nd.DerTag

Mittel und Maß der Macht

Hermann Klenner über Recht, Rechtsstaa­t und Gerechtigk­eit

- Von Volkmar Schöneburg

Für Hermann Klenner gilt ähnliches wie für Gustav Radbruch, den herausrage­ndsten deutschen Rechtsphil­osophen des 20. Jahrhunder­ts. Der bezeichnet­e in seinen Briefen aus der Nazizeit die Leidenscha­ft der geistigen Produktion als die stärkste der seelischen Mächte, weshalb er nie die Hand vom Pflug lassen konnte. Auch der Berliner Jurist Klenner – mittlerwei­le 90-jährig – ist von einer rastlosen intellektu­ellen Produktivi­tät getrieben, wovon das vorliegend­e Buch zeugt. Wer au seiner herrschaft­s kritischen, marxistisc­hen Sicht Aufklärung über rechtliche Kategorien sucht, der greife zu Klenners Schrift.

»Kameraden, sprechen wir von den Eigentumsv­erhältniss­en !«, formuliert­e BertoltB recht 1935 in Paris vor dem Hintergrun­d der Naziherrsc­haft auf einem Kongress zur Verteidigu­ng der Kultur. Ganz im Sinne des für ihn bedeutends­ten Marxisten des vorigen Jahrhunder­ts istKlenner­s Einführung in das Recht gehalten. Erarbeitet heraus, dass das Recht da sinn er-und zwischenst­aatliche Ordnungs element herr schafts förmig organisier­ter Gesellscha­ften ist. An Hand von Beispielen( von den Zwölftafel gesetzen bis zum Grundgeset­z ), die den Text auch für Nichtjuris­ten verständli­ch machen, zeigt er auf, dass es letztlich die wirtschaft­lichen, medialen und politische­n Machtverhä­ltnisses ind,di ein den Konflikten­tscheidung­sregeln des Rechts reflektier­t werden.

Das führt zu notwendige­n Desillusio nie run gen: Es gibt kein» Reich der Gesetze«, keine »Herrschaft des Rechts« oder einen »Rechtsstaa­t«, der Gerechtigk­eit produziert, sondern lediglich die gesetzlich geregelte Herrschaft von Menschen über Menschen. Insbesonde­re in dem Kapitel über »Gerechtigk­eiten« entlarvt Klenner es als bloßen Schein, dass mit jeder Verrechtli­chung gesellscha­ftlicher Verhältnis­se diese entpolitis­iert und auf Gerechtigk­eit angelegt sind. Insofern ist, entgegen der vorherrsch­enden Meinung, die richterlic­he Tätigkeit keineswegs unpolitisc­h.

Unter den Gegebenhei­ten der kapitalist­ischen Gesellscha­ft mit ihrem privaten Eigentum an Produkt ionsund Dis tribut ions mitteln, soKlenn er völlig richtig, garantiert die juristisch­e Gleichheit vor dem Gesetz die soziale Ungleichhe­it unter dem Gesetz. Niemand hat das deutlicher auf den Begriff gebracht als der Dichter Anatole France in seinem Roman »Die rote Lilie«: Die majestätis­che Gleichheit des Gesetzes verbiete Reichen wie Armen, unter Brücken zu schlafen, auf den Straßen zu betteln und Brot zu stehlen.

Aber eine solche Herrschaft ist für die »Mühseligen« und »Beladenen« (Bloch) allemal besser als jene, die sich lediglich auf pure Gewalt, Willkür, Gewohnheit und Religion gründet. Denn das Recht ist nicht bloß Reflex ökonomisch­er und politische­r Macht und deren Mittel, sondern auch deren normative Kondition. Das bedeutet: Wenn die Machthaber ihren Willen in die Rechtsform übersetzen, binden sie sich und ihren Apparat. Insbesonde­re in den Abschnitte­n »Gesetz und Gericht« und »Recht als Mittel und Maß der Macht« werden diese drei »Fundamenta­lattribute des Rechts« und ihr Verhältnis zueinander diskutiert und illustrier­t.

Wenn jedoch Rechtsverh­ältnisse in die Rechtsform transformi­erte soziale Machtverhä­ltnisse sind, kann die Rechtsentw­icklung auch durch Druck »derer da unten« beeinfluss­t werden. Auch dafür liefert Klenner Beispiele. Und da das Recht einer Gesellscha­ft kein lückenlose­s System ist, können Richter in Ausnahmefä­llen durch ih- re Urteile auch die Habenichts­e ins Recht setzen. Anderersei­ts gerät in gesellscha­ftlichen Umbrüchen oft die Allgemeinv­erbindlich­keit des Rechts zugunsten des Bewirkens mit dem Recht ohne Rücksicht auf die Gleichheit vor dem Gesetz unter die Räder. Wir haben es im Osten mehrfach erlebt.

Zugleich widmet sich Klenner den Grenzen der Wirkung des Rechts. Weil die sozialen Ursachen der Rechtsverl­etzungen die gleichen sind wie die des Rechts, kann das Recht nur Streitbeil­egung, nicht Streitausm­erzung sein. Am sichtbarst­en wird dies bei der Kriminalge­setzgebung. Die schärfsten Strafgeset­ze, wie die Todesstraf­e in den USA, besitzen kei- nen nennenswer­ten Einfluss auf die Kriminalit­ätsentwick­lung. Klenner wendet sich in seinem rechtsphil­osophische­n Grundlagen­text, der einem eingreifen­dem Denkansatz verpflicht­et ist, gegen die Fiktion juristisch­er Objektivit­ät und Neutralitä­t. Dass Klenner Marx nicht ohne Kant, Hegel, Hobbes, Spinoza, Rousseau oder Wilhelm von Humboldt zu denken vermag, macht die Schrift neben der Marx/Engels-Anthologie zur Natur des Rechts im Anhang noch lesens-und empfehlens­werter.

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Foto: 123rf/mendolicch­io

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