Cool, witzig und faul
Sind Jungs Opfer eines weiblich geprägten Erziehungswesens? Diagnosen dieser Art helfen wenig. Soziale und ethnische Herkunft sind entscheidender als das Geschlecht.
Auch das könnte ein Grund für schlechte Schulleistungen von Jungen sein: Der Unterricht ist einfach zu langweilig.
Dritte Stunde in einer Grundschule: Die Kinder haben gerade die »große Pause« hinter sich. Dennoch herrscht große Unruhe, zu der vor allem die Jungen beitragen. Es hält sie nicht auf ihren Stühlen, sie toben durch den Klassenraum, raufen und schreien. Still wird es erst, als die Lehrerin die Rückgabe der Deutscharbeit ankündigt. Diese sei schlecht ausgefallen, sagt sie. Die männlichen »Störer«, die sie eben noch ermahnt hat, teilen sich die Fünfen und Sechsen.
Eine typische Geschichte, meint Frank Beuster, Lehrer in Hamburg und Autor eines Buches mit dem reißerischen Titel »Die Jungen-Katastrophe«. Der Pädagoge sieht eine große Ratlosigkeit gerade unter weiblichen Kolleginnen. Wenn Schüler sehr lebhaft sind und im Unterricht kaum zur Ruhe kommen, stecke oft Bewegungslust dahinter. Die aber sei im Schulalltag meist unerwünscht, für Prügeleien und Lärm gebe es »null Toleranz«. Das »pflegeleichte Mädchen« sei die Norm, glaubt Beuster. Er fordert eine »geschlechtsbezogene Pädagogik«, um den Interessen von Jungen besser gerecht zu werden.
Die Diskussion über die »neuen Bildungsverlierer« ist von Überzeichnungen geprägt. Bis zur Jahrtausendwende war das Thema nur in Fachkreisen präsent. Dann attestier- ten die PISA-Studien gerade männlichen Schülern aus Zuwandererfamilien gravierende Leseschwächen. Forciert durch Interventionen der Unternehmer, die sich um die Qualifikation ihres Nachwuchses sorgten, wurden die Medien aufmerksam. Vom »benachteiligten Geschlecht« (»Focus«), von »Emmas Opfern« (»Wirtschaftswoche«) oder gar der »gefährlichsten Spezies der Welt« (»Spiegel«) kündeten die Schlagzeilen.
Unbestritten ist: Männliche Schüler zeigen schlechtere Schulleistungen, gelten als renitent und wenig anpassungsbereit. Sie überwiegen unter den Verweigerern und Sitzenbleibern. Zwei Drittel der Schulabbrecher und drei Viertel der Förderschüler sind männlich. In den Hauptschulen stellen Jungen die deutliche Mehrheit, in den Gymnasien wurden sie zur Minderheit. Die Hälfte der 1992 geborenen Mädchen machte das Abitur, bei den Jungen waren es nur 41 Prozent.
Zum Selbstverständnis von Jungen gehöre es, »cool, witzig und faul zu sein, weshalb sie häufig dem widerständigen und sozial auffallenden Schülertypus entsprechen«, analysierte Michael Cremers 2012 in einer Expertise für das Bundesfamilienministerium. »Kein Streber sein«, so der Berliner Soziologe, verstehen Jungen als einen Teil von Männlichkeit, mit dem sie sich in ihrer Clique abgrenzen und von Frauen unterscheiden können.
In der »Basiskompetenz Lesen« beträgt der Vorsprung der Mädchen laut Pisa mehr als ein Lernjahr. Der Unterricht, moniert der Frankfurter Bildungsforscher Frank Damasch, orientiere sich »an weiblichen Formen des Lernens und Gestaltens«. Sein umstrittener, weil auf Rollenstereotypen aufbauender Vorschlag: Schüler und Schülerinnen sollten mit geschlechtspezifischen Lehrmaterialien arbeiten. Für das Fach Deutsch zum Beispiel regte er an, mehr Texte auszuwählen, die männliche Schüler nach seiner Beobachtung stark interessieren: Comics, Fantasygeschichten oder Abenteuerbücher. Die Rechtschreibekompetenz, so Damasch, hänge auch »vom sozialen Bezug der Wörter« ab: Wenn »männlich konnotierte« Begriffe wie Drachen, Benzintank oder Torwart auftauchen, machen Jungen ihm zufolge weniger Fehler in Diktaten.
In Baden-Württemberg unterstützte das Landesinstitut für Schulentwicklung das Projekt »Kicken und Lesen«, das die männliche Bewegungslust aufgriff. Nach ausgiebigem Toben und Ballspielen ließen sich selbst notorische Leseverweigerer zum gemeinsamen Vortragen eines Fußball-Romans überreden. Hinterher, so beobachteten die Experten, klatschten sich die Jungs stolz ab wie ihre sportlichen Vorbilder – darunter Schüler, die sonst »freiwillig nicht eine Zeile gelesen hätten«.
In der alarmistischen Debatte kommt oft zu kurz, dass nicht alle Jungen benachteiligt sind. Der männliche Nachwuchs aus Familien der Mittelschicht füllt wie eh und je die Leistungskurse in Mathe oder Physik. Die Erfolgschancen im Schulsystem hängen vorrangig vom Elternhaus und von der ethnischen Herkunft ab, erst als drittes Kriterium folgt das Geschlecht. Das Arbeitermädchen vom Land, das einst als Inbegriff der Bildungsverliererin galt, wurde längst vom städtischen Migrantenjungen abgelöst.
Die Stilisierung von Jungen zu Opfern einer »feminisierten Schule«, wie rückwärts gewandte Männerrechtler argumentieren, hilft wenig weiter. Die erfolgreichen Absolventen na- turwissenschaftlicher Leistungskurse werden später gut bezahlte Ingenieure, sie sind keine Verlierer. Anderen Jugendlichen dagegen droht in der Tat eine schwierige berufliche Zukunft. Früher konnten sie trotz schlechter Noten auf einen Ausbildungsplatz und die spätere Weiterbeschäftigung in einem männlich geprägten Arbeitsmarkt hoffen. Doch viele dieser Industriejobs sind längst verschwunden, unzureichend qualifizierte Männer die Hauptverlierer des Wandels zur Dienstleistungsökonomie.
Es ist wichtig, für bestimmte Teilgruppen auch die Nachteile männlicher Lebensverläufe wahrzunehmen. In vielen Praxisfeldern (und auch in der finanziellen Unterstützung durch die Europäische Union) überwiegt immer noch ein Denken, das Geschlechterfragen weitgehend mit Frauenpolitik gleichsetzt. Keinesfalls aber sollten dringend notwendige Förderprogramme für Jungen zu Lasten einer nach wie vor sinnvollen Mädchenförderung gehen.
Der männliche Nachwuchs aus Familien der Mittelschicht füllt wie eh und je die Leistungskurse in Mathe oder Physik.
Der Autor ist Verfasser von Männerbüchern, unter anderem »Die neuen Väter zwischen Kind und Karriere« und »Die Krise der Kerle«. Zum Thema schrieb er auch einen Beitrag in dem von Gabriele Cwik herausgegebenen Band »Jungen besser fördern. Lehrer-Bücherei Grundschule«.