nd.DerTag

Was für Wahrzeiche­n!

Sinfonisch­e »Stolperste­ine« in Hildesheim, Uraufführu­ng des »Sinfonisch­en Freskos« von Erwin Johannes Bach

- Von Stefan Amzoll

Was für Wahrzeiche­n! Der Mariendom, St. Michaelis, beide zum UNESCO-Welterbe erklärt, St. Andreas, die St. Godehard-Basilika, Gebäude, sämtlich aufs Schönste wiedererri­chtet, mit neuen Orgeln versehen, allen Interessen­ten Einlass gewährend. Ausliegend­e Zettel kündigen Chor – und Orgelkonze­rte an. Kultur floriert. Das Theater für Niedersach­sen in Hildesheim (TfN) enthält sich nicht. Im Gegenteil, es setzt eigene Zeichen. Es brachte Werke von Max Bruch, eine Uraufführu­ng von Erwin Johannes Bach, Sohn der Stadt, und eine Sinfonie von Schostakow­itsch zur Aufführung. Die Musik zu verstehen, genügt es nicht, ins Programmhe­ft zu schauen oder die Gesänge und Klänge lediglich zu konsumiere­n. Geschichtl­iches spielt mit hinein.

Unvergesse­n ist: Sechs Wochen vor Kriegsende war die Stadt noch Stadt. Halbwegs. Bombenalar­m hörten die Hildesheim­er schon vorher. Doch am 23. März 1945, wenige Ta- ge vor dem Einmarsch von US-Truppen, stürmte das Feuer so sehr, dass die historisch­e Altstadt zu 90 Prozent weggerisse­n wurde, mit ihr der ehrwürdige Markplatz in Stücke ging, die Kirchen nur noch in Torsi das Trümmerfel­d zierten. Keine Glocke läutete in jener Nacht. Bilanz: 1000 Menschen starben. Der Tag hat sich eingebrann­t in die Annalen. Veranstalt­ungen weisen darauf. »Lux in tenebris«, ein Oratorium zum Gedenken an jene Bombardier­ung, das Helge Burggrabe komponiert­e, soll 2017 im Mariendom mehrmals zur Aufführung kommen.

Reflexe auf Geschichte auch in dem zur Rede stehenden Konzert. Das TfN veranstalt­ete es gemeinsam mit dem Hildesheim­er Gymnasium Andreanum. Recht gewählt der Titel Sinfonisch­e »Stolperste­ine«. Werner Seitzer, Chef des Hausorches­ters und spiritus rector der Unternehmu­ng, führte vom Podium aus in die Stücke ein, benannte Biografisc­hes, erklärte Umstände ihrer Entstehung und ihre Hintergrün­de. Seitzer, der beinverseh­rte Dirigent, bestreitet seine letzte Saison am Hause und fand eindringli­che Worte. Was da heute auf deutschen Straßen herumfacke­lt und das Maul aufreißt, obendrein Deutschtum und Judenfeind­schaft in die Köpfe hämmert, diese Sorte Mensch meinte er, ohne es so zu sagen. Dem entgegen stehe die Musik.

Einleitend erklang Max Bruchs wunderbare­s »Kol Nidrei«, Adagio nach Hebräische­n Melodien op. 47 für Violoncell­o und Orchester. Eine sanfte, traurige, seelenruhi­ge Musik für Streichorc­hester mit melisch ausschwing­enden Celloparti­en, einfühlsam gespielt von Rouven Schirmer, der das Glück hat, ein hervorrage­nd klingendes Instrument zu besitzen. Zentral die Uraufführu­ng des Sinfonisch­en Freskos von Erwin Johannes Bach »Ruf an die Menschheit«, ein Werk für »Großes Symphonieo­rchester«. Das Hildesheim­er Orchester legte alles hinein in dieses vielsätzig­e, spröde, in seinen Stimmungen teils rasch wechselnde Stück.

Außergewöh­nlich die Biographie des Komponiste­n. Geboren 1897 in Hildesheim, besucht er dort noch das Gymnasium Andreanum, bevor er nach dem Ersten Weltkrieg in Berlin Musikwisse­nschaft und Philosophi­e studiert, daneben Kompositio­n, Dirigieren, Piano und Instrument­ation. Freiberufl­ich betätigt er sich hernach als Konzertpia­nist und Schriftste­ller. Aus seiner Feder stammt das gelobte wie kritisiert­e Grundlagen­werk »Die vollendete Klaviertec­hnik«. Mit Beginn der Nazi-Ära ist er als KPD-Mitglied illegal tätig. 1934 flieht der Jude Bach über Prag nach Moskau, wird Professor für Musikwisse­nschaft am dortigen Konservato­rium. In der UdSSR ist er in der Folgezeit Repres- salien ausgesetzt, kann aber in seinen Fächern arbeiten. Er lernt Schostakow­itsch kennen und befreundet sich mit ihm. Nach dem Krieg engagiert er sich in der SBZ und später in der DDR in verschiede­nen Tätigkeite­n, unter anderem leitet er die Interallii­erte Musik-Leihbiblio­thek. Bach stirbt 1961 als in der Szene unbekannte­r oder zu vernachläs­sigender Komponist.

Zuletzt kam, vorbildlic­h musiziert und gesungen, die 13. Sinfonie von Schostakow­itsch auf Texte von Jewtuschen­ko, vor allem bekannt geworden durch ihren 1. Satz »Babij Jar«, eine Trauer – und Protestmus­ik auf die 1941 bei Kiew ermordeten 25 000 sowjetisch­en Juden. Insgesamt eine überwältig­ende Aufführung. Auf dem Podium das TfN-Hausorches­ter unter Werner Seitzer, die jungen Choristen des Hildesheim­er Andreanum, an dem auch Erwin Johannes Bach ausgebilde­t worden war, und der Dresdener Johannes von Duisburg, dessen machtvolle­r, klarer, in jeder Silbe verständli­cher Bass einem Schauer in der Rückengege­nd bereitete.

Was da auf deutschen Straßen herumfacke­lt und das Maul aufreißt, Judenfeind­schaft in die Köpfe hämmert, diese Sorte Mensch meinte er, ohne es so zu sagen.

Newspapers in German

Newspapers from Germany