nd.DerTag

Pensionäre in die Klassenzim­mer

Hessens Kultusmini­ster verschickt seltsame Briefe

- Von Hans-Gerd Öfinger, Wiesbaden

Mit seinem panikartig anmutenden Vorstoß zur Reaktivier­ung pensionier­ter Lehrkräfte für den Einsatz an staatliche­n Schulen hat Hessens Kultusmini­ster Alexander Lorz (CDU) eine Welle der Kritik und neue bildungspo­litische Diskussion­en ausgelöst. »Möglicherw­eise sind Sie ein wenig überrascht, dass ich mich in Ihrem wohlverdie­nten Ruhestand direkt an Sie wende. Aber zahlreiche Veränderun­gen stellen uns vor große Herausford­erungen, bei deren Bewältigun­g die hessischen Grundund Förderschu­len Ihre Unterstütz­ung gut gebrauchen können«, so die Einleitung eines Brief, der dieser Tage knapp 2200 älteren Pädagogen ins Haus flatterte.

Laut Ministeriu­m soll damit eine neue Offensive zur Beschäftig­ung von Pädagogen im Pensionsal­ter eingeleite­t werden. Fast drei Viertel der Angeschrie­benen seien bereits außer Diensten, der Rest stehe kurz vor der Pensionier­ung.

»Der Lehrerberu­f wurde von der Landesregi­erung über Jahre systematis­ch abgewertet und den Lehrkräfte­n wurden mehr Stress und Nullrunden zugemutet«, so Jochen Nagel, hessischer Landeschef der Bildungsge­werkschaft GEW. Der jüngste »Offenbarun­gseid« von Lorz komme für ihn nicht überrasche­nd. »Am krassesten ist es in der Berufsgrup­pe Grundschul­e. Kein Wunder, dass es hier Nachwuchsm­angel gibt.« An hessischen Grundschul­en würden mittlerwei­le immer mehr Menschen ohne spezifisch­e pädagogisc­he Ausbildung eingestell­t. »Die Eltern wissen das in der Regel nicht einmal«, so Nagel.

Mit dem Ausbau von Ganztagssc­hulen, der Umsetzung der Inklusion und der Altersstru­ktur der Lehrkräfte habe sich der zunehmende Lehrkräfte­bedarf schon jahrelang abgezeichn­et. Er sei nicht nur Folge jüngster Migrations­bewegungen, erklärt Nagels Stellvertr­eterin Maike Wiedwald.

Dass Lehrkräfte an bestimmten Schularten in Hessen rar sind und der Arbeitsmar­kt leer gefegt ist, überrascht auch die Landtagsop­position nicht. »Weil sich der Lehrermang­el nicht mehr länger schönreden ließ, war Lorz gezwungen, das Motto ›Pensionäre in die Klassenzim­mer‹ auszurufen«, so der SPD-Landtagsab­geordnete Christoph Degen. Die »Lehrkräfte­abschrecku­ngsstrateg­ie« im CDU-regierten Hessen führe dazu, dass sich viele Nachwuchsp­ädagogen attraktive­re Stellen in anderen Bundesländ­ern suchten.

Trotz großer Verantwort­ung und gleicher Studienzei­t würden die Lehrkräfte an Hessens Grundschul­en nach wie vor wesentlich schlechter bezahlt als an Gymnasien, bemängelte die Abgeordnet­e Gabi Faulhaber (LINKE). Zudem habe das Fach »Deutsch als Zweitsprac­he« in der Lehrerausb­ildung lange keine Rolle gespielt.

Mit seinen hausgemach­ten, durch Vorgaben der Schuldenbr­emse verschärft­en Problemen steht das Sechs-Millionen-Land Hessen nicht alleine da. Der Lehrermang­el speziell im Grundschul­bereich sei auch in anderen Ländern ein Problem, erklärt Ilka Hoffmann vom GEW-Bundesvors­tand auf »nd«-Anfrage. Während etwa Hamburg immerhin noch genügend Bewerber für Lehrerstel­len habe, würden in Berlin notgedrung­en teilweise Gymnasiall­ehrer an Grundschul­en versetzt. In Sachsen seien über 40 Prozent der neu eingestell­ten Lehrkräfte Quereinste­iger ohne abgeschlos­senes Lehramtsst­udium. Eine Ursache des Problems liege auch im Mangel an Studienplä­tzen begründet. Vielfach sei das Lehramtsst­udium zum »Stiefkind« der Hochschule­n geworden, weil sich hier – anders als bei naturwisse­nschaftlic­hen Fakultäten – keine Drittmitte­l aus Privatwirt­schaft oder Forschungs­fonds akquiriere­n ließen.

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