Der Unterleib läuft dem Kopf davon Ü
Horror-Räume, die keinen konkreten Ort bezeichnen: In Stuttgart ist eine großartige Francis-Bacon-Ausstellung zu sehen Von Georg Leisten
berall Fleisch, rohes Fleisch! Die Körper haben die Schutzhülle der Haut verloren und legen ihr blutiges Inneres frei. Francis Bacons (1909-1992) geschundene, zerstückelte Physiognomien gehören zum Grausamsten, ja Verstörendsten, was die Kunst des vergangenen Jahrhunderts in Farbe auf Leinwand gebracht hat. Umso überraschender ist die Perspektive, unter der die Stuttgarter Staatsgalerie den Briten betrachtet. »Unsichtbare Räume« heißt die großartige Schau, die klarstellt: Für den Maler, der sich am Leiblichen so obsessiv abarbeitete wie kaum jemand sonst, war der architektonische Umraum integraler Bestandteil seiner Körperdramen. Denn als Raum- und Möbeldesigner hatte er einst begonnen.
Bacons Orte werden »unsichtbar« genannt, weil sie Unorte darstellen, verborgene Andersräume wie Käfige oder Verliese.
Aus renommierten Sammlungen wie dem New Yorker Museum of Modern Art hat die Kuratorin Ina Conzen über vierzig Gemälde sowie Zeichnungen und Skizzen aus allen Schaffensphasen Bacons zusammengetragen. Von den monströsen Hybridwesen der 40er Jahre über die Papstfratzen nach Velázquez bis zu den späten Torsofiktionen vor knalligem Orange – Bacons Orte werden »unsichtbar« genannt, weil sie eigentlich Unorte darstellen, verborgene Andersräume wie Käfige oder Verliese, vielleicht auch medizinische Hörsäle, die den Menschen auf rundlichem Podest präsentieren und zum Schauobjekt eines wissenschaftlichen und voyeuristischen Blicks machen.
Isoliert sein und zugleich angestarrt werden, so muss Bacon, ein Extremist des Lebens zwischen Suff, Sex und Spielsucht, sich selber oft gefühlt haben. 1909 kommt der Sohn britischer Eltern in Dublin zur Welt. Schon als Protestant im erzkatholischen Irland ist er ein Außenseiter. Erst recht aber, als er sich in der Pubertät seiner Homosexualität bewusst wird und ihn der Vater aus dem Haus wirft, nachdem er den Sohn in den Dessous der Mutter ertappt hat.
Nicht zuletzt aus biografischen Urszenen wie diesen resultiert Bacons manische Beschäftigung mit dem Einoder Ausgesperrtsein. Seine Helden sind Märtyrer der unterdrückten, und dennoch aus sich herausdrängenden Triebhaftigkeit. Der qualvoll durch seinen dunklen Stall brüllende Schimpanse von 1955 ebenso wie jene muskulöse Gestalt aus dem Jahr 1973. In einem Akt animalischer Begattung springt der Mann auf ein hartkantiges grünes Wandelement, obwohl es laut dem Titel des Gemäldes nur darum geht, das Licht einzuschalten.
Bezeichnenderweise wählt Bacon kaum Landschaften, sondern meist Innenräume als Hintergrund. Und diese Interieurs sind klaustrophobische Bewusstseinszimmer, bewohnt von Einsamen, zurückgeworfen auf sich selbst. Höchstens das Spiegelbild leistet ihnen in ihrer ewigen Isolationshaft Gesellschaft. Falls aber doch einmal mehr als eine Person zu sehen ist, sind die Körper derart ineinander verquirlt, dass man kaum zu unterscheiden vermag, ob ein Liebesspiel oder ein Kampf auf Leben und Tod sie zum Knäuel aus Gliedern vereint. Sexualität bedeutete für Bacon, der sich in manche sadomasochistisch grundierte Amour fou stürzte, Lust und Schmerz zugleich. Davon zeugen Beine ohne Rumpf, wie der Künstler sie in den 80ern malt. Der Unterleib läuft dem Kopf davon und Geschlechtsorgane gewinnen in grotesker Verkehrung der Anatomie die Oberhand.
Aufwühlend wird all das aber erst dadurch, dass, wie in jeder großen Malerei, die erzählerische Ebene mit der analytisch-formalen Hand in Hand geht. Das Unkonturierte, Amorphe der geschundenen Kreatur befindet sich gleichsam im Klammergriff einer erbarmungslosen Geometrie, so fragil und dünnlinig die Gestelle oder Viereckrahmen auch mitunter gezeichnet sind. Aus einem ähnlichen Kalkül heraus reibt sich Bacons existenzialistische Kompromisslosigkeit immer wieder an den überlieferten Pathosformeln der sakralen Kunst wie der Kreuzigung und dem Triptychon.
Dabei behandelt er die religiösen Darstellungsmuster wie eine leere, aus anderen Jahrhunderten stehen gebliebene Kulisse, vor der das Fatum von Leidens- und Todesgewissheit nur umso drohender seinen Lauf nimmt. 1933 reduziert ein frühes Kreuzigungsbild den Körper Christi zum milchweißen Kürzel, ähnlich dem Skelett auf einer Röntgenaufnahme. In den monumentalen Triptychen nach 1945 ist der Gottessohn durch den Menschen ersetzt, den von Kopf bis Fuß wundgescheuerten Bewohner einer Welt ohne Erlösungsperspektive.
In dem Triptychon »Drei Studien des menschlichen Rückens«, das aus verschiedenen Perspektiven einen schockierend deformierten Mann bei der Rasur zeigt, wird bereits die alltägliche Körperpflege zum Akt der Selbstzerfleischung. Auf Hinrichtung und Martyrium verweisen aber auch die Bilder von herabbaumelndem Schlachtvieh. Belässt es doch der alles verwischende Pinsel des Malers oft im Ungefähren, ob hier wirklich nur ein Tier unter das Beil des Metzgers gekommen ist.
Man kommt aus dieser Schau anders heraus, als man hineingegangen ist. Die Bilder, fast alles eindringliche Großformate, arbeiten nach im Kopf, die aufgerissenen Mäuler hören nicht auf zu schreien. Weil die Horror-Räume keinen konkreten Ort (und keine Zeit) in der Welt bezeichnen, nisten sie sich im Betrachter ein. Sie sind immer da – und dauerhafter als jene einzelfallbasierten, dokumentarischen Systemanklagen, von denen die Gegenwartskunst voll ist.
Was Deutschland anbetrifft, ist die Stuttgarter Ausstellung seit Längerem der erste umfassende Versuch, Francis Bacon knapp 25 Jahre nach seinem Tod ins Bewusstsein zurückholen und auf seine Aktualität hin zu überprüfen. Ein Test, den der Künstler bestanden hat.