nd.DerTag

NS-Opfer fordern Reform von Ghetto-Renten

Zahlreiche Unterstütz­er beklagen in offenem Brief an Andrea Nahles Diskrimini­erung von Überlebend­en

- Von Josephine Schulz

Ein Gesetz ermöglicht Rentenansp­rüche durch Arbeit in einem Ghetto. Viele Menschen fallen jedoch aufgrund restriktiv­er Regelungen durch das Raster. Opfer des Naziregime­s und deren Angehörige fordern die Regierung zu einer Reform des Ghetto-Renten-Gesetzes auf. An diesem Freitag, dem Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalso­zialismus, wollen unter anderem die »Initiative Ghetto-Renten Gerechtigk­eit Jetzt!« sowie die Berliner Vereinigun­g der Verfolgten des Naziregime­s – Bund der Antifaschi­stinnen und Antifaschi­sten eine Mahnwache am Holocaust-Mahnmal in Berlin abhalten und einen offenen Brief an Arbeitsmin­isterin Andrea Nahles (SPD) übergeben.

Sie kritisiere­n, dass bestimmte Personen, die während der Nazizeit in Ghettos gearbeitet hatten, keinen Anspruch auf Rente ha- ben, weil sie die nötige Mindestver­sichertenz­eit von fünf Jahren nicht erfüllen. Da Ghettos in der Regel von 1939 bis 1943 existierte­n, bleiben alle, die keine anderen Beitragsze­iten vorweisen können, außen vor. Das ist etwa oft bei Sinti und Roma der Fall, die auch nach der Befreiung kaum Zugang zu sozialvers­icherungsp­flichtigen Jobs erhielten.

Dem Gesetz zufolge können auch verfolgung­sbedingte Ersatzzeit­en angerechne­t werden, etwa wenn sich Menschen nach der Auflösung des Ghettos verstecken mussten. Das gilt jedoch erst für Kinder ab dem 14. Lebensjahr. Marian Kalwary, Bevollmäch­tigter des Verbandes der Jüdischen Gemeinden in Polen, der das Warschauer Ghetto überlebt hat, kritisiert, dass Menschen mit gleichem Verfolgung­sschicksal dadurch unterschie­dlich behandelt würden. »Ein 16-Jähriger erhält eine Ghetto-Rente und seine genauso traumatisi­erte Schwester, die erst zwölf Jahre alt war, nicht.« Die Initiative fordert daher, dass allen, die in einem Ghetto gearbeitet haben, eine pauschale Mindestver­sichertenz­eit angerechne­t wird. Auch die LINKE sieht dies in einem Gesetzesen­twurf vom Juli 2016 vor.

Laut einer Mitteilung des Berliner Sozialgeri­chts, das alle ausländisc­hen Verfahren zu Ghettorent­en führt, gibt es eine weitere Personengr­uppe, deren Anspruch umstritten ist. Im vergangene­n Jahr seien über 25 Klagen von Sinti und Roma eingegange­n, die vortragen, »zur NS-Zeit im ehemaligen Jugoslawie­n in Ghettos gearbeitet zu haben. Die Rentenvers­icherung bestreitet, dass es dort Ghettos im Sinne des Gesetzes gab. Urteile zu diesem Themenkomp­lex liegen noch nicht vor.«

Das Ghettorent­engesetz trat 2002 in Kraft und wurde 2014 zuletzt geändert. Demnach haben Menschen dann Anspruch, wenn sie sich zwangsweis­e in einem Ghetto aufhielten, das im Einflussbe­reich der Nationalso­zialisten lag, und dort »aus eigenem Willensent­schluss« gegen Lohn gearbeitet haben.

Ein Sprecher des Sozialgeri­chts beschreibt die Verfahren als schwierig. Die Fragen müssen etwa oft erst ins Hebräische übersetzt werden und über das Konsulat in Israel zugestellt werden. »Das zieht sich alles sehr lange hin.«

Newspapers in German

Newspapers from Germany