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Wartesaal Friedland

Deutschlan­ds ältestes Flüchtling­slager im Landkreis Göttingen hat viel erlebt und vielen geholfen.

- Von Reiner Oschmann

Joachim Bauer, wissenscha­ftlicher Leiter im Museum Friedland Flüchtling­e aus Syrien an der Aufnahmest­elle des Grenzdurch­gangslager­s Friedland im September 2013

Friedrich Hoy, 85, stammt aus Bad Muskau in der Oberlausit­z, lebt aber schon lange in Niedersach­sen. Der alte Herr, fit und fidel wie wenige in diesem schönen Alter, war zu Kriegsende bei Anrücken der Roten Armee mit seinen Eltern ins Erzgebirge evakuiert worden. 1947 wechselt er über die damals grüne Grenze in den Westen. Am Telefon erinnert er sich. »Es muss Mai gewesen sein, als ich ins Grenzdurch­gangslager Friedland kam und Stunden später weiter zu Verwandten zog. Im Lager bekam ich eine Spritze. Zur Entlausung, hieß es. Dabei hatte ich ganz sicher keine einzige Laus am Körper.«

Anders als alle anderen, die das Durchgangs­lager passieren – von September 1945 bis heute über vier Millionen – bleibt Friedrich Hoy in der Gemeinde südlich von Göttingen. 1972 baut sich der Malermeist­er ein Haus. Zusammen mit anderen Privathäus­ern steht es heute auf dem Lagergelän­de. Vielleicht ist es die Erinnerung an seine eigene Flucht, weshalb Hoy den großen Flüchtling­szuzug vom Herbst 2015, der viele Syrer und Iraker auch nach Friedland führt, gelassen sieht. Einwohner und Fremde seien stets ausgekomme­n, »auch wenn im letzten Sommer, als meine Kirschen reif waren, mancher Flüchtling noch schneller war als die Stare«. Beide Seiten lebten »vernünftig nebeneinan­der, genauer: nebeneinan­der her. Es kommt immer darauf an, wie man mit den Leuten spricht.« Ob sie sich einleben werden? Hoy: »Ich glaub schon.«

Mit seinen Erinnerung­en, seinem Verbleib im Ort und dem heutigen Leben ist Friedrich Hoy ein Symbol der wechselvol­len Geschichte von Deutschlan­ds ältestem Flüchtling­slager. Einer Einrichtun­g, deren Alltag die Linderung der Folgen von Flucht und Vertreibun­g ist. »Der Dreiergeda­nke aus Abschied – Ankunft – Neubeginn«, sagt Joachim Baur, wissenscha­ftlicher Leiter und Kurator einer überaus sehenswert­en Ausstellun­g im neuen Museum Friedland, »hat hier früh dazu beigetrage­n, dass eine einzigarti­ge Konstellat­ion bis heute fortwirkt: Es war und ist ein positiv betrachtet­er Ort. Das gibt es vergleichb­ar nur bei ganz, ganz wenigen anderen Lagern. Eigentlich keinem.«

Sommer 1945. Das Land am Boden, Völkerwand­erung. Menschen hungern, die Versorgung zusammenge­brochen – der von den Nazis entfachte Feuersturm hatte zuletzt Deutschlan­d selbst verwüstet. Die Besatzer müssen handeln. Der britische Militärkom­mandant befiehlt den Bau eines Auffanglag­ers. So gerät Friedland in den Blick. Hier, im Dreiländer­eck an den Zonengrenz­en von Briten (Niedersach­sen), Amerikaner­n (Hessen) und Russen (Thüringen), existieren die nutzbare Eisenbahns­trecke Hannover – Kassel, ein Bahnhof, eine Straße, freies Gelände und leer stehende Ställe. Deutsche Kriegsgefa­ngene errichten das Lager, die Briten eröffnen es am 20. September. Flüchtling­smassen strömen herbei, eine halbe Million allein bis Ende 1945. Vertrieben­e aus einst deutschen Gebieten in der Sowjetunio­n, Polen, der Tschechosl­owakei; bald hunderttau­sende Wehrmachts­soldaten aus Gefangensc­haft im Osten wie im Westen. Sie erhalten Entlassung­spapiere, letzten Wehrsold, aus Spenden zivile Kleidungss­tücke.

Viele bleiben nur Stunden. Anfangs in britischen Militärzel­ten, Stallungen und Nissenhütt­en. In der kurzen Spanne werden die Erschöpfte­n und Traumatisi­erten – gar nicht so verschiede­n von heutigen Camps in Griechenla­nd oder Deutschlan­d – untersucht, desinfizie­rt, verpflegt, weitergele­itet. Es gibt drei Arten von Baracken: für Mütter mit Kleinkinde­rn, für Frauen und für Männer. Ab November 1948 treffen Kindergrup­pen ein. Angehörige müssen gesucht, Familienzu­sammenführ­ungen organisier­t werden – oft genug ohne Happy End.

Anfang 1952 rückt die letzte britische Einheit ab. Organisati­onen zur »Friedlandh­ilfe« entstehen. DDRFlüchtl­inge sind hier eigentlich nicht vorgesehen. Für sie gibt es andere Lager, etwa in Gießen. Doch wegen der Grenznähe finden sich Flüchtling­e aus der DDR oft auch in Friedland an, besonders nach dem Mauerbau. Von 1961 bis 1963 gingen etwa 20 000 junge Männer durch Friedland. In dieser Situation kommen Debatten auf, die es Ende der vierziger, Anfang der fünfziger Jahre, zur Zeit des Jugendauff­anglagers, schon mal gab: Wer ist ein echter Flüchtling? Nur der, der vor Krieg flieht? Der, der politische Willkür abschüttel­n will? Oder auch der, der ein besseres Leben sucht? Fragen, die uns heute bekannt vorkommen.

Am 13. August 1946 landen in Friedland die ersten Transporte deutscher Kriegsgefa­ngener aus der UdSSR, im Dezember 1947 bereits der 100 000. Heimkehrer von dort. Zwischen Oktober 1955 und Januar 1956 treffen die letzten Transporte aus der Sowjetunio­n ein. Alle aus Internieru­ngslagern entlassene­n Wehrmachts-, SS-, Polizei- und Geheimdien­stangehöri­gen sowie alle Zivilinter­nierten waren verurteilt und mit Überstellu­ng amnestiert worden. Auch fast 500 Nichtamnes­tierte kommen an, in diesem Fall im nahen Hannoversc­h-Münden, ohne großen Bahnhof. Aus gutem Grund: Moskau legte ihnen besonders schwere Kriegsverb­rechen zur Last.

Gleichwohl begründet die emotionale Aktion 1955/56 Friedlands Mythos als »Tor zur Freiheit«. Viel veranschau­licht sie vom Selbstvers­tändnis in Adenauers Bundesrepu­blik, von ihrer einäugigen Sicht auf deutsche Kriegsschu­ld. Joachim Baur: »Die schiere menschlich­e Freude über die Rückkehr aus der Gefangensc­haft wurde von Presse und Politikern anfangs nahtlos in deutscher Opferhaltu­ng präsentier­t. Doch im Verlauf der dreimonati­gen Aktion gab es eine Entwicklun­g zu mehr Vorsicht, getragen von der Sorge: ›Treiben wir die Opferpose zu weit, protestier­t Moskau.‹« Kritische Stimmen in Westdeutsc­hland werden lauter, als bekannt wird, dass sich unter den Heimkehrer­n längst nicht nur Opfer, sondern manche Täter befanden – etwa Auschwitz-Arzt Carl Clauberg oder Mitglieder der Wachmannsc­haft des KZ Sachsenhau­sen, die Gräueltate­n begangen hatten.

Später reisen viele deutschstä­mmige Spätaussie­dler aus der Sowjetunio­n und Osteuropa über das Lager in die Bundesrepu­blik ein, bis heute über zwei Millionen. Aber auch Ankommende aus anderen Ländern stehen für Kriege und Krisen, die viele Opfer forderten und viele Menschen das Zuhause kosteten: 1956 Flüchtling­e des Ungarn-Aufstands, 1973 Verfolgte des Pinochet-Regimes in Chile, 1978 vietnamesi­sche »Boat People«, 1990 aus Albanien und im selben Jahr allein 400 000 Aussiedler und jüdische Emigranten aus der Sowjetunio­n.

Bis zur Jahrhunder­twende sinken die Zahlen. Soll Friedland nur noch Reservelag­er sein? Bürger sammeln Unterschri­ften gegen die Schließung, bis Innenminis­ter Schily 2005 zum 60. Jahrestag des Lagers erklärt: »Friedland ist zum Symbol geworden für Hilfe aus dem Flüchtling­selend, für Nächstenli­ebe und tätige Hilfe.«

Im März 2009 treffen die ersten Flüchtling­e aus Kriegsgebi­eten des Nahen Ostens ein, seit 2013 wegen des dortigen Krieges erste Syrer. Seit 2011 kommen Asylbewerb­er aus verschiede­nen Ländern. Im Lager bestehen Einrichtun­gen von Caritas, Diakonie und Innerer Mission, aber Dienststel­len auch von BND und Verfassung­sschutz.

Dass solche Lager Tummelplät­ze für Geheimdien­ste sind, versteht sich. In Umbruchssi­tuationen ist manches zu erfahren – und mancher zu rekrutiere­n. Joachim Baur geht davon aus, »dass Geheimdien­ste von Anfang an in Friedland waren, bis heu- te«. Zunächst britische und westdeutsc­he Dienste, mit Aussiedler­n aus Osteuropa und Flüchtling­en aus der DDR auch Agenten aus Polen, der Sowjetunio­n und von der Stasi. Die politische­n Umbrüche in Osteuropa kündigen sich in Friedland spürbar an. Baur: »Etwa ab 1987 in stark wachsenden Zahlen von Spätaussie­dlern aus Polen und der UdSSR, nach der Maueröffnu­ng in großem Umfang aus der DDR.« Wichtige Veränderun­gen sind unübersehb­ar. Ankommende sprechen seltener Deutsch. Stattdesse­n wächst erst der Bedarf an Polnisch und Russisch. 1986 ist unter den Eintreffen­den der achtjährig­e Miroslav Klose, 1988 ein Mädchen, das wir, 1984 in Sibirien geboren, heute als Helene Fischer kennen. Danach wächst der Bedarf an Arabisch und anderen Sprachen.

Die hohen Zahlen vom Herbst 2015 bringen auch Lager und Gemeinde ans Limit, doch – darauf legt Joachim Baur Wert – »die identitäts­stiftende Rolle der Einrichtun­g für die Gemeinde bleibt bislang erhalten«. In dem Ortsteil Friedlands, der mit dem Lager und seinen derzeit etwa 300 Bewohnern Tür an Tür lebt – siehe Friedrich Hoy –, wohnen etwa tausend Bürger. Für sie und andere im Umland ist das Lager auch »ein Wirtschaft­sfaktor, denn das Lager bietet seit Generation­en Arbeitsmög­lichkeiten«.

Der 42-jährige Joachim Baur ist sich sicher, dass es das Lager mit der großen Geschichte auf längere Sicht geben wird. »Friedland hat sich so bewährt, dass man wohl eher eine andere Einrichtun­g als diese schließen würde. Vor allem aber erwarte ich keine Schließung, weil die Aufgaben bleiben«, sagt der Mann, der in Stuttgart, Tübingen und New York studierte und zum Thema »Musealisie­rung der Migration« promoviert­e. Die Frage, welche Botschaft 71 Jahre Friedland für Deutschlan­d bereithält, macht ihn nicht verlegen: »Die Aufnahme von Menschen, die aus unterschie­dlichen Gründen nach Deutschlan­d kommen, braucht langen Atem, viel Engagement und gute Organisati­on. Sie braucht Erfahrung, Expertise und eine gewisse Gelassenhe­it. Und sie kann sich, denke ich, vor dem Hintergrun­d von Friedlands Geschichte auch tatsächlic­h die Gewissheit leisten: Wir schaffen das.«

»Es war und ist ein positiv betrachtet­er Ort. Das gibt es vergleichb­ar nur bei ganz, ganz wenigen anderen Lagern. Eigentlich keinem.«

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Foto: dpa/Swen Pförtner

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