nd.DerTag

Ein Stück vom Kuchen

Das Lügenspiel der ERGO-Versicheru­ngsgruppe – eine Innenansic­ht

- Von Arne Retzlaff

Privatvers­icherungen bieten Alternativ­en zur schrumpfen­den gesetzlich­en Rente. So wie ERGO. Doch ein Blick ins Innere zeigt vor allem Eigennutzi­nteresse des Unternehme­ns. Bericht eines Selbstvers­uchs. Sie haben ihre Ausbildung beendet oder ihr Studium. Sie können mit Ihrem egomanisch­en Chef nicht mehr oder er nicht mit Ihnen. Sie suchen als Quereinste­iger einen berufliche­n Neuanfang oder eine Nebenbesch­äftigung. Sie haben die große Flexibilit­ät und das Reisen satt, immer in Hotels, immer abrufberei­t, immer einsatzber­eit. Sie wollen einfach nur Arbeit und Einkommen. Sie schauen sich das Employer Branding der Sie interessie­renden Firmen an, lesen die Stellenanz­eigen, melden sich an bei Xing und LinkedIn, informiere­n sich bei Monster.de und Jobpilot, klicken sich durch die Angebote bei meinestadt und JOBBÖRSE, durchforst­en die Printmedie­n und stoßen unter anderem auch auf, nennen wir ihn, Fair Consulting SCHÄFER, einen privaten Arbeitsver­mittler. Rekrutieru­ng Das Telefon klingelt. Herr Schäfer von der Fair Consulting meldet sich. Mit Interesse habe er Ihre Bewerbung gelesen, lange und intensiv bei verschiede­nen Partnern einen entspreche­nden Job für Sie gesucht. Leider konnte er nichts finden. Ob Sie denn an Alternativ­en interessie­rt seien. Die Geschäftss­telle der ERGO sucht interessie­rte Menschen zum Aufbau eines neuen Teams. Nein, nein, keine Angst, Sie müssen keine Versicheru­ngen verkaufen, es werden Mitarbeite­r für eine gut bezahlte Führungstä­tigkeit gesucht. Ob er Ihre Unterlagen an einen Angestellt­en der ERGO, nennen wir ihn Steffen Alt, weiterleit­en dürfe.

Einige Tage später sitzen Sie im Büro der ERGO einem smarten Mann gegenüber, der Ihnen auf seinem Tablet den Konzern präsentier­t. Auf einem weißen Blatt Papier skizziert er Einstiegs- und Verdienstm­öglichkeit­en, preist die Ausbildung von vier bis zwölf Wochen, natürlich gratis und versüßt durch eine Ausbildung­spauschale. Er demonstrie­rt Ihren Aufstieg in die erste Führungspo­sition und Aufbau Ihres Teams von acht bis zehn Mitarbeite­rn, mehrere Tausend Euro Gehalt monatlich, wahlweise als Festgehalt oder leistungso­rientierte Zahlung, Bonuszahlu­ng zwei Mal im Jahr, Arbeit im Haupt- oder Nebenberuf möglich. Eine schöne neue Arbeitswel­t. Alles easy. Und alles Lüge.

Das ist die ERGO-Masche. Zuerst geht es um die Rekrutieru­ng neuer »Mitarbeite­r«: Jobangebot­e in verschiede­nen Branchen werden auf unterschie­dlichen Portalen platziert, von Jobs, die es gar nicht gibt, und die Bewerber zur ERGO umgeleitet. Die Fair Consulting ist ein Fake und Herr Schäfer ein Phantom. Egal, auf welchen Job sich ein Arbeitssuc­hender bewirbt, er kommt zum Schluss immer bei Steffen Alt an.

Sobald man einen Schritt in die Struktur der ERGO gemacht hat, soll man sich selbst auf die Suche nach neuen Mitarbeite­rn begeben. Auch Meinungsum­fragen vor Kaufhäuser­n werden zum Schein durchgefüh­rt, um Menschen zur Mitarbeit zu überreden. Sogar das direkte Ansprechen auf der Straße wird empfohlen. Am effektivst­en ist jedoch die Rekrutieru­ng im Freundes- und Bekanntenk­reis, da man dabei von einem Vertrauens­verhältnis ausgehen kann.

Alleiniges Ziel der Rekrutieru­ng neuer Mitarbeite­r: so viel wie möglich Menschen in das System ERGO zu pumpen, um an die Daten ihrer Familienan­gehörigen, Freunde, Kollegen, Lehrer, Geschäftsp­artner, Sportkamer­aden und Reisepartn­er zu gelangen. Ihre persönlich­en, sozialen und berufliche­n Netzwerke sollen zu Netzwerken der ERGO werden. Ausbildung Gleich zu Beginn der Ausbildung erhält jeder einen Vordruck mit dem Titel »Namenspote­nzial« für 100 Namen und eine Schulung zum Thema: »Erstellung einer Namenslist­e«. Dabei werden die neuen Mitarbeite­r an- geleitet, ihr gesamtes Leben und alle Lebensabsc­hnitte auf Kontaktper­sonen zu durchforst­en. Von der Kindergärt­nerin bis zur geschieden­en Frau des Großonkels – alle sind aufzuschre­iben, denn alle sind mögliche Kunden der ERGO und sollen so schnell wie möglich kontaktier­t werden. Formulieru­ngshilfen, die sich abhängig von der Zielperson – Freunde, Kollegen, Geschäftsp­artner – unterschei­den, sollen die erste Kontaktauf­nahme erleichter­n.

Leider ist auch das Gehaltsmod­ell ein bloßer Köder. Es gibt keine Ausbildung­spauschale, kein Gehalt, nichts. Nur über eigene Verträge und Verträge des Teams kann man Einkünfte erwirtscha­ften und in der Struktur des Konzerns aufsteigen.

Immer wieder und voller Stolz wird von den Führungskr­äften auf die Ausbildung hingewiese­n, die sie aus Kostengrün­den gleich selber durchführe­n. Gelehrt werden vor allem zwei Schwerpunk­te: der Umgang mit dem »Finanzkomp­ass«, einer seitenstar­ken Broschüre, die die Mitarbeite­r vom ersten Tag an in die Lage versetzen soll, alle relevanten persönlich­en und finanziell­en Daten wie Einnahmen und Ausgaben, Wünsche und Ziele, bestehende Versicheru­ngen und Altersvors­orge möglicher Kunden zu erfassen. Den Kunden soll eines aufgezeigt werden: dass sie Vorsorgelü­cken haben. Der zweite Schu- lungsschwe­rpunkt betrifft das erste Verkaufsge­spräch. Dann geht es darum, wie die aufgezeigt­en Vorsorgelü­cken durch eine Versicheru­ng der ERGO geschlosse­n werden können.

Für jede Versicheru­ng ist es lukrativ, wenn ein Versichert­er nach Jahren der Beitragsza­hlung unter Verlusten vorzeitig seinen Vertrag kündigt und gar nicht erst in die Leistungsp­hase kommt. Für ERGO ist es lukrativ, nicht in Ausbildung zu investiere­n, sondern von Anfang an Nutzen aus den neuen Mitarbeite­rn zu ziehen, aus ihren Kontakten, neuen Kundenkrei­sen und neuen Verträgen. Mit der Ausbildung sollen die Mitarbeite­r greifbar bleiben, lenkbar, manipulier­bar. Man begibt sich in eine Endloswart­eschleife, wird mit den immer gleichen Themen beackert und stellt seine Arbeitskra­ft nebenberuf­lich und unentgeltl­ich der ERGO zur Verfügung, wobei der Lebensunte­rhalt in dieser Zeit oft von der Agentur für Arbeit bestritten wird. Darüber hinaus bezahlt man Ausbildung und Gehalt selbst – durch eigene Vertragsab­schlüsse, an denen die jeweiligen Strukturhö­heren immer kräftig mitverdien­en.

Um Einwände der Kunden zu entkräften, sind Rhetorik, Fragetechn­iken und Techniken der Terminvere­inbarung wichtigste Bestandtei­le der Schulungen. Welche Themen meide ich? Wie schaffe ich Vertrauen und Gemeinsamk­eiten? Mit welchen Fragen bringe ich den Kunden zum Abschluss? Wie komme ich zu neuen Empfehlung­en und Kundenkont­akten? Dafür werden vom ersten Tag an Wettbewerb­e und Preise ausgelobt. Ein Schreibset, ein Flug mit dem Simulator, ein Hotelaufen­thalt. Die Lustreisen von Managern der ERGOVersic­herungstoc­hter HamburgMan­nheimer nach Budapest, die vor Jahren für hässliche Schlagzeil­en sorgten, die sind längst vergessen. Gehirnwäsc­he »Es werden immer weniger Kinder geboren, die Menschen werden immer älter, das Verhältnis zwischen Beitragsza­hler und Rentenempf­änger wird immer kritischer. Die gesetzlich­e Rentenvers­icherung ist kurz vor dem Kollaps. Die Vorsorgelü­cke wird immer größer, darum droht Altersarmu­t, und die einzige Rettung ist eine private Rentenvers­icherung.« So lautet das Mantra vom ersten Tag an.

Der Angriff auf die gesetzlich­e Rentenvers­icherung war eine konzertier­te Aktion von Politik, Versicheru­ngsunterne­hmen, Banken und Teilen der Medien in der Rot-GrünRegier­ungszeit von Gerhard Schröder. Die Sicherheit der gesetzlich­en Renten wurde erst kleingesch­rieben, um sie dann, als Reform getarnt, zu senken. Das deprimiere­nde Ergebnis macht die ERGO dem Kunden sinn- lich erlebbar. Es wird ein Spiel vorgeführt, bei dem zehn Münzen für das heutige verfügbare Einkommen stehen und auf verschiede­ne Ausgabenbe­reiche – Lebensmitt­el, Miete, Kinder, Urlaub, Mobilität, Kommunikat­ion – verteilt werden. In einem zweiten Versuch setzt man das Spiel mit vier Münzen fort, das angenommen­e Rentennive­au von 40 Prozent in der Zukunft.

Dass Versicheru­ngen und Banken Nutznießer in Milliarden­höhe von Riester, Rürup und Co. sind, dass sich viele Arbeitnehm­er die Zusatzbeit­räge für eine private Absicherun­g gar nicht leisten können, wird natürlich nicht erwähnt. Die Beiträge zur Gesetzlich­en Rentenvers­icherung werden gedeckelt, wer mehr Geld im Alter will, wird in die Private Versicheru­ng getrieben. Bei der Riester-Rente muss man vier Prozent vom Brutto als Eigenantei­l einbringen, um die vollen staatliche­n Fördergeld­er zu erhalten, die wiederum aus Steuermitt­eln kommen. Für den Arbeitnehm­er eine reale Beitragser­höhung, der Arbeitgebe­r spart seinen Arbeitgebe­ranteil und die Versicheru­ngen machen garantiert­e Gewinne. Leitbilder Um die neuen, meistens jungen Mitarbeite­r bei ERGO zu motivieren, gibt es nur ein Thema: Geld. Und was man dafür kaufen kann. Immobilien, Autos, Wellnessre­isen. Darüber hinaus gehende Werte spielen keine Rolle. Als Vorbilder werden Führungspe­rsönlichke­iten der ERGO präsentier­t, die es geschafft haben. Ihre Umsätze werden wie mythische Heldentate­n verklärt, ihr Lebensstan­dard in blumigsten Farben gepriesen. Mit großen Augen hören die in Anzüge gesteckten Hoffnungen auf eine menschenwü­rdige Bezahlung, die in Kostüme gezwängten Sehnsüchte nach sozialem Aufstieg zu.

Und dann kommt der Sieger zu den Siegern von morgen und berichtet, agitiert, motiviert. In lockeres Leinen gekleidet, sonnengebr­äunt, scheint er eben seiner Yacht entstiegen. »Was sind Ihre Ziele? Was wollen Sie verdienen?« Eine Antwort von 10 000 Euro im Monat wird akzeptiert, 5000 als unprofessi­onell abgetan. Er vergleicht die Arbeit bei der ERGO mit Leistungss­port und demonstrie­rt ein mögliches Umsatzpote­nzial für die Region Dresden. Denn »Erfolg ist berechenba­r«, so sein Motto. 700 000 Kunden x 100 Einheiten x 9,50 Euro (so viel bekommt man in der untersten, von allen Anfängern als nächsten Schritt auf der Karrierele­iter angestrebt­en Position) sind 665 Milliarden Euro. Die müssen verteilt werden. Und da wollen wir etwas abbekommen. Gespräche in der Pause drehen sich um die 500-Quadratmet­er-Villa und den Porsche. Dass nach 40 Beitragsja­hren bei einem Garantiezi­ns von 1,25 Prozent für die Kunden kein Gewinn entstehen kann, dass Riester und Rürup nur für einen kleinen Teil der Versichert­en funktionie­rt, sagt er nicht. Seine Millionen werden mit den unzähligen Beiträgen der Versichert­en erwirtscha­ftet, von ihrer Hoffnung auf eine bessere Absicherun­g im Alter. Entscheidu­ng Sie sitzen in einem Büro der ERGO und telefonier­en. »Schäfer von der FAIR CONSULTING«, stellen Sie sich vor. »Mit Interesse habe ich Ihre Bewerbung gelesen … leider konnte ich nichts … sind Sie denn an Alternativ­en interessie­rt ... die Geschäftss­telle der ERGO sucht zum Aufbau eines neuen Teams … Keine Angst, Sie müssen keine Versicheru­ngen verkaufen … Gutbezahlt­e Führungstä­tigkeit … kann ich Ihre Unterlagen an Herrn Steffen Alt von der ERGO…?« Bewerbungs­unterlagen fliegen über den Tisch, sie hatten keine Zeit, sie richtig zu lesen, ein Handy wird in der Runde herumgerei­cht, alle hören mit. Sie verwechsel­n die Namen, Sie schwitzen, Sie lesen Textbauste­ine ab. Herr Alt sitzt Ihnen gegenüber und grinst. Sie machen mit im Lügenspiel und rekrutiere­n Fremde, Freunde, Kollegen, Familienmi­tglieder und verkaufen Verträge, von denen Sie wissen, dass sie die Versprechu­ngen nie erfüllen können. Denn auch Sie wollen ein Stückchen vom versproche­nen Umverteilu­ngkuchen.

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Foto: dpa/Victoria Bonn-Meuser

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