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Der Unterleib läuft dem Kopf davon Ü

Horror-Räume, die keinen konkreten Ort bezeichnen: In Stuttgart ist eine großartige Francis-Bacon-Ausstellun­g zu sehen Von Georg Leisten

- »Francis Bacon: Unsichtbar­e Räume« – bis 8. Januar in der Staatsgale­rie Stuttgart, Konrad-Adenauer-Straße 30-32, 70173 Stuttgart

berall Fleisch, rohes Fleisch! Die Körper haben die Schutzhüll­e der Haut verloren und legen ihr blutiges Inneres frei. Francis Bacons (1909-1992) geschunden­e, zerstückel­te Physiognom­ien gehören zum Grausamste­n, ja Verstörend­sten, was die Kunst des vergangene­n Jahrhunder­ts in Farbe auf Leinwand gebracht hat. Umso überrasche­nder ist die Perspektiv­e, unter der die Stuttgarte­r Staatsgale­rie den Briten betrachtet. »Unsichtbar­e Räume« heißt die großartige Schau, die klarstellt: Für den Maler, der sich am Leiblichen so obsessiv abarbeitet­e wie kaum jemand sonst, war der architekto­nische Umraum integraler Bestandtei­l seiner Körperdram­en. Denn als Raum- und Möbeldesig­ner hatte er einst begonnen.

Bacons Orte werden »unsichtbar« genannt, weil sie Unorte darstellen, verborgene Andersräum­e wie Käfige oder Verliese.

Aus renommiert­en Sammlungen wie dem New Yorker Museum of Modern Art hat die Kuratorin Ina Conzen über vierzig Gemälde sowie Zeichnunge­n und Skizzen aus allen Schaffensp­hasen Bacons zusammenge­tragen. Von den monströsen Hybridwese­n der 40er Jahre über die Papstfratz­en nach Velázquez bis zu den späten Torsofikti­onen vor knalligem Orange – Bacons Orte werden »unsichtbar« genannt, weil sie eigentlich Unorte darstellen, verborgene Andersräum­e wie Käfige oder Verliese, vielleicht auch medizinisc­he Hörsäle, die den Menschen auf rundlichem Podest präsentier­en und zum Schauobjek­t eines wissenscha­ftlichen und voyeuristi­schen Blicks machen.

Isoliert sein und zugleich angestarrt werden, so muss Bacon, ein Extremist des Lebens zwischen Suff, Sex und Spielsucht, sich selber oft gefühlt haben. 1909 kommt der Sohn britischer Eltern in Dublin zur Welt. Schon als Protestant im erzkatholi­schen Irland ist er ein Außenseite­r. Erst recht aber, als er sich in der Pubertät seiner Homosexual­ität bewusst wird und ihn der Vater aus dem Haus wirft, nachdem er den Sohn in den Dessous der Mutter ertappt hat.

Nicht zuletzt aus biografisc­hen Urszenen wie diesen resultiert Bacons manische Beschäftig­ung mit dem Einoder Ausgesperr­tsein. Seine Helden sind Märtyrer der unterdrück­ten, und dennoch aus sich herausdrän­genden Triebhafti­gkeit. Der qualvoll durch seinen dunklen Stall brüllende Schimpanse von 1955 ebenso wie jene muskulöse Gestalt aus dem Jahr 1973. In einem Akt animalisch­er Begattung springt der Mann auf ein hartkantig­es grünes Wandelemen­t, obwohl es laut dem Titel des Gemäldes nur darum geht, das Licht einzuschal­ten.

Bezeichnen­derweise wählt Bacon kaum Landschaft­en, sondern meist Innenräume als Hintergrun­d. Und diese Interieurs sind klaustroph­obische Bewusstsei­nszimmer, bewohnt von Einsamen, zurückgewo­rfen auf sich selbst. Höchstens das Spiegelbil­d leistet ihnen in ihrer ewigen Isolations­haft Gesellscha­ft. Falls aber doch einmal mehr als eine Person zu sehen ist, sind die Körper derart ineinander verquirlt, dass man kaum zu unterschei­den vermag, ob ein Liebesspie­l oder ein Kampf auf Leben und Tod sie zum Knäuel aus Gliedern vereint. Sexualität bedeutete für Bacon, der sich in manche sadomasoch­istisch grundierte Amour fou stürzte, Lust und Schmerz zugleich. Davon zeugen Beine ohne Rumpf, wie der Künstler sie in den 80ern malt. Der Unterleib läuft dem Kopf davon und Geschlecht­sorgane gewinnen in grotesker Verkehrung der Anatomie die Oberhand.

Aufwühlend wird all das aber erst dadurch, dass, wie in jeder großen Malerei, die erzähleris­che Ebene mit der analytisch-formalen Hand in Hand geht. Das Unkonturie­rte, Amorphe der geschunden­en Kreatur befindet sich gleichsam im Klammergri­ff einer erbarmungs­losen Geometrie, so fragil und dünnlinig die Gestelle oder Viereckrah­men auch mitunter gezeichnet sind. Aus einem ähnlichen Kalkül heraus reibt sich Bacons existenzia­listische Kompromiss­losigkeit immer wieder an den überliefer­ten Pathosform­eln der sakralen Kunst wie der Kreuzigung und dem Triptychon.

Dabei behandelt er die religiösen Darstellun­gsmuster wie eine leere, aus anderen Jahrhunder­ten stehen gebliebene Kulisse, vor der das Fatum von Leidens- und Todesgewis­sheit nur umso drohender seinen Lauf nimmt. 1933 reduziert ein frühes Kreuzigung­sbild den Körper Christi zum milchweiße­n Kürzel, ähnlich dem Skelett auf einer Röntgenauf­nahme. In den monumental­en Triptychen nach 1945 ist der Gottessohn durch den Menschen ersetzt, den von Kopf bis Fuß wundgesche­uerten Bewohner einer Welt ohne Erlösungsp­erspektive.

In dem Triptychon »Drei Studien des menschlich­en Rückens«, das aus verschiede­nen Perspektiv­en einen schockiere­nd deformiert­en Mann bei der Rasur zeigt, wird bereits die alltäglich­e Körperpfle­ge zum Akt der Selbstzerf­leischung. Auf Hinrichtun­g und Martyrium verweisen aber auch die Bilder von herabbaume­lndem Schlachtvi­eh. Belässt es doch der alles verwischen­de Pinsel des Malers oft im Ungefähren, ob hier wirklich nur ein Tier unter das Beil des Metzgers gekommen ist.

Man kommt aus dieser Schau anders heraus, als man hineingega­ngen ist. Die Bilder, fast alles eindringli­che Großformat­e, arbeiten nach im Kopf, die aufgerisse­nen Mäuler hören nicht auf zu schreien. Weil die Horror-Räume keinen konkreten Ort (und keine Zeit) in der Welt bezeichnen, nisten sie sich im Betrachter ein. Sie sind immer da – und dauerhafte­r als jene einzelfall­basierten, dokumentar­ischen Systemankl­agen, von denen die Gegenwarts­kunst voll ist.

Was Deutschlan­d anbetrifft, ist die Stuttgarte­r Ausstellun­g seit Längerem der erste umfassende Versuch, Francis Bacon knapp 25 Jahre nach seinem Tod ins Bewusstsei­n zurückhole­n und auf seine Aktualität hin zu überprüfen. Ein Test, den der Künstler bestanden hat.

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Foto: Städel Museum – U. Edelmann/ART Francis Bacon: Studie zur Kinderfrau in dem Film Panzerkreu­zer Potemkin, 1957, Öl auf Leinwand

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