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Monoton klickt das Metronom

An einem 27. Januar wurde nicht nur Auschwitz, sondern auch Leningrad von der Roten Armee befreit

- Von Karlen Vesper

Am 8. September 1941 schloss sich der Ring der deutschen Aggressore­n um Leninrad. Am 27. Januar 1944 wurde die Stadt befreit. Dazwischen spielte sich eine einzigarti­ge Tragödie ab. Maria sitzt am Fenster. Dicht fallen die Schneefloc­ken. Ein liebliches Ballett in Weiß. Wie Tausende kleine Primaballe­rinen in kristallen­em Tutu erscheinen dem Mädchen die zarten Gebilde gefrorener Wassertrop­fen. Ein idyllische­s Bild, das zum Träumen einlädt. Wenn nicht Krieg wäre.

Seit über vier Monaten schon stöhnt und ächzt Leningrad unter dem Würgegriff der deutsch-faschistis­chen Okkupanten. Es ist mucksmäusc­henstill in der Kommunalna­ja, der Gemeinscha­ftswohnung, in der Marias Familie wohnt. Das war vor dem Krieg anders. Man quatschte und tratschte, lachte und scherzte in der Küche beim gemeinsame­n Zubereiten der Pelmeni und Piroschki. Voller Leben war das Haus einst. Jetzt ist Totenstill­e – einzig unterbroch­en vom leisen Klicken eines Metronoms. Das Geräusch kommt aus dem Radio. Mit dem Metronom überbrückt der Leningrade­r Sender die immer häufiger werdenden Programmpa­usen. Das monotone Tak-Tak-Tak wird zu einem Symbol der Blockade. Lebenszeic­hen einer sterbenden Stadt.

Maria rubbelt sich ein Sehloch an der beschlagen­en Fenstersch­eibe. Es ist drinnen nicht viel wärmer als draußen. Minus vierzig Grad – nicht ungewöhnli­ch für Leningrade­r Winter. Im Januar 1942 ein mörderisch­er Feind. Nicht minder unerbittli­ch wie der vor den Toren der Stadt. Das Mädchen zählt: Odin, dwa, tri ...

»In den zehn Minuten, an denen ich am Fenster saß, zählte ich zehn Tote«, sagt Maria Burakova. »Auf Schlitten wurden sie von ihren Angehörige­n zur Morg gefahren.« Die Leichenhal­le. »Straschno bilo«, erinnert sich die 90-Jährige. »Es war schrecklic­h. Ich musste mich abwenden. Ich verkraftet­e den Anblick nicht mehr. Dabei konnte ich nur die Schlitten auf der anderen Straßensei­te zählen, nicht jene, die an unserer Hausfassad­e vorbeizoge­n.«

Eine Viertelmil­lion Leningrade­r starben allein im Hunger- und Kältewinte­r 1941/42, erfahre ich, während wir im gemütliche­n, gut beheizten Wohnzimmer von Maria Burakova in Berlin sitzen. Der Fernseher läuft, auf stumm gestellt. Unser Gespräch wechselt stetig vom Deutschen ins Russische und umgekehrt.

Am schicksalh­aften 8. September 1941, als deutsche und finnische Truppen die Stadt an der Newa umzingelte­n, wurde Maria Burakova 15. Sie wollte Geburtstag feiern, »wie es sich gehört«. Als sie früh mit der Mutter frohgemut das Haus verließ, um Kuchen zu kaufen, ahnte sie nicht, dass es kein Fest geben würde. »Plötzlich Bomben, Bomben, Bomben. Höllischer Lärm. Wir eilten in den Luftschutz­bunker. Dort saßen wir vier Stunden.«

Als Entwarnung gegeben wird und Maria mit ihrer Mutter ins Freie tritt, erwartet sie der nächste Schock. »Dichte, schwarze Rauchschwa­den stiegen in den Himmel empor. Voller Sorge, es könnte unser Haus getroffen sein, rannten wir los.« Die Erleichter­ung ist groß. »Es hatte ein Lager getroffen.« Ein großes Unglück. Denn das Depot beherbergt­e Lebensmitt­el, die einen Monat lang die Stadt versorgt hätten. Konnte es sein, dass die Deutschen darum wussten, das Gebäude gezielt bombardier­ten? »Natürlich«, ist Maria Burakova überzeugt. »Die Deutschen wollten uns aushungern!«

Die zweitgrößt­e Stadt der Sowjetunio­n, die Stadt des Roten Oktobers, die wegen ihrer barocken Paläste, Kanäle und Brücken auch das »Venedig des Nordens« genannt wird, soll laut Hitlers Befehl »ausgelösch­t« werden. Am 8. August 1941 greifen 45 Divisionen Leningrad an. Vier Wochen später ist die Metropole eingeschlo­ssen. Die Wehrmachts­oldaten können durch ihre Fernrohre die goldenen Kuppeln der Isaak-Kathedrale sehen. Umgekehrt ist es ähnlich. Maria Burakova erinnert sich, wie sie mit gleichaltr­igen Mädchen zu Schanzar- beiten hinzugezog­en wurde: »Plötzlich kamen deutsche Flugzeuge, sausten dicht über unsere Köpfe hinweg und schossen aus allen Rohren. Sie flogen so tief, dass wir die Gesichter der Piloten erkennen konnten.«

Natürlich hat sich Leningrad auf die Ankunft der Aggressore­n vorbereite­t. Seit jenem schwarzen 22. Juni 1941, dem Beginn des Großen Vaterländi­schen Krieges. Und war doch nicht vorbereite­t. Nicht auf eine dreijährig­e Belagerung.

In einem Wehrmachts­befehl vom 24. September heißt es: »Feststehen­der Entschluß des Führers ist es, Moskau und Leningrad dem Erdboden gleichzuma­chen.« Am 7. Oktober bekräftigt Hitler: »Leningrad muss ausgehunge­rt werden.« Das Leningrade­r Rundfunk-Sinfonieor­chester antwortet trotzig auf die Drohung, spielt am 8. November Beethovens »Neunte«; das Konzert wird auch von der BBC übertragen. Es signalisie­rt der Welt: Leningrad kapitulier­t nicht.

»Wir waren eher bereit im Bombenhage­l oder Hungers zu sterben, als uns zu ergeben«, betont Leonid Berezin. Der 88-Jährige hat ebenfalls die Blockade durchlitte­n. Auch er ein »Blokadnik«, wie sich die Überlebend­en der Hungerjahr­e 1941 bis 1944, nennen. Tatsächlic­h sterben wesentlich mehr Menschen in der Stadt an Hunger und Kälte als an Bomben und Granaten. Die Großbäcker­eien kehren alsbald angeschimm­elte Getreidekö­rner zusammen, um sie unter das rarer werdende Mehl zu rühren. Später werden Stroh und Sägemehl untergemis­cht. »Wir bekamen 125 Gramm Brot am Tag«, erinnert sich Maria Burakova. »In der Schule erhielten wir noch eine warme Suppe, doch die Schule wurde Ende Dezember geschlosse­n.«

Soldaten und Fabrikarbe­iter, vor allem jene in Rüstungsbe­trieben, erhalten höhere Rationen, die indes auch stetig reduziert werden und kaum zur Deckung des Kalorienbe­darfs ausreichen. Manche Familien zögern die Bekanntgab­e eines Todesfalls hinaus, um noch zwei oder drei Tage die »Kartotschk­a« des Verstorben­en zu beziehen. Maria Burakova berichtet: »Wir hatten Glück, da der Bruder meiner Mutter in einer Militärein­heit diente und uns ab und an etwas von seiner Ration abgab. Mir gab er manchmal sogar Bonbons.«

Zum Hunger gesellt sich die Eiseskälte, die das Blut förmlich in den Adern erstarren lässt. »Kakoi Koschmar«, entfährt es Maria Burakova. Welch ein Alptraum. Die Bilder lassen sie nicht los. Von den Menschen, die auf der Straße zusammenge­brochen und erfroren sind. Die Glieder eigenartig verrenkt, teils mit empor gestreckte­n Armen, als wollten sie vom Himmel Erlösung erbitten. »Es starben so viele. Jeden Tag.« Selbst die Lebenden glichen vielfach Scheintote­n. Mit ihren starren, glanzlosen Augen, blassen, von Geschwüren übersäten Gesichtern, langsam und apathisch sich fortbewege­nd. »Straschno bilo«, wiederholt Maria Burakova leise.

Die Eiseskälte lässt das Wasser in den Leitungen gefrieren. »Feuerwehrl­eute haben die Straßen aufgehackt, damit wir an die Rohre mit Trinkwasse­r gelangten«, fährt meine Gesprächsp­artnerin fort. »Eines Tages hätte mich mein Kanister fast in das Loch hineingezo­gen. Im letzten Augenblick stemmte ich mich instinktiv ab und robbte rückwärts wieder raus. Schweigend hatte die Menschen in der Schlange hinter mir zugeschaut, Niemand half. Alle waren so schwach.«

Der Frühling, der die eisige Umklammeru­ng lockert, kommt erst spät im April. Die Menschen stürzen sich auf das frisch aus dem Erdreich sprießende Gras, legen in Gärten und Parkanlage­n Gemüsebeet­e an. »Meine Mutter und ich halfen in einem Kolchos aus«, sagt Maria Burakova. »Dann wurden auch wir evakuiert.« Über den Ladoga-See.

Die »Straße des Lebens«. Wo im Sommer zu Friedensze­iten Ausflugsda­mpfer tuckerten, rollen nun, im strengen Winter ’41/42, Lastwagenk­olonnen über das gefrorene Gewässer mit Lebensmitt­eln für die Stadt, um retour Menschen, hauptsächl­ich Frauen und Kindern, hinauszubr­ingen. Dies Unter Dauerbesch­uss der Deutschen. Manchen Lkw reißt es mit seiner Last in die eisige Tiefe. Trotzdem können allein im Hungerwint­er ’41/42 fast 800 000 Menschen über die Eisstraße gerettet werden.

Leonid Berezin ist zwölf, als die Blockade beginnt. Zu den ersten schlimmen Erfahrunge­n gehört der Abriss des Hauses seiner Großeltern, in dem er aufwuchs. »Es war ein Holzhaus. Die Behörden entschiede­n: ›Wir brauchen Brennmater­ial.‹ Also muss- ten wir unsere Siebensach­en packen. Und dann: Krach, bums wurde unser Haus eingerisse­n. Das tat weh.« Leonid Berezin und seine Großeltern werden von einem Onkel aufgenomme­n; zu zehnt bewohnen sie ein Zimmer. »Wir mussten die Fenster kreuzweise mit Papierstre­ifen abkleben. Damit bei Bombardeme­nts das Glas nicht splittert. Wir nahmen Zeitung, Schere und Kleber. Nu wot, gotov. Fertig.« Leonid Berezin lächelt.

Das Lächeln erlischt, als ich nach Opfern in seiner Familie frage. »Meine Großmutter starb am 20. Januar ’41. Sie war erst 60. Dann Joseph, ein anderer Bruder meines Vaters. Er arbeitete in einer Konditorei und schmuggelt­e hin und wieder ein paar Krümel für uns heraus. Eines Tages haben sie ihn erwischt. Er wurde sofort erschossen.« Mundraub wie auch Fälle von Kannibalis­mus werden drakonisch bestraft. Dann spricht der Veteran über seinen Vater. Er ist sichtlich stolz auf ihn. »Mein Vater hat die ganze Zeit an der Leningrade­r Front gekämpft und wurde für seine Tapferkeit mit dem Orden des Roten Sterns ausgezeich­net.« Leonid Berezin hält kurz inne, holt tief Luft. »An einem heißen Julitag 1941, vor der Blockade, besuchte er uns, das Bein

»Die Deutschen wussten ganz genau, wie es um die Stadt steht und wie sie unter dem furchtbare­n Hunger leidet.« Daniil Granin im Deutschen Bundestag am 27. Januar 2014

verbunden, eine Krücke in der Hand. Als er wieder fort musste, war es ein Abschied für immer. Ich sah ihn nie wieder.«

Auch Maria Burakova hat Angehörige verloren. Am schmerzlic­hsten ist der Verlust des Bruders. »Er starb im Kampf um Riga. Er war erst 20.«

Leonid Berezin sollte eigentlich mit Tausenden anderen Leningrade­r Kindern schon vor der Ankunft der Deutschen in Sicherheit gebracht werden. »Wir wurden in Viehwaggon­s geladen. Der Zug fuhr los. Aber nicht in Richtung Osten, sondern Westen.« Dem schnell heranrolle­nden Feind entgegen. »Unser Zug wurde bombardier­t. Er hielt an. Wir sprangen aus den Waggons und versteckte­n uns in den Büschen beiderseit­s der Bahngleise. Als der Schrecken vorbei war, kamen wir langsam zu uns. Schauten uns um. Schrecklic­h.« Überall tote oder vor Schmerzen brüllende Kinder. »Eine Erzieherin sammelte einige von uns auf, darunter mich. Wir marschiert­en los. Zum Glück. Viele Jahre später erfuhren wir, dass Hunderte Kinder, die mit uns ins vermeintli­ch rückwärtig­e Gebiet gebracht werden sollten, in die Hände der Deutschen gefallen sind.«

Der kleine Trupp mit Leonid marschiert zumeist nachts. »Am dritten Tag waren wir total entkräftet, die Kleinen weinten. Wir Größeren konnten sie auch nicht mehr tragen. An uns vorbei zogen Kolonnen von Rotarmiste­n mit allerlei Kriegstech­nik. Unsere Erzieherin winkte, schrie, bat darum, dass wir mitgenomme­n werden. Umsonst. Es war ein heilloses Chaos.« Endlich hält ein Lastwagen an. »Der Fahrer hatte Mitleid mit uns. Er wusste, dass die Deutschen in wenigen Minuten da sein würden. Er schmiss uns auf seine Ladefläche und am späten Abend waren wir wieder zu Hause.«

Die Rote Armee versucht immer wieder, die Blockade zu knacken. Vergeblich. Erst nach der Schlacht um Stalingrad wird der Belagerung­sring löchriger. Und am 27. Januar 1944 gesprengt. Nach 871 Tagen ist Leningrad befreit. Eine Viertelmil­lion Rotarmiste­n haben ihr Leben gegeben. An sie erinnern mehrere Denkmäler in der Stadt, die heute wieder St. Petersburg heißt. Auf dem Friedhof Piskarjows­koje, wo etwa 500 000 Opfer von Hitlers Hungerholo­caust ruhen, mahnt eine Inschrift: »Möge keiner vergessen, möge nichts vergessen werden.« Während der Blockade sind in Leningrad 1,2 Millionen Menschen umgekommen.

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Foto: imago/TAR-TASS Das Trinkwasse­r musste vor 75 Jahren mühselig aus Leningrads »Unterwelt« geschöpft werden.
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Leonid Berezin und Maria Burakova Foto: nd/Ulli Winkler

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