Raus aus den Datenbanken
Hunderttausende in der Ostukraine werden von Kiew ihrer Rechtsfähigkeit beraubt
Mit Papier bist du ein Mensch, ohne eine Laus, lautet ein russisches Sprichwort. Tausende Menschen sind bereits »Läuse«, Zigtausende könnten es in Kürze werden: Die Bewohner der Ostukraine. Anfang 2015 – ein halbes Jahr nach der Quasiabspaltung der »Volksrepubliken« Donezk und Lugansk, sperrte die Zentralregierung in Kiew den Behörden in beiden Regionen den Zugriff auf sämtliche ukrainische elektronische Datenbanken. Das hatte verheerende Folgen. Die Einwohner – gut viereinhalb Millionen und nach wie vor Bürger der Ukraine – sind seither rechtsunfähig.
Zwar stellen die Standesämter in der umkämpften Regionen der Ostukraine weiter Trau- und Totenscheine oder Geburtsurkunden aus. Sie werden aber nicht mehr in den zentralen Datenbanken erfasst und haben daher in den von Kiew kontrollierten Gebieten der Ukraine keine Gültigkeit. Das gilt auch für Testamente, Einträge in das Grundbuch oder das Firmenregister sowie für Kaufverträge; auch dann, wenn sie von Notaren in den »Volksrepubliken« beglaubigt wurden. Denn deren Lizenzen sind seit der Abspaltung ebenfalls ungültig.
Vor allem aber: Bürger, deren Personaldokumente abgelaufen sind, haben faktisch kaum Chancen, sich neue ausstellen zu lassen. Ohne gültigen Ausweis können sie in den von Kiew kontrollierten Gebieten nicht einmal eine Busticket oder eine Bahnfahrkarte lösen, um in der nächsten Kreisstadt einen ukrainischen Inlandspass zu beantragen. Ukrainische Behörden haben Order, einschlägige Anträge von Angestellten im öffentlichen Dienst – in den »Volksrepubliken« oft der einzige Ar- beitgeber – nicht zu bearbeiten. Und selbst, wenn es die Weisung nicht gäbe: Die Bearbeitungsgebühren sind horrend. Um einen abgelaufenen Inlandspass – er entspricht dem deutschen Personalausweis - mit neuem Foto zu verlängern, erzählt Artjom, ein russischer Journalist, der häufig in den Separatistenregionen als Korrespondent unterwegs ist, müssen Antragsteller den Gegenwert einer Monatsrente hinblättern: umgerechnet 35 Euro. Für die Ausstellung eines neuen Inlandspasses werden 10 000 Rubel (etwa 154 Euro) fällig. »Das sind vier Renten in den Volksrepubliken«, sagt Artjom, »oder zwei sehr, sehr gute Monatsgehälter.«
Wer nach 2015 sechzehn wurde, hat daher meist überhaupt keinen Ausweis. 32 000 Jugendliche, weiß Artjom, seien es allein in der »Volksrepublik« Donezk. Diese stellt daher inzwischen eigene Ausweise aus. Von der Ukraine werden die zwar nicht anerkannt, wohl aber von Russland. Ihre Besitzer genießen Freizügigkeit der Bewegung innerhalb der gesamten Russischen Föderation. Mit den Notpässen können sie problemlos sogar Abchasien und Südossetien besuchen. Beide Regionen spalteten sich nach Ende der Sowjetunion 1991 von Georgien ab. Moskau erkannte sie nach dem Krieg im Südkaukasus im August 2008 formell zwar als unabhängig an. De facto sind sie seither russisches Protektorat. Gegen Vorlage eines Ausweises der Donezker Volksrepublik, so die Zeitung »Moskowski Komsomolez«, würden russische Behörden auch Aufenthalts- und Arbeitsgenehmigungen ausstellen. Er genüge auch für die Immatrikulation. Elf russische Hochschulen halten ein kostenfreies Kontingent für Studenten aus den »Volksrepubliken« vor.
Ursprünglich, so Denis Denissow vom Institut für GUS-Studien, das zu Entwicklungen im postsowjetischen Raum forscht, habe Moskau den Bewohnern der Separatistenregionen in der Ostukraine sogar russische Inlandspässe ausstellen wollen. Das wäre jedoch ein klarer Verstoß gegen die Minsker Protokolle gewesen, mit deren Unterzeichnung Russland die territoriale Integrität der Ukraine anerkennt. Die Ausstellung von Personaldokumenten gehört zu den wichtigsten Souveränitätsrechten eines Staates.