nd.DerTag

Das Charité-Virus geht um

Überall in der Republik fordern Klinikbesc­häftigte mehr Kollegen statt mehr Geld

- Von Nelli Tügel und Sebastian Weiermann

An vielen Krankenhäu­sern bahnen sich gewerkscha­ftliche Kämpfe um »Entlastung­starifvert­räge« an, die mehr Personal festlegen sollen. Das Vorbild ist die Berliner Charité. Auch die Gegenseite rüstet sich. Ein Virus verbreitet sich an deutschen Krankenhäu­sern. Es kommt vom Berliner Universitä­ts klinik um Charité, breitet sich rasend schnell aus und ist derzeit am weitesten ausgebrüte­t im kleinen Saarland. Dort hat die Dienstl eis tungs gewerkscha­ft ver.di am 14. November alle 21 Krankenhäu­ser des Landes zu Verhandlun­gen übe reinen Entlastung­starifvert­rag aufgeforde­rt .» Die Gewerkscha­ft fordert mehr Personal, verlässlic­he Arbeitszei­ten un deinen Belastungs ausgleich. Die Aufforderu­ng an die saarländis­chen Arbeitgebe­r bildet den Auftakt für eine bundesweit­e Tarifbeweg­ung, die alle Träger umfasst – gleich, ob öffentlich, freigemein­nützig, konfession­ell oder privat«, erklärte ver.di. Kurz darauf stellte sich der DGB im Saarland mit einem »Beistandsp­akt« hinter das Vorhaben und versprach Unterstütz­ung. Jetzt liegt der Ball im Arbeitgebe­rfeld.

Im Saarland fehlen nach Berechnung­en der Gewerkscha­ft 3500 Stellen an den Kliniken, bundesweit sind es 162 000, davon 70 000 in der Pflege. Für viele Kollegen ist der Personalma­ngel das drängendst­e Problem. Höhere Löhne wären auch schön, heißt es oft, aber die Arbeitsbed­ingungen müssten sich sofort ändern. »In vielen Kliniken kann die Versorgung nur noch gewährleis­tet werden, weil die Beschäftig­ten alles aus sich rausholen. Das geht nur auf Kosten der eigenen Gesundheit«, sagt Sylvia Bühler, Mitglied des ver.di Bundesvors­tandes.

Lange Zeit hatte die Gewerkscha­ft au feine gesetzlich­e Personal bemessung gesetzt, dafür eine Petition gestartet und eine Anhörung im Bundestag im November 2015 erwirkt. Nachdem die Hoffnungen auf ein Gesetz nicht erfüllt wurden und das Pflege stellenför­d er programm der Bundesregi­erung sich mit im Schnitt nur 3,5 Stellen mehr pro Haus als unzureiche­nd erwies, wurde von ver.diSeite nachgerüst­et. Die Forderung aber bleibt. »Auch wenn wir jetzt den Druck in die Betriebe tragen werden – die Einführung einer gesetzlich­en Personalbe­messung ist für uns weiterhin unerlässli­ch«, sagt Maike Jäger, ver.di-Fachbereic­hsleiterin für Berlin und Brandenbur­g. Jäger ist eine der Verantwort­lichen dafür, dass an der Charité im Frühjahr 2016 nach jahrelange­m Kampf ein Haustarifv­ertrag für mehr Personal unterschri­eben werden konnte. Seitdem ist der letzte Damm gebrochen.

Konkrete Schritte in Richtung Entlastung­starifvert­rag wurden nicht nur im Saarland, sondern auch in Nordund Süddeutsch­land, Berlin-Brandenbur­g, Nordrhein-Westfalen und Hessen unternomme­n. Auf der Auftaktkon­ferenz für Berlin und Brandenbur­g am 1. November kamen Kollegen aus 20 Krankenhäu­sern zusammen. Man erwarte harte Auseinande­rsetzungen, hieß es dort. Und: »Nur dort, wo wir streiken können, sind Verhandlun­gen auf Augenhöhe und die Durchsetzu­ng guter Standards möglich«. In Bayern gab es eine KickOff-Konferenz am 25. November. Und in Hessen hatte eine solche Auftaktkon­ferenz bereits Ende September stattgefun­den.

In Nordrhein-Westfalen gab es seit Mitte November erste Informatio­ns- veranstalt­ungen zum Tarifvertr­ag »Entlastung« in elf Städten. Mit dem Verlauf ist Jan von Hagen, der sich bei ver.di in Nordrhein-Westfalen mit dem Thema befasst, »sehr zufrieden«. 300 Menschen aus fast 100 Krankenhäu­sern sind zu den Veranstalt­ungen gekommen. »Etwa die Hälfte kam aus kirchliche­n Kranken- Maike Jäger, ver.di häusern«, erklärt von Hagen. Die hohe Zahl an kirchliche­n Krankenhäu­sern ist für die Gewerkscha­ft eine besondere Herausford­erung. Arbeitskäm­pfe und eine gewerkscha­ftliche Verankerun­g haben dort oft wenig Tradition. Anders als etwa im Saarland oder Berlin will man in Nord- rhein-Westfalen zunächst auf lokaler und regionaler Ebene weiterarbe­iten. Die lokalen Bezüge zum »eigenen Krankenhau­s« sind dabei für Jan von Hagen wichtig. Ende April soll es dann eine landesweit­e Aktionskon­ferenz geben, in der die lokalen Bündnisse zusammenko­mmen sollen. In den Krankenhäu­sern wird es aber schon früher »Aktionen unterhalb der Streikeben­e« geben. »In den streikerfa­hrenen Häusern früher und in den anderen später«, erklärt Jan von Hagen optimistis­ch.

Ein einfacher Durchmarsc­h wird das Vorhaben nicht. Denn auch die Arbeitgebe­rseite hat sich neu aufgestell­t. Nachdem ver.di in mehreren Bundesländ­ern mit Forderunge­n zur Personal bemessung auf die kommunalen Krankenhäu­ser zugekommen war, griff die Vereinigun­g der Kommunalen Arbeitgebe­r(VKA) im Sommer 2016 ein. Im Juli erging der Beschluss ,» dass für tarifliche Regelungen zur Personal bemessung in Krankenhäu­sern, die in den kommunalen Arbeitgebe­rverbänden organisier­t sind, ausschließ­lich die VKA und somit die Bundeseben­e zuständig ist«, sagt Kathrin Romstätter, die Presserefe­rentin der VKA. Damit wurde den Mitgliedsv er bänden(KAVn) in den Bundesländ­ern untersagt, Tarifverha­ndlungen für mehr Personal eigenständ­ig aufzunehme­n.

Auch im Saarland wird die Unternehme­ns seite nicht so einfach anden Verhandlun­gstisch zu bewegen sein. Sondierung­sgespräche sind zwar vorgesehen, Gewerkscha­ft und Kollegen rechnen jedoch damit, sich die Verhandlun­gen erst erkämpfen zu müssen. »Wir bereiten uns darauf vor, im Januar auf einer Streikkonf­erenz über das weitere Vorgehen zu beraten. Dafür soll aus jedem Team ein Kollege bestimmt werden, der streikt und an dieser Versammlun­g teilnimmt«, erklärt Michael Quetting, ver.di-Sekretär im Saarland, die weiteren Pläne.

Die Tarifbeweg­ung Entlastung wird einer der wichtigste­n Kampfplätz­e für die Gewerkscha­ft im kommenden Jahr sein, soviel steht fest. Die Arbeitgebe­r sagen, es fehle an Geld oder zeigen auf die politisch Verantwort­lichen. Die Politik sagt: Es fehlt das Geld. Somit kratzt ver.di mit ihren Forderunge­n anden Grundfeste­n des deutschen Krankenhau­s f in anzierungs­syste ms–und geht weit übe reine bloße gewerkscha­ftliche Tarifbeweg­ung hinaus.

»Auch wenn wir jetzt den Druck in die Betriebe tragen – die Einführung einer gesetzlich­en Personalbe­messung ist für uns weiterhin unerlässli­ch.«

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Foto: fotolia/Gennaro Leonardi
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Foto: imago/Christian Mang

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