Pensionäre in die Klassenzimmer
Hessens Kultusminister verschickt seltsame Briefe
Mit seinem panikartig anmutenden Vorstoß zur Reaktivierung pensionierter Lehrkräfte für den Einsatz an staatlichen Schulen hat Hessens Kultusminister Alexander Lorz (CDU) eine Welle der Kritik und neue bildungspolitische Diskussionen ausgelöst. »Möglicherweise sind Sie ein wenig überrascht, dass ich mich in Ihrem wohlverdienten Ruhestand direkt an Sie wende. Aber zahlreiche Veränderungen stellen uns vor große Herausforderungen, bei deren Bewältigung die hessischen Grundund Förderschulen Ihre Unterstützung gut gebrauchen können«, so die Einleitung eines Brief, der dieser Tage knapp 2200 älteren Pädagogen ins Haus flatterte.
Laut Ministerium soll damit eine neue Offensive zur Beschäftigung von Pädagogen im Pensionsalter eingeleitet werden. Fast drei Viertel der Angeschriebenen seien bereits außer Diensten, der Rest stehe kurz vor der Pensionierung.
»Der Lehrerberuf wurde von der Landesregierung über Jahre systematisch abgewertet und den Lehrkräften wurden mehr Stress und Nullrunden zugemutet«, so Jochen Nagel, hessischer Landeschef der Bildungsgewerkschaft GEW. Der jüngste »Offenbarungseid« von Lorz komme für ihn nicht überraschend. »Am krassesten ist es in der Berufsgruppe Grundschule. Kein Wunder, dass es hier Nachwuchsmangel gibt.« An hessischen Grundschulen würden mittlerweile immer mehr Menschen ohne spezifische pädagogische Ausbildung eingestellt. »Die Eltern wissen das in der Regel nicht einmal«, so Nagel.
Mit dem Ausbau von Ganztagsschulen, der Umsetzung der Inklusion und der Altersstruktur der Lehrkräfte habe sich der zunehmende Lehrkräftebedarf schon jahrelang abgezeichnet. Er sei nicht nur Folge jüngster Migrationsbewegungen, erklärt Nagels Stellvertreterin Maike Wiedwald.
Dass Lehrkräfte an bestimmten Schularten in Hessen rar sind und der Arbeitsmarkt leer gefegt ist, überrascht auch die Landtagsopposition nicht. »Weil sich der Lehrermangel nicht mehr länger schönreden ließ, war Lorz gezwungen, das Motto ›Pensionäre in die Klassenzimmer‹ auszurufen«, so der SPD-Landtagsabgeordnete Christoph Degen. Die »Lehrkräfteabschreckungsstrategie« im CDU-regierten Hessen führe dazu, dass sich viele Nachwuchspädagogen attraktivere Stellen in anderen Bundesländern suchten.
Trotz großer Verantwortung und gleicher Studienzeit würden die Lehrkräfte an Hessens Grundschulen nach wie vor wesentlich schlechter bezahlt als an Gymnasien, bemängelte die Abgeordnete Gabi Faulhaber (LINKE). Zudem habe das Fach »Deutsch als Zweitsprache« in der Lehrerausbildung lange keine Rolle gespielt.
Mit seinen hausgemachten, durch Vorgaben der Schuldenbremse verschärften Problemen steht das Sechs-Millionen-Land Hessen nicht alleine da. Der Lehrermangel speziell im Grundschulbereich sei auch in anderen Ländern ein Problem, erklärt Ilka Hoffmann vom GEW-Bundesvorstand auf »nd«-Anfrage. Während etwa Hamburg immerhin noch genügend Bewerber für Lehrerstellen habe, würden in Berlin notgedrungen teilweise Gymnasiallehrer an Grundschulen versetzt. In Sachsen seien über 40 Prozent der neu eingestellten Lehrkräfte Quereinsteiger ohne abgeschlossenes Lehramtsstudium. Eine Ursache des Problems liege auch im Mangel an Studienplätzen begründet. Vielfach sei das Lehramtsstudium zum »Stiefkind« der Hochschulen geworden, weil sich hier – anders als bei naturwissenschaftlichen Fakultäten – keine Drittmittel aus Privatwirtschaft oder Forschungsfonds akquirieren ließen.