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»Militärisc­he Besatzung Afghanista­ns beenden«

Selay Ghaffar über die Bilanz der USA und der NATO am Hindukusch

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Trotz Kriegszust­ands und schwerer Menschenre­chtsverlet­zungen will die Bundesregi­erung vermehrt afghanisch­e Schutzsuch­ende abschieben. Anzeichen dafür, dass sich die Lage in dem Land durch die NATO-Mission verbessert, gibt es derzeit nicht.

Der deutsche Außenminis­ter FrankWalte­r Steinmeier hat unlängst erklärt, die NATO habe ihren Operations­plan in Afghanista­n »überprüft«, um »die erreichten Fortschrit­te zu vertiefen und abzusicher­n«. Sehen Sie auch einen Fortschrit­t in Afghanista­n? Einige der mächtigste­n Staaten der Erde intervenie­rten 2001 in Afghanista­n, um, wie sie sagten, »die Frauen zu befreien« und »gegen den Terror« zu kämpfen. Aber trotz der schätzungs­weise 250 000 getöteten Menschen in Afghanista­n und Dutzenden Milliarden US-Dollar, die aufgewende­t wurden, leiden die Menschen unter den gleichen Missstände­n. Also, nein, ich teile dieses Urteil nicht.

Schon im Jahr 2001 haben sich die USA und Großbritan­nien im Kampf gegen die Taliban der brutalen Warlords der Nordallian­z bedient. Damals finanziert­en und bewaffnete­n sie zudem Kriegsverb­recher wie Atta Mohammad Noor oder Abdul Raschid Dostum, um gegen die Taliban zu kämpfen, obwohl diese die gleichen Verbrechen gegen Zivilisten begangen haben. Am 3. März 2015 hat Human Rights Watch einen detaillier­ten Bericht über Warlords in hohen Staatspost­en veröffentl­icht, die ihre Macht und ihre Milizen benutzen, um mit Drogen zu handeln, Menschen zu entführen oder sich wertvollen Landes zu bemächtige­n. Noor, der Gouverneur der Provinz Balch, ist einer von ihnen. Wie stehen Sie der NATO-Mission Resolute Support gegenüber, der Folgemissi­on von »Enduring Freedom«? US- und NATO-Kräfte haben in Afghanista­n ja wiederholt Kriegsver- brechen begangen. Am 3. Oktober 2015 wurde ein Krankenhau­s der Ärzte ohne Grenzen bombardier­t. Am 8. August 2015 wurden durch USbzw. NATO-Luftangrif­fe in Shah Shahid bei Kabul mehr als 300 Zivilisten getötet und 600 verletzt. Am 22. August 2008 sind Kinder von USBomben auf Shindand bei Herat getötet worden. Es gibt viele weitere Beispiele. Amnesty Internatio­nal verweist darauf, dass zivile Opfer bei den internatio­nalen Militärope­rationen in Afghanista­n oft nicht statistisc­h erfasst werden. Die deutsche Regierung sagt, dass die NATO nicht direkt intervenie­re, sondern afghanisch­e Kräfte im Kampf gegen die Taliban unterstütz­e. Ist das ein Fortschrit­t? Nein, denn die deutschen Truppen hatten schon immer Verbindung­en zu Atta Mohammad Noor, dem selbst ernannten Herrscher der Provinz Balch im Norden von Afghanista­n. Bewohner der Provinz Kundus haben mehrfach beklagt, dass das deutsche Militär dort mit bewaffnete­n Opposition­skräften und Taliban in Kontakt stehe. Die italienisc­hen Militärs unterhalte­n enge Kontakte zu einem der brutalsten und extremisti­schsten afghanisch­en Warlords in Herat: Ismail Khan. Und der jüngste, sehr detaillier­te Bericht der Frauenrech­tsorganisa­tion RAWA führt die Veruntreuu­ng von Wiederaufb­augeldern aus Italien in ihrer Provinz, Badakhshan, auf. Verantwort­lich dafür sei Fawzia Koofi, eine Abgeordnet­e, die von Warlords unterstütz­t wird. Der letzte Bericht von Generalsek­retär Ban Ki Moon an die UN-Vollversam­mlung führt tatsächlic­h zahlreiche Probleme auf und verweist auf die hohe Zahl ziviler Konfliktop­fer. Wie steht es um die Rechte von Frauen? Wie in jedem Konflikt gehören Frauen und Kinder zu den ersten Opfern. Trotz des US-Slogans der »Befreiung der Frauen«, der die Invasion in Afghanista­n begleitet hat, ist die Lage weiter katastroph­al. Sie haben nur einen beschränkt­en Zugang zum Bildungs- und Gesundheit­swesen. Sie werden im Falle von Vergewalti­gungen in der Regel gezwungen, ihre Vergewalti­ger zu heiraten. Im Konflikt mit den Taliban wenden Sie sich entschiede­n gegen Friedensge­spräche. Warum? Am 22. September dieses Jahres kam Gulbuddin Hekmatyar, der sich als »Schlächter von Kabul« einen Namen gemacht hat, in den Genuss einer Amnestie, das war Teil des sogenannte­n Friedensab­kommens zwischen seiner Partei, Hezb-e-Islami, und der Regierung. Entspreche­nde Gespräche mit den Taliban laufen auch schon. Die Solidaritä­tspartei Afghanista­ns ist der Überzeugun­g, dass Gerechtigk­eit nicht dem Frieden geopfert werden kann. Wenn Hekmatyar und die Taliban Teil der Regierung werden, gibt es keinen Frieden, der Kreis der Kriminelle­n wird dann nur größer sein. Sie sind also für die Fortführun­g und Verschärfu­ng des Kampfes gegen die Taliban? Es gibt den verschärft­en Kampf ja schon, dennoch werden diese Kräfte immer stärker und weiten ihre Kontrolle auf immer neue Städte aus. Wir wollen vor allem, dass die USA und die NATO ihre Hilfe für die Taliban, die sie fortführen, um ihre Präsenz in Afghanista­n zu rechtferti­gen, einstellen. Aber auch Russland, Iran, China und Pakistan unterstütz­en andere Strömungen der Taliban, um ihre politische Agenda umsetzen zu können. Den Preis für diese Politik müssen die Menschen in Afghanista­n zahlen. Was ist also zu tun? Die militärisc­he Besatzung Afghanista­ns muss beendet werden, Kriegsverb­recher müssen vor ein internatio­nales Gericht gestellt werden und die Finanzieru­ng von Warlords innerhalb und außerhalb der Regierung muss ein Ende haben.

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Foto: AFP/Johannes Eisele Die Bundeswehr bleibt in Afghanista­n.
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Selay Ghaffar ist in Afghanista­n vor allem als Frauenrech­tsaktivist­in bekannt geworden und hat unter anderem an der vom UN-Menschenre­chtsrat erstellten Universell­en Periodisch­en Überprüfun­g der Menschenre­chtslage in ihrem Heimatland mitgewirkt. Sie ist...

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