Ein Stück vom Kuchen
Das Lügenspiel der ERGO-Versicherungsgruppe – eine Innenansicht
Privatversicherungen bieten Alternativen zur schrumpfenden gesetzlichen Rente. So wie ERGO. Doch ein Blick ins Innere zeigt vor allem Eigennutzinteresse des Unternehmens. Bericht eines Selbstversuchs. Sie haben ihre Ausbildung beendet oder ihr Studium. Sie können mit Ihrem egomanischen Chef nicht mehr oder er nicht mit Ihnen. Sie suchen als Quereinsteiger einen beruflichen Neuanfang oder eine Nebenbeschäftigung. Sie haben die große Flexibilität und das Reisen satt, immer in Hotels, immer abrufbereit, immer einsatzbereit. Sie wollen einfach nur Arbeit und Einkommen. Sie schauen sich das Employer Branding der Sie interessierenden Firmen an, lesen die Stellenanzeigen, melden sich an bei Xing und LinkedIn, informieren sich bei Monster.de und Jobpilot, klicken sich durch die Angebote bei meinestadt und JOBBÖRSE, durchforsten die Printmedien und stoßen unter anderem auch auf, nennen wir ihn, Fair Consulting SCHÄFER, einen privaten Arbeitsvermittler. Rekrutierung Das Telefon klingelt. Herr Schäfer von der Fair Consulting meldet sich. Mit Interesse habe er Ihre Bewerbung gelesen, lange und intensiv bei verschiedenen Partnern einen entsprechenden Job für Sie gesucht. Leider konnte er nichts finden. Ob Sie denn an Alternativen interessiert seien. Die Geschäftsstelle der ERGO sucht interessierte Menschen zum Aufbau eines neuen Teams. Nein, nein, keine Angst, Sie müssen keine Versicherungen verkaufen, es werden Mitarbeiter für eine gut bezahlte Führungstätigkeit gesucht. Ob er Ihre Unterlagen an einen Angestellten der ERGO, nennen wir ihn Steffen Alt, weiterleiten dürfe.
Einige Tage später sitzen Sie im Büro der ERGO einem smarten Mann gegenüber, der Ihnen auf seinem Tablet den Konzern präsentiert. Auf einem weißen Blatt Papier skizziert er Einstiegs- und Verdienstmöglichkeiten, preist die Ausbildung von vier bis zwölf Wochen, natürlich gratis und versüßt durch eine Ausbildungspauschale. Er demonstriert Ihren Aufstieg in die erste Führungsposition und Aufbau Ihres Teams von acht bis zehn Mitarbeitern, mehrere Tausend Euro Gehalt monatlich, wahlweise als Festgehalt oder leistungsorientierte Zahlung, Bonuszahlung zwei Mal im Jahr, Arbeit im Haupt- oder Nebenberuf möglich. Eine schöne neue Arbeitswelt. Alles easy. Und alles Lüge.
Das ist die ERGO-Masche. Zuerst geht es um die Rekrutierung neuer »Mitarbeiter«: Jobangebote in verschiedenen Branchen werden auf unterschiedlichen Portalen platziert, von Jobs, die es gar nicht gibt, und die Bewerber zur ERGO umgeleitet. Die Fair Consulting ist ein Fake und Herr Schäfer ein Phantom. Egal, auf welchen Job sich ein Arbeitssuchender bewirbt, er kommt zum Schluss immer bei Steffen Alt an.
Sobald man einen Schritt in die Struktur der ERGO gemacht hat, soll man sich selbst auf die Suche nach neuen Mitarbeitern begeben. Auch Meinungsumfragen vor Kaufhäusern werden zum Schein durchgeführt, um Menschen zur Mitarbeit zu überreden. Sogar das direkte Ansprechen auf der Straße wird empfohlen. Am effektivsten ist jedoch die Rekrutierung im Freundes- und Bekanntenkreis, da man dabei von einem Vertrauensverhältnis ausgehen kann.
Alleiniges Ziel der Rekrutierung neuer Mitarbeiter: so viel wie möglich Menschen in das System ERGO zu pumpen, um an die Daten ihrer Familienangehörigen, Freunde, Kollegen, Lehrer, Geschäftspartner, Sportkameraden und Reisepartner zu gelangen. Ihre persönlichen, sozialen und beruflichen Netzwerke sollen zu Netzwerken der ERGO werden. Ausbildung Gleich zu Beginn der Ausbildung erhält jeder einen Vordruck mit dem Titel »Namenspotenzial« für 100 Namen und eine Schulung zum Thema: »Erstellung einer Namensliste«. Dabei werden die neuen Mitarbeiter an- geleitet, ihr gesamtes Leben und alle Lebensabschnitte auf Kontaktpersonen zu durchforsten. Von der Kindergärtnerin bis zur geschiedenen Frau des Großonkels – alle sind aufzuschreiben, denn alle sind mögliche Kunden der ERGO und sollen so schnell wie möglich kontaktiert werden. Formulierungshilfen, die sich abhängig von der Zielperson – Freunde, Kollegen, Geschäftspartner – unterscheiden, sollen die erste Kontaktaufnahme erleichtern.
Leider ist auch das Gehaltsmodell ein bloßer Köder. Es gibt keine Ausbildungspauschale, kein Gehalt, nichts. Nur über eigene Verträge und Verträge des Teams kann man Einkünfte erwirtschaften und in der Struktur des Konzerns aufsteigen.
Immer wieder und voller Stolz wird von den Führungskräften auf die Ausbildung hingewiesen, die sie aus Kostengründen gleich selber durchführen. Gelehrt werden vor allem zwei Schwerpunkte: der Umgang mit dem »Finanzkompass«, einer seitenstarken Broschüre, die die Mitarbeiter vom ersten Tag an in die Lage versetzen soll, alle relevanten persönlichen und finanziellen Daten wie Einnahmen und Ausgaben, Wünsche und Ziele, bestehende Versicherungen und Altersvorsorge möglicher Kunden zu erfassen. Den Kunden soll eines aufgezeigt werden: dass sie Vorsorgelücken haben. Der zweite Schu- lungsschwerpunkt betrifft das erste Verkaufsgespräch. Dann geht es darum, wie die aufgezeigten Vorsorgelücken durch eine Versicherung der ERGO geschlossen werden können.
Für jede Versicherung ist es lukrativ, wenn ein Versicherter nach Jahren der Beitragszahlung unter Verlusten vorzeitig seinen Vertrag kündigt und gar nicht erst in die Leistungsphase kommt. Für ERGO ist es lukrativ, nicht in Ausbildung zu investieren, sondern von Anfang an Nutzen aus den neuen Mitarbeitern zu ziehen, aus ihren Kontakten, neuen Kundenkreisen und neuen Verträgen. Mit der Ausbildung sollen die Mitarbeiter greifbar bleiben, lenkbar, manipulierbar. Man begibt sich in eine Endloswarteschleife, wird mit den immer gleichen Themen beackert und stellt seine Arbeitskraft nebenberuflich und unentgeltlich der ERGO zur Verfügung, wobei der Lebensunterhalt in dieser Zeit oft von der Agentur für Arbeit bestritten wird. Darüber hinaus bezahlt man Ausbildung und Gehalt selbst – durch eigene Vertragsabschlüsse, an denen die jeweiligen Strukturhöheren immer kräftig mitverdienen.
Um Einwände der Kunden zu entkräften, sind Rhetorik, Fragetechniken und Techniken der Terminvereinbarung wichtigste Bestandteile der Schulungen. Welche Themen meide ich? Wie schaffe ich Vertrauen und Gemeinsamkeiten? Mit welchen Fragen bringe ich den Kunden zum Abschluss? Wie komme ich zu neuen Empfehlungen und Kundenkontakten? Dafür werden vom ersten Tag an Wettbewerbe und Preise ausgelobt. Ein Schreibset, ein Flug mit dem Simulator, ein Hotelaufenthalt. Die Lustreisen von Managern der ERGOVersicherungstochter HamburgMannheimer nach Budapest, die vor Jahren für hässliche Schlagzeilen sorgten, die sind längst vergessen. Gehirnwäsche »Es werden immer weniger Kinder geboren, die Menschen werden immer älter, das Verhältnis zwischen Beitragszahler und Rentenempfänger wird immer kritischer. Die gesetzliche Rentenversicherung ist kurz vor dem Kollaps. Die Vorsorgelücke wird immer größer, darum droht Altersarmut, und die einzige Rettung ist eine private Rentenversicherung.« So lautet das Mantra vom ersten Tag an.
Der Angriff auf die gesetzliche Rentenversicherung war eine konzertierte Aktion von Politik, Versicherungsunternehmen, Banken und Teilen der Medien in der Rot-GrünRegierungszeit von Gerhard Schröder. Die Sicherheit der gesetzlichen Renten wurde erst kleingeschrieben, um sie dann, als Reform getarnt, zu senken. Das deprimierende Ergebnis macht die ERGO dem Kunden sinn- lich erlebbar. Es wird ein Spiel vorgeführt, bei dem zehn Münzen für das heutige verfügbare Einkommen stehen und auf verschiedene Ausgabenbereiche – Lebensmittel, Miete, Kinder, Urlaub, Mobilität, Kommunikation – verteilt werden. In einem zweiten Versuch setzt man das Spiel mit vier Münzen fort, das angenommene Rentenniveau von 40 Prozent in der Zukunft.
Dass Versicherungen und Banken Nutznießer in Milliardenhöhe von Riester, Rürup und Co. sind, dass sich viele Arbeitnehmer die Zusatzbeiträge für eine private Absicherung gar nicht leisten können, wird natürlich nicht erwähnt. Die Beiträge zur Gesetzlichen Rentenversicherung werden gedeckelt, wer mehr Geld im Alter will, wird in die Private Versicherung getrieben. Bei der Riester-Rente muss man vier Prozent vom Brutto als Eigenanteil einbringen, um die vollen staatlichen Fördergelder zu erhalten, die wiederum aus Steuermitteln kommen. Für den Arbeitnehmer eine reale Beitragserhöhung, der Arbeitgeber spart seinen Arbeitgeberanteil und die Versicherungen machen garantierte Gewinne. Leitbilder Um die neuen, meistens jungen Mitarbeiter bei ERGO zu motivieren, gibt es nur ein Thema: Geld. Und was man dafür kaufen kann. Immobilien, Autos, Wellnessreisen. Darüber hinaus gehende Werte spielen keine Rolle. Als Vorbilder werden Führungspersönlichkeiten der ERGO präsentiert, die es geschafft haben. Ihre Umsätze werden wie mythische Heldentaten verklärt, ihr Lebensstandard in blumigsten Farben gepriesen. Mit großen Augen hören die in Anzüge gesteckten Hoffnungen auf eine menschenwürdige Bezahlung, die in Kostüme gezwängten Sehnsüchte nach sozialem Aufstieg zu.
Und dann kommt der Sieger zu den Siegern von morgen und berichtet, agitiert, motiviert. In lockeres Leinen gekleidet, sonnengebräunt, scheint er eben seiner Yacht entstiegen. »Was sind Ihre Ziele? Was wollen Sie verdienen?« Eine Antwort von 10 000 Euro im Monat wird akzeptiert, 5000 als unprofessionell abgetan. Er vergleicht die Arbeit bei der ERGO mit Leistungssport und demonstriert ein mögliches Umsatzpotenzial für die Region Dresden. Denn »Erfolg ist berechenbar«, so sein Motto. 700 000 Kunden x 100 Einheiten x 9,50 Euro (so viel bekommt man in der untersten, von allen Anfängern als nächsten Schritt auf der Karriereleiter angestrebten Position) sind 665 Milliarden Euro. Die müssen verteilt werden. Und da wollen wir etwas abbekommen. Gespräche in der Pause drehen sich um die 500-Quadratmeter-Villa und den Porsche. Dass nach 40 Beitragsjahren bei einem Garantiezins von 1,25 Prozent für die Kunden kein Gewinn entstehen kann, dass Riester und Rürup nur für einen kleinen Teil der Versicherten funktioniert, sagt er nicht. Seine Millionen werden mit den unzähligen Beiträgen der Versicherten erwirtschaftet, von ihrer Hoffnung auf eine bessere Absicherung im Alter. Entscheidung Sie sitzen in einem Büro der ERGO und telefonieren. »Schäfer von der FAIR CONSULTING«, stellen Sie sich vor. »Mit Interesse habe ich Ihre Bewerbung gelesen … leider konnte ich nichts … sind Sie denn an Alternativen interessiert ... die Geschäftsstelle der ERGO sucht zum Aufbau eines neuen Teams … Keine Angst, Sie müssen keine Versicherungen verkaufen … Gutbezahlte Führungstätigkeit … kann ich Ihre Unterlagen an Herrn Steffen Alt von der ERGO…?« Bewerbungsunterlagen fliegen über den Tisch, sie hatten keine Zeit, sie richtig zu lesen, ein Handy wird in der Runde herumgereicht, alle hören mit. Sie verwechseln die Namen, Sie schwitzen, Sie lesen Textbausteine ab. Herr Alt sitzt Ihnen gegenüber und grinst. Sie machen mit im Lügenspiel und rekrutieren Fremde, Freunde, Kollegen, Familienmitglieder und verkaufen Verträge, von denen Sie wissen, dass sie die Versprechungen nie erfüllen können. Denn auch Sie wollen ein Stückchen vom versprochenen Umverteilungkuchen.