»Ik hoa en beert«
Helgolands Börteboot-Kapitäne wollen das Ritual des Ausbootens retten – und dazu die UNESCO einschalten
Das Umsteigen von der Fähre auf ein schaukelndes offenes Boot gehörte jahrzehntelang bei einem Besuch auf Helgoland dazu. Doch inzwischen ist um die sogenannten Börteboote ein Streit entbrannt. Helgoland. Im verrauchten Büro des Brückenkapitäns ist es nebelig. Um den alten Tisch sitzen grauhaarige Männer in blauen Fischerhemden, darunter Karl-Heinz, Klaus, Adolf und als einzige Frau, Lilo. Hinter ihnen hängen Schwarz-Weiß-Bilder von ernst dreinblickenden Börteboot-Kapitänen, »die im Meer geblieben sind«, wie Brückenkapitän Bernhard trocken anmerkt. Alle Versammelten eint die Sorge um die traditionsreichen Holzboote, die praktisch jeder Helgoland-Tourist kennt – und die für viele von ihnen die Helgoland-Reise erst zum unvergesslichen Abenteuer werden lassen.
Aber auch an dem an manchen Ecken etwas aus der Zeit gefallenen Helgoland, das zu Schleswig-Holstein gehört, geht die Entwicklung nicht vorbei. Die Börteboote werden bislang eingesetzt, um die Besucher von den Ausflugsdampfern auf Deutschlands einzige Hochseeinsel zu bringen. Doch jetzt finden manche auf der Insel das Ausbooten nicht mehr zeitgemäß. Barrierefrei soll der Zugang sein, wodurch man sich mehr Toristen verspricht. Dazu sollen mehr Möglichkeiten zum direkten Anlegen entstehen. Das Ende der Börteboote?
Fest steht, dass die Touristenzahlen seit Jahren dramatisch sinken – 1971 kamen noch mehr als 830 000 Menschen pro Jahr auf die Insel, nun sind es meist um die 300 000. Klar, dass man sich sich in der Tourismusbranche Gedanken macht, wie man den Trend umkehren könnte. Wäre die barrierefreie Direktanlandung der Ausflugsfähren an einer neuen Landungsbrücke ein Weg?
Nicht, wenn es nach dem Willen der Männer und Lilos im Brückenbüro geht. Auch sie glauben nicht ernsthaft, dass sie die Entwicklung aufhalten können. Aber versuchen kann man das ja mal. Jetzt wollen sie das Ausbooten als immaterielles deutsches Kulturerbe schützen lassen. »Der Antrag ist schon weitgehend fertig«, sagt Holger Bünning. Nächstes Jahr soll er beim Kulturministerium in Kiel abgegeben werden. Bünning, gebürtiger Hamburger, lebt seit sechs Jahren auf Helgoland, in der Saison hilft er den Börte-Crews. »Das ist eine wahnsinnige, einmalige maritime Tradition«, sagt er. »Wo gibt es das schon, dass jeder Gast persönlich begrüßt und in den Arm genommen wird?«
Das Wort »Börte« für Ausbooten komme ursprünglich aus dem Niederländisch-Friesischen, sagt Bönning. Beurt oder Bört bedeute »Reihe«. »Ik hoa en beert« heiße soviel wie: »Ich bin an der Reihe.« Aber ist das Ausbooten ein Kulturerbe? Zum immateriellen Kulturerbe gehören dem UNESCO-Abkommen von 2003 zufolge »Bräuche, Darstellungen, Ausdrucksformen, Wissen und Fertigkeiten – sowie die dazu gehörigen Instrumente, Objekte, Artefakte und kulturellen Räume – (...), die Gemeinschaften, Gruppen und gegebe- nenfalls Einzelpersonen als Bestandteil ihres Kulturerbes ansehen«. Bislang gibt es in Deutschland 34 Einträge als immaterielles Kulturerbe. Dazu zählen etwa die Genossenschaftsidee, die Brotkultur und – dem Ausbooten nicht unähnlich – die Flößerei. In den 1970er Jahren, der Hochzeit der Börteboote, gab es hier 38 dieser schweren, offenen Boote, sagt Lilo (69), die 2002 als erste Frau bei der Börte fest angestellt wurde. Die Boote sind acht bis zehn Meter lang, gut drei Meter breit, acht bis zehn Tonnen schwer. Wenn Lilos Mann Klaus über die Boote spricht, kommt er richtig in Fahrt. So viel wie ein Einfamilienhaus – 250 000 bis 300 000 Euro – koste so ein hochseetaugliches Boot. »An den Börtebooten hängen etwa 40 Familien«, sagt sein Sohn Sven (42).
Seit 1952, erzählt Bönning, hat die Börte mehr als 25 Millionen Menschen sicher ein- und ausgebootet. »Und was bedeutet schon barrierefrei? Wenn ein Rollifahrer kommt, heißt es bei uns einfach: ›Vier Mann, vier Ecken.‹ Und schon ist er im Boot.«
Die Gemeinde Helgoland unterstützt den UNESCO-Antrag »zu 100 Prozent, finanziell und auch politisch«, sagt Bürgermeister Jörg Singer. »Wir wollen das Börteboot auf jeden Fall erhalten, sei es als Barkasse oder für Rundfahren, Naturkundefahrten, Heiraten oder Seebestattungen.« Ob die neue, 30 bis 40 Millionen Euro teure Landungsbrücke, an der die Fähren künftig anlegen sollen, tatsächlich bis 2020 komme, sei noch unsicher. »Das Ausbooten selber zu erhalten wird schwierig«, räumt er ein, »denn das regelt der Markt.«
Im Brückenbüro reden sich die Börte-Kapitäne und Helfer die Köpfe heiß. Karl-Heinz wettert gegen die Politiker. Bei Ostwind, sagt der 69Jährige, können die Schiffe im Südhafen gar nicht anlanden. »Mann, Mann, Mann.«
Da kommt plötzlich Bewegung in die Gruppe, ein Ausflugsdampfer ist in Sicht. Geschickt springen Lilo und die Männer in die Boote. Motoren starten und 125 PS bringen die schweren Boote in Fahrt. Es schaukelt mächtig, aber für die Männer scheint es Ehrensache zu sein, sich während der Fahrt nirgends festzuhalten, wie mit dem Schiffsboden verwachsen dazustehen, den Ausflugsdampfer fest im Blick. Und so soll es auch bleiben, meinen die Seemänner – und natürlich Lilo.