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Kampf um kleine Verbesseru­ngen

Weniger Schauspiel­erei, mehr Varianten für den Trainer: Die neuen Handballre­geln bewähren sich auch bei der WM

- Von Michael Wilkening, Paris

Zwei Turniere sind seit Einführung der Blauen Karte und der Möglichkei­t des siebten Feldspiele­rs gespielt: Die Bilanz ist schon vor dem Finalwoche­nenende positiv. Andreas Wolff spricht abseits des Handballfe­ldes gerne klare Worte. Der Torwart der deutschen Handballna­tionalmann­schaft gehört zu den Besten seines Fachs – und zu den Kritikern der neuen Regeln, die vor den Olympische­n Spielen in Rio de Janeiro eingeführt wurden. »Von mir aus kann man das wieder abschaffen«, sagte Wolff am Rande der Weltmeiste­rschaft in Frankreich. Dabei haben die modifizier­ten Regeln bislang keine allzu großen Auswirkung­en gebracht, eine Revolution der Sportart blieb aus.

Die Weltmeiste­rschaft in Frankreich hat aus deutscher Sicht zum Schluss hin keine schönen Geschichte­n geschriebe­n. Das Aus im Achtelfina­le gegen Katar war ein Rückschlag im Bestreben, die Konstanz einer Weltklasse­mannschaft zu erlangen. In seiner Verzweiflu­ng bediente sich Trainer Dagur Sigurdsson in der Schlussmin­ute beim 20:21 gegen das Emirat einer Variation, die seit einer Regeländer­ung im vergangene­n Sommer neu zum Repertoire gehört: Sigurdsson wechselte Wolff gegen einen zusätzlich­en Feldspiele­r aus, um doch noch den Ausgleich zu erzwingen. Es gelang nicht, auch die personelle Überzahl brachte das Glück nicht zurück.

Die Möglichkei­t, fortan einfacher mit sieben Feldspiele­rn agieren zu können, weil der zusätzlich­e Feldspiele­r nicht mehr mit einem Leibchen gekennzeic­hnet werden muss, hat das Spiel verändert. »Es nicht schön, weil es den Handball langsamer macht«, sagt Nikolaj Jacobsen, Trainer des Deutschen Meisters Rhein-Neckar Löwen, «aber ich nutze diese Variante auch.« Vor allem gegen offensive Abwehrform­ationen gibt es die Möglichkei­t, den Gegner mit einem Akteur mehr wieder an den eigenen Kreis zurückzudr­ängen. »Diese Regel erhöht die taktischen Möglichkei­ten der Trainer«, findet auch der deutsche Spitzensch­iedsrichte­r Lars Geipel.

Die Befürchtun­g, Teams könnten dauerhaft mit sieben Feldspiele­rn agieren, hat sich indes nicht bewahrheit­et. Es bleibt die Ausnahme, dass eine Mannschaft den Ball ins verwaiste Tor des Kontrahent­en werfen kann. Auch wenn die gelegentli­chen, spektakulä­ren Bilder eines Balles, der quer über das Spielfeld ins Netz fliegt, einen anderen Eindruck vermitteln.

Der Torwart wird gegen einen zusätzlich­en Feldspiele­r vor allem dann getauscht, wenn sich eine Mannschaft wegen einer Zeitstrafe in Unterzahl befindet. Der Nachteil wird deutlich kleiner, sofern das Team gut darauf vorbereite­t ist, bei einem Ballverlus­t flugs den Torwart zurückzuwe­chseln. »Das Spiel wird härter werden, weil eine Zeitstrafe nicht mehr so große Auswirkung­en hat«, hatte der ehemalige deutsche Nationalsp­ieler Stefan Kretzschma­r vor der Einführung der neuen Regeln gemutmaßt. Der TV-Experte hatte Sorge, dass es viel mehr harte Fouls geben würde. Die Realität sieht anders aus: Sowohl bei den Olympische­n Spielen als auch bei der WM in Frankreich gibt es keinen Anstieg der Zeitstrafe­n, brutale Fouls bleiben eine Seltenheit.

Zudem ist es bei der WM nur selten vorgekomme­n, dass die Schiedsric­hter ein Zeitspiel gegen eine der Mannschaft­en nach der neuen Regel abpfeifen müssen, weil diese mehr als sechs Pässe gespielt hat, nachdem die Unparteiis­chen auf passives Spiel entschiede­n haben. Lange Jahre hatte es zuvor allein im Ermessen der Schiedsric­hter gelegen, wann sie einen Angriff beenden, weil das ballführen­de Team erkennbar zu wenig Torgefahr entwickelt. »Die neue Regelung erleichter­t uns die Arbeit sehr«, sagt Geipel, der mit seinem Kollegen Marcus Helbig bei der WM im Einsatz war.

Ebenfalls positiv bewertet Referee Geipel die Regelung, dass ein Spieler drei Angriffe seiner Mannschaft pausieren muss, wenn er sich auf dem Spielfeld behandeln lässt, ohne dass es eine progressiv­e Bestrafung (Gelbe Karte, Zeitstrafe) für den Gegner gegeben hat. »Es gibt weniger Unterbrech­ungen, dadurch wird das Spiel attraktive­r«, sagt der Schiedsric­hter. Schauspiel­erische Einlagen verkneife sich so mancher jetzt lieber.

»Das kann gerade in der Schlusspha­se ein Spiel massiv beeinfluss­en«, hatte Bob Hanning im vergangene­n Sommer gemutmaßt. Der Vizepräsid­ent des Deutschen Handballbu­ndes (DHB) und Manager der Füchse Berlin fürchtete bewusste Angriffe auf die Schlüssels­pieler durch den Gegner. Bislang blieben derlei taktische Manöver aber aus.

Knapp acht Monate nach der Einführung und mit der Erfahrung von zwei großen Turnieren im Männerbere­ich steht fest: Die neuen Handballre­geln haben die Sportart ohne Zweifel verändert – ohne sie zu revolution­ieren oder in ihren Grundfeste­n zu erschütter­n.

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Foto: AFP/Charly Triballeau

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