Großer Unbekannter
Vor hundert Jahren wurde Wolfgang Hildesheimer geboren
Warum es sich lohnt, Wolfgang Hildesheimer zu lesen.
In seinen letzten Jahren wurde er immer radikaler. 1983 veröffentlichte er noch einmal ein Buch. Er machte kein Geheimnis daraus: Es war sein letztes. Er nannte es »Mitteilungen an Max über den Stand der Dinge und anderes«. Max war sein Schweizer Kollege Max Frisch, der damals siebzig wurde und dem er nun diesen langen Brief schrieb, eine Hommage, die als funkelndes Sprachspiel daherkam, als spöttische, böse Kalauersammlung und doch den bitteren Ernst hinter all den Späßen nicht verbarg. Wolfgang Hildesheimer nahm Abschied von der Literatur und den Katastrophen der Welt. »Das Trachten«, schrieb er, »habe ich übrigens inzwischen eingestellt, es kam nichts Rechtes dabei heraus.« Und am Schluss das Resümee: »Alle Probleme, Neurosen, Psychosen werden uns im Flug vergehen. Es wird uns alles vergehen, lieber Max, das Hören und das Sehen, als Erstes aber das Lachen.«
»Ich wäre gern ein anderer geworden«: Auch das stand in diesem Text, fast beiläufig geäußert, und nur wer mit der Lebensgeschichte des Schriftstellers einigermaßen vertraut war, wusste wohl, dass der Wunsch nicht bloß so dahingesagt war. Doch wer kannte oder kennt schon diese Geschichte? Hildesheimer, neben Böll, Grass oder Lenz einer der Großen der deutschen Nachkriegsliteratur, ein Dramatiker und Prosaist mit dem Spaß am Skurrilen, Schöpfer eigenwilliger Kunstwelten, in denen Anmut und Schrecken, Reales und Irreales, Auschwitz und die Eckkneipe von nebenan dicht beieinander liegen – dieser Wolfgang Hildesheimer, witziger Causeur und erbitterter Zeitkritiker, ist auch einer der Unbekanntesten geblieben, trotz Büchner-Preis, siebenbändiger Werkausgabe und rühmender Kritiken.
Populär jedenfalls ist er nie geworden, und es sind auch nur wenige, die heute, vom Suhrkamp-Verlag abgesehen, dafür sorgen, dass uns dieser leise, fabelhafte Autor nicht verloren geht. Volker Jehle ist der Unermüdlichste von ihnen. Er war mit Hildesheimer seit 1982 befreundet, hat lange das ihm anvertraute Archiv betreut, das er später an die Akademie der Künste nach Berlin weiterreichte, und zwei umfangreiche Bücher publiziert: eine Sammlung von Würdigungen und Kritiken sowie eine Werkgeschichte. Jetzt, zum hundertsten Geburtstag, kommen, von ihm herausgegeben und eingehend kommentiert, zwei gewichtige Bände dazu: die Briefe, die Hildesheimer zwischen 1937 und 1962 seinen Eltern schickte, eines der ergiebigsten, aufschlussreichsten Lebenszeugnisse überhaupt. Nirgendwo sonst kann man über den jungen Mann, der erst zwanzig war, als er auf einem Schiff zwischen Brandisi und Triest den ersten Brief schrieb, seine literarischen Anfänge mit satirischer Prosa, grotesken Dramen und Hörspielen so viel erfahren wie hier, in diesen 507 chronologisch geordneten Schreiben.
Dazu beschert uns das Jubiläum nun auch die erste Biografie, verfasst von Stephan Braese, Professor in Aachen und Experte für die jüdische Literatur- und Kulturgeschichte Europas, der für die gründliche, mit vielen unbekannten (oder schwer zugänglichen) Details gestützte Darstellung von Leben und Werk auch auf Quellen zurückgreifen konnte, die sonst nicht zugänglich sind. Zu den Vorzügen des Buches gehört, dass es Hildesheimers Arbeit als Autor, Maler und Zeichner immer vor dem Hintergrund der politischen und kulturellen Zustände der Bundesrepublik sieht. So dezidiert und detailliert, auch so gerecht (im Gegensatz zu manchen Kritikern, die an den Überzeugungen Hildesheimers Anstoß nahmen) ist sein Denken und Schreiben, seine Verzweiflung und Empörung über die Gefährdungen der Welt noch nicht behandelt worden.
Wolfgang Hildesheimer, am 9. Dezember 1916 in Hamburg geboren, Sohn eines angesehenen jüdischen Chemikers, war siebzehn, als die Familie vor den Nazis aus Deutschland floh, erst nach England, anschließend nach Jerusalem. Danach ständige Ortswechsel, die Odyssee des Verjagten: Cornwall, Frankreich, Schweiz, Tel Aviv, wieder London, wieder Cornwall, wieder Palästina. Zu Beginn eine Tischlerlehre, dann Arbeit als Zeichner, Bühnenbildner, Englischlehrer, 1946 bis 1948 als Simultandolmetscher bei den Nürnberger Prozessen, 1949 der Entschluss zur Rückkehr, zunächst ins beschauliche Ambach am Starnberger See. Die Eltern, die bis zuletzt in Israel lebten, erschrocken und zutiefst besorgt. Hildesheimer beruhigte sie. Es ginge ihm gut, schrieb er, er zeichne fleißig, habe wieder einige Collagen gemacht und stehe finanziell auf sicheren Füßen.
Er ist, wie Volker Jehle im Nachwort der Briefbände mitteilt, aus Rücksichtnahme auf die Eltern nicht immer ganz bei der Wahrheit geblieben. Er meldete alles: sein Befinden, die Unternehmungen, seine literarische Arbeit, die Erfolge und was er auf den Tagungen der Gruppe 47 erlebte. Er übertrieb gern ein bisschen. Dass er’s, im Rundfunk oder an den Theatern, mit Leuten zu tun bekam, die auf die eine oder andere Weise in die Hitler-Diktatur involviert waren, behielt er für sich. Aber natürlich blendete er, was in diesen Adenauer-Jahren passierte, nicht aus. Und kehrte der Bundesrepublik 1957 wieder den Rücken. Seitdem lebte er in Poschiavo, einem Ort in Graubünden.
An Hermann Kesten, 1933 vertrieben wie er, schrieb er im November 1962: »Mein Gott, bin ich froh, dass ich in diesem Mistland nicht mehr wohne.« Die Mörder von einst hatten dort wenig zu befürchten. Er sah es mit wachsender Sorge und zunehmendem Zorn. »Man lebt nicht schlecht von der Schuld«, hieß es schon im Spiel »Landschaft mit Figuren«, einem seiner frühen Bühnenstücke, die noch die Nähe zu Beckett und Ionesco verraten. Ende 1962 formulierte er »vier Hauptgründe, weshalb ich nicht in der Bundesrepublik lebe«. Der Antisemitismus stand an erster Stelle. Im »Nachtstück«, ebenfalls 1962 entstanden, zeigte er einen »Mann, der schlafen will«, aber ständig von grauenhaften Erinnerungen gequält wird, von »blutroten« Kardinälen, Generalswitwen, Wolfshunden. »Ich liege im Bett, meinem Winterbett«: So beginnt auch »Tynset«, das große, mit dem BüchnerPreis ausgezeichnete Buch von 1965, der Albtraum-Monolog eines namenlosen Erzählers, der keinen Schlaf findet, weil ihn immer wieder die Bilder des NS-Terrors martern.
Noch einmal, in »Masante« (1973), hat Hildesheimer einen Ich-Erzähler gewählt, der nicht vergessen kann und nur das Bedürfnis hat, »dem Entsetzlichen zu entfliehen«. Danach folgten, weil er sich nicht wiederholen wollte, zwei ganz anders geartete Bücher: »Mozart«, der mit skeptischer Leichtigkeit entworfene Riesenessay über das Genie und die Gesellschaft, und »Marbot«, die Geschichte einer erfundenen historischen Figur, die so penibel dokumentiert wurde, dass manche Leser glaubten, der englische Edelmann und Kunsthistoriker habe tatsächlich gelebt.
»Meine Welt ist erkannt und ausgebeutet«, heißt es in »Masante«. »Sie gibt keinen guten Satz mehr her. Den Punkt setzen, den Schlußstrich ziehen. Meine Zeit ist vorbei.« Da war der Abschied von der Literatur schon ins Auge gefasst. Zehn Jahre später war er Wirklichkeit. Hildesheimer gab das Erzählen auf und kehrte zu seiner bildkünstlerischen Arbeit zurück. Keine neue Geschichte mehr, 1984 nur noch eine Sammlung von Aufsätzen und Reden, überschrieben »Das Ende der Fiktionen« (mit einem Bekenntnis zum Judentum am Schluss), und das Bändchen »Klage und Anklage« mit Notaten des Autors, der erbittert sah, »wie die Erde immer feindlicher, der Mensch immer mehr verunsichert, das Leben immer härter und unberechenbarer wird«.
Längst galt Hildesheimer, den jede Meldung über die sterbende Umwelt zutiefst erschüttern konnte, vielen als Apokalyptiker, als »Prophet des Unheils«. Er wehrte sich: »Nein, ich bin kein Pessimist, eigentlich bin ich ein Realist.« Der Blick in die Zeitung gab ihm Recht. »Die Katastrophen unserer Tage«, schrieb er, »sind irreversibel«, die Schäden nicht mehr zu reparieren. »Der Mensch wird die Erde verlassen«: So stand es im April 1984 über dem Interview, das er der Illustrierten »Stern« gegeben hatte. Wieder kritisierte er das »Wachstum zum Tode«, die gnadenlose Zerstörung von Lebensräumen. Er war überzeugt, »daß der Kapitalismus abgeschafft werden muß«.
Es war so etwas wie ein letztes Wort. Am 21. August 1991 ist Hildesheimer, den die Schrecken des Jahrhunderts bis zuletzt verfolgten, an Herzversagen gestorben.
»Mein Gott, bin ich froh, dass ich in diesem Mistland nicht mehr wohne.« Hildesheimer an Hermann Kesten, November 1962
Wolfgang Hildesheimer: »Die sichtbare Wirklichkeit bedeutet mir nichts«. Die Briefe an die Eltern 1937 bis 1962, hg. von Volker Jehle, 2 Bde. im Schuber, Suhrkamp Verlag, 1557 S., geb., 78 €. Stephan Braese: Jenseits der Pässe: Wolfgang Hildesheimer, Wallstein Verlag, 588 S., geb., 44,90 €.