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Christoph Lammers erklärt, warum christliche Fundamentalisten so viel Zulauf erfahren
Herr Lammers, Sie beschäftigen sich seit vielen Jahren mit christlichen Fundamentalisten in Deutschland. Wie lässt sich das Weltbild dieser Menschen zusammenfassen? Christliche Fundamentalisten haben eine vormoderne Weltanschauung. Das heißt, sie sind gegen das Recht auf individuelle Selbstbestimmung, etwa in Fragen des Geschlechts und der Sexualität. Das Besondere dabei: Sie verstehen es meisterhaft, moderne Kommunikationsmittel wie Facebook und Twitter zu nutzen, um darüber ihr Weltbild zu verbreiten. Sie verbinden sozusagen die Moderne mit der Anti-Moderne. Wie verbreitet ist christlicher Fundamentalismus momentan in Deutschland? Man geht von etwa 1,3 Millionen Evangelikalen aus, die sich zur Hälfte in den evangelischen Landeskirchen, zur anderen Hälfte in Freikirchen tummeln. Hinzu kommen reaktionäre Katholiken, die sich in Netzwerken wie »Deutschland pro Papa« organisieren. Zwar ist diese Zahl nicht vergleichbar mit anderen Ländern und Regionen wie Lateinamerika oder Asien. Doch auch hierzulande ist die Anzahl derer, die ein christlich-fundamentalistisches Weltbild vertreten, in den letzten Jahren gestiegen. Woran liegt das? Viele sind enttäuscht von den großen Kirchen, insbesondere von der evangelischen Kirche. Denn diese hat ihr wichtigstes Merkmal, Halt und Orientierung zu geben, nach und nach aufgegeben. Stattdessen hat sie sich mehr und mehr dem Zeitgeist geöffnet. Über den freien Willen und die Evolutionstheorie zum Beispiel denkt die evangelische Kirche heute ganz anders als vor 50 Jahren. Deshalb wenden sich viele Menschen von ihr ab – und den Evangelikalen zu. Wie reagiert die evangelische Kirche auf die Abwanderung? Man gibt sich betont zurückhaltend, was letztlich dazu führt, dass die Evangelikalen immer stärker akzeptiert werden. Die katholische Kirche geht sogar noch weiter. Es gibt Bischöfe, die reaktionären Aufmärschen wie dem »Marsch für das Leben«, der von christlichen Fundamentalisten organisiert wird, öffentlich ihren Segen geben. Das stimmt, und ist auch kein Wunder. Denn Papst Franziskus mag noch so progressiv in gesellschaftlichen Fragen sein – in Bezug auf Geschlecht und Sexualität vertritt er eine klar konservative Weltanschauung. Welche gesellschaftlichen Ursachen sehen Sie in der Zunahme fundamentalistischer Weltbilder? Zum einen geht die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinander. Das verleitet viele Menschen dazu, nach einfachen Antworten auf komplizierte Fragen zu su- chen. Zum anderen beklagen diese Menschen, dass in der modernen, individualistischen Gesellschaft der Gemeinschaftssinn verloren geht. In den USA haben unter anderem christliche Fundamentalisten Donald Trump zum US-Präsidenten gewählt. Werden reaktionäre Christen auch der AfD in Deutschland zum Wahlerfolg verhelfen? Da bin ich mir noch nicht so sicher. Natürlich gibt es auch von Seiten vieler Christen die Kritik an Angela Merkel, sie hätte den rechten Flügel der CDU aufgegeben und sich immer weiter der Mitte zugewendet. Doch ob die AfD diese enttäuschten CDU- Max Zeising Wähler auffangen kann, bleibt abzuwarten. Es gab in jüngerer Vergangenheit schon mehrere Versuche, christliche Parteien rechts der Union zu etablieren, wie die Partei Bibeltreuer Christen und die AUFPartei. Diese Versuche sind jedoch gescheitert – was natürlich nicht bedeutet, dass christlicher Fundamentalismus damit an Kraft verliert. Was müssen Politik und Gesellschaft tun, um dem Auftrieb dieser Kräfte entgegenzuwirken? Sie müssen die Aufklärung verteidigen, insbesondere das Recht auf Selbstbestimmung. Sie müssen klare Grenzen setzen. Insbesondere plädiere ich dafür, dass Religionsunterricht nicht mehr Aufgabe des Staates, sondern der Religionsgemeinschaften sein sollte. Stattdessen sollte die Vermittlung von Wissenschaft und Philosophie gestärkt werden.