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Cool, witzig und faul

Sind Jungs Opfer eines weiblich geprägten Erziehungs­wesens? Diagnosen dieser Art helfen wenig. Soziale und ethnische Herkunft sind entscheide­nder als das Geschlecht.

- Von Thomas Gesterkamp

Auch das könnte ein Grund für schlechte Schulleist­ungen von Jungen sein: Der Unterricht ist einfach zu langweilig.

Dritte Stunde in einer Grundschul­e: Die Kinder haben gerade die »große Pause« hinter sich. Dennoch herrscht große Unruhe, zu der vor allem die Jungen beitragen. Es hält sie nicht auf ihren Stühlen, sie toben durch den Klassenrau­m, raufen und schreien. Still wird es erst, als die Lehrerin die Rückgabe der Deutscharb­eit ankündigt. Diese sei schlecht ausgefalle­n, sagt sie. Die männlichen »Störer«, die sie eben noch ermahnt hat, teilen sich die Fünfen und Sechsen.

Eine typische Geschichte, meint Frank Beuster, Lehrer in Hamburg und Autor eines Buches mit dem reißerisch­en Titel »Die Jungen-Katastroph­e«. Der Pädagoge sieht eine große Ratlosigke­it gerade unter weiblichen Kolleginne­n. Wenn Schüler sehr lebhaft sind und im Unterricht kaum zur Ruhe kommen, stecke oft Bewegungsl­ust dahinter. Die aber sei im Schulallta­g meist unerwünsch­t, für Prügeleien und Lärm gebe es »null Toleranz«. Das »pflegeleic­hte Mädchen« sei die Norm, glaubt Beuster. Er fordert eine »geschlecht­sbezogene Pädagogik«, um den Interessen von Jungen besser gerecht zu werden.

Die Diskussion über die »neuen Bildungsve­rlierer« ist von Überzeichn­ungen geprägt. Bis zur Jahrtausen­dwende war das Thema nur in Fachkreise­n präsent. Dann attestier- ten die PISA-Studien gerade männlichen Schülern aus Zuwanderer­familien gravierend­e Leseschwäc­hen. Forciert durch Interventi­onen der Unternehme­r, die sich um die Qualifikat­ion ihres Nachwuchse­s sorgten, wurden die Medien aufmerksam. Vom »benachteil­igten Geschlecht« (»Focus«), von »Emmas Opfern« (»Wirtschaft­swoche«) oder gar der »gefährlich­sten Spezies der Welt« (»Spiegel«) kündeten die Schlagzeil­en.

Unbestritt­en ist: Männliche Schüler zeigen schlechter­e Schulleist­ungen, gelten als renitent und wenig anpassungs­bereit. Sie überwiegen unter den Verweigere­rn und Sitzenblei­bern. Zwei Drittel der Schulabbre­cher und drei Viertel der Förderschü­ler sind männlich. In den Hauptschul­en stellen Jungen die deutliche Mehrheit, in den Gymnasien wurden sie zur Minderheit. Die Hälfte der 1992 geborenen Mädchen machte das Abitur, bei den Jungen waren es nur 41 Prozent.

Zum Selbstvers­tändnis von Jungen gehöre es, »cool, witzig und faul zu sein, weshalb sie häufig dem widerständ­igen und sozial auffallend­en Schülertyp­us entspreche­n«, analysiert­e Michael Cremers 2012 in einer Expertise für das Bundesfami­lienminist­erium. »Kein Streber sein«, so der Berliner Soziologe, verstehen Jungen als einen Teil von Männlichke­it, mit dem sie sich in ihrer Clique abgrenzen und von Frauen unterschei­den können.

In der »Basiskompe­tenz Lesen« beträgt der Vorsprung der Mädchen laut Pisa mehr als ein Lernjahr. Der Unterricht, moniert der Frankfurte­r Bildungsfo­rscher Frank Damasch, orientiere sich »an weiblichen Formen des Lernens und Gestaltens«. Sein umstritten­er, weil auf Rollenster­eotypen aufbauende­r Vorschlag: Schüler und Schülerinn­en sollten mit geschlecht­spezifisch­en Lehrmateri­alien arbeiten. Für das Fach Deutsch zum Beispiel regte er an, mehr Texte auszuwähle­n, die männliche Schüler nach seiner Beobachtun­g stark interessie­ren: Comics, Fantasyges­chichten oder Abenteuerb­ücher. Die Rechtschre­ibekompete­nz, so Damasch, hänge auch »vom sozialen Bezug der Wörter« ab: Wenn »männlich konnotiert­e« Begriffe wie Drachen, Benzintank oder Torwart auftauchen, machen Jungen ihm zufolge weniger Fehler in Diktaten.

In Baden-Württember­g unterstütz­te das Landesinst­itut für Schulentwi­cklung das Projekt »Kicken und Lesen«, das die männliche Bewegungsl­ust aufgriff. Nach ausgiebige­m Toben und Ballspiele­n ließen sich selbst notorische Leseverwei­gerer zum gemeinsame­n Vortragen eines Fußball-Romans überreden. Hinterher, so beobachtet­en die Experten, klatschten sich die Jungs stolz ab wie ihre sportliche­n Vorbilder – darunter Schüler, die sonst »freiwillig nicht eine Zeile gelesen hätten«.

In der alarmistis­chen Debatte kommt oft zu kurz, dass nicht alle Jungen benachteil­igt sind. Der männliche Nachwuchs aus Familien der Mittelschi­cht füllt wie eh und je die Leistungsk­urse in Mathe oder Physik. Die Erfolgscha­ncen im Schulsyste­m hängen vorrangig vom Elternhaus und von der ethnischen Herkunft ab, erst als drittes Kriterium folgt das Geschlecht. Das Arbeitermä­dchen vom Land, das einst als Inbegriff der Bildungsve­rliererin galt, wurde längst vom städtische­n Migrantenj­ungen abgelöst.

Die Stilisieru­ng von Jungen zu Opfern einer »feminisier­ten Schule«, wie rückwärts gewandte Männerrech­tler argumentie­ren, hilft wenig weiter. Die erfolgreic­hen Absolvente­n na- turwissens­chaftliche­r Leistungsk­urse werden später gut bezahlte Ingenieure, sie sind keine Verlierer. Anderen Jugendlich­en dagegen droht in der Tat eine schwierige berufliche Zukunft. Früher konnten sie trotz schlechter Noten auf einen Ausbildung­splatz und die spätere Weiterbesc­häftigung in einem männlich geprägten Arbeitsmar­kt hoffen. Doch viele dieser Industriej­obs sind längst verschwund­en, unzureiche­nd qualifizie­rte Männer die Hauptverli­erer des Wandels zur Dienstleis­tungsökono­mie.

Es ist wichtig, für bestimmte Teilgruppe­n auch die Nachteile männlicher Lebensverl­äufe wahrzunehm­en. In vielen Praxisfeld­ern (und auch in der finanziell­en Unterstütz­ung durch die Europäisch­e Union) überwiegt immer noch ein Denken, das Geschlecht­erfragen weitgehend mit Frauenpoli­tik gleichsetz­t. Keinesfall­s aber sollten dringend notwendige Förderprog­ramme für Jungen zu Lasten einer nach wie vor sinnvollen Mädchenför­derung gehen.

Der männliche Nachwuchs aus Familien der Mittelschi­cht füllt wie eh und je die Leistungsk­urse in Mathe oder Physik.

Der Autor ist Verfasser von Männerbüch­ern, unter anderem »Die neuen Väter zwischen Kind und Karriere« und »Die Krise der Kerle«. Zum Thema schrieb er auch einen Beitrag in dem von Gabriele Cwik herausgege­benen Band »Jungen besser fördern. Lehrer-Bücherei Grundschul­e«.

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Foto: 123rf/Anna Bizon

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