sei verraten, dass auch hier auf diese Weise ein einflussreicher Verbrecher verhaftet wird – aber erst, nachdem Jasmin ihn ganz allein überwältigt hat.
Das war in einer Markthalle in Pattaya, einem Badeort in Thailand. »Was bezahlt man eigentlich für einen Fick?«, erkundigt sich Pal in einem dortigen Lokal. »Hat sie dir einen Freipass erteilt?«, fragt der Mann, der eigentlich für das BKA arbeitet. Das könnte auch privat Ärger geben, zumal Jasmin ihrem Pal kurz vorher etwas bislang Verschwiegenes offenbarte mit der Bemerkung, ein »OneNight-Stand« habe doch nichts zu bedeuten. Aber nein, wir glauben nicht, dass Pal in diesem Moment krumme Touren macht, sorgen uns nur um Jasmin, die allein in einem leeren Haus sonst was für Gefahren ausgesetzt sein könnte.
Dabei hatte es anfangs beinahe nach einer Urlaubsreise ausgesehen. Lediglich mit etwas Erkundigungsarbeit: Von Jasmin erwartete die Familie eine Bestätigung, dass der Vater wirklich tot ist. Die Mutter Edith hatte ihn als verschollen erklärt, aber das reicht nicht, wenn es um Erbschaftsangelegenheiten geht. Erwin Meyers Vater Heiri war verstorben und hatte in Zürich ein Haus hinterlassen. 750 000 Franken ist es wert. Abgesehen davon, wie hätte sich Jasmin gefreut, einen Großvater zu ha- ben, aber Edith hatte es verheimlicht, wohl weil sie ihm eine Mitschuld an der Flucht ihres Mannes gab. Und nicht nur das: Sie hatte das Haus schon völlig leergeräumt, bevor Jasmin und ihre beiden Brüder es zu Gesicht bekamen. Über Erwin, den Ehemann, ist ihr kaum ein Wort zu entlocken. Er hatte sie mit drei Kindern sitzenlassen, deshalb presst sie die Lippen zusammen, wenn jemand nach ihm fragt. Klar, die Vorstellung, dass er sich in Thailand mit irgendwelchen Prostituierten amüsiert …
Wir werden Prostituierte kennenlernen im Roman, darunter eine schöne Frau, die laut Ausweis ein Mann ist und eine andere Frau geheiratet hat, die … Es wird Verfolgungsjagden geben, Schüsse werden fallen. Wir werden von der chinesischen Mafia erfahren und von der deutschen. Letztere ist gefährlicher. Wir werden in eine Höhle hinabsteigen und in der Tiefe Buddha-Figuren entdecken, aber dann ist der Ausgang verschlossen, und wir erleben, wie man sich die Gier von Makaken zunutze machen kann. Wir werden mit Jasmin auf einer Ducati durch enge Gassen preschen und in irgendwelchen Gästehäusern schlafen. Einmal hatte vor ihrem Zimmer eine tote Eule gelegen. Das ängstigte den Hausbesitzer so sehr, dass er das Paar praktisch rauswarf. Aberglaube, korrupte Polizei, viel Undurchschaubares, Täuschung noch und noch. In Wirklichkeit würde man ja nicht mit Jasmin tauschen wollen, aber lesend ist es wunderbar, an ihrer Seite zu sein. So interessant, so spannend. Petra Ivanov weiß eine Handlung geschickt, in Vor- und Rückblenden zu komponieren. Vor allem aber hat sie das Talent, selbst Nebenfiguren wie lebendige Menschen erscheinen zu lassen. Man kann jede, jeden Einzelnen vor sich sehen wie in einem Film.
Verschiedene Mutmaßungen tauchen auf. Die thailändische Polizei nahm an, dass Erwin ermordet worden war. Es hatte sogar eine Verhaftung gegeben, aber der Mörder (es war wirklich einer) war im Gefängnis verstorben. Erwin musste für irgendwen gefährlich geworden sein. Hatte er sich schuldhaft in Immobilienspekulationen verstrickt? Hatte er sexuelle Vorlieben, die selbst im freizügigen Thailand strafbar sind? Dass sie beide offenbar verfolgt werden, bestärkt Jasmins und Pals Vermutung, dass Erwin doch noch leben könnte. Versteckt in einem Kloster? Dement in einem Altenheim?
Zwei solche Heime werden wir von innen sehen. Wer noch nichts von Alten- bzw. Demenzpflege in Thailand gehört hat, findet auch im Internet eine Menge Informationen. Auf der Webseite der Deutschen Alzheimer Gesellschaft ist sogar von einer solchen Einrichtung unter Schweizer Leitung die Rede. 1:1 Bezugspersonen-Pflegemodell, großer Garten, alternative Behandlungsmethoden statt medikamentöser Ruhigstellung, Aktivierung, Spazieren gehen, Massage mit Ölen – der anonyme Autor des Beitrags und seine Familie wüssten die Oma gern in guten Händen. Man hüte sich vor schnellem Urteil. Es ist ein schlimmes Problem, dass Angehörige die Pflege – und vor allem das langsame Dahinsiechen – nicht verkraften. Pflegedienste und Heime können es mildern, aber nicht so sehr, dass man kein schlechtes Gewissen hätte. Eigentlich braucht der alte Mensch dauernde Präsenz und Zuwendung wie ein kleines Kind.
Doch das ist nicht die einzige tiefe, ernste Ebene im Roman. Als die Familie erfährt, was Jasmin in Thailand herausgefunden hat, kommt es zu bösen Szenen. Und auch da begreifen wir, dass es nicht nur an den einzelnen Menschen liegt, sondern an einem gesellschaftlichen Klima der Ignoranz und Ausgrenzung. Kritik an Schweizer Verhältnissen, die durchaus auf andere Länder übertragbar ist.
Krimirezensionen müssen vage bleiben, um Lesern die Spannung nicht zu nehmen. Man merkt ja aus meinem Text, dass ich das Buch von ganzem Herzen empfehle. Aber erklären kann ich immerhin die Sache mit dem Schlangentattoo. Das hat sich Jasmin stechen lassen, um die Narben von den Fesseln an ihren Gelenken zu überdecken. Diese Narben reichen indes viel tiefer. Erst das thailändische Abenteuer scheint da etwas in Bewegung gebracht zu haben. Und plötzlich begannen die Schlangen zu zischen. Sie würde nicht länger Opfer sein.