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Ukraine fern von Waffenruhe

Ausnahmezu­stand in Awdijiwka / Kiew und Separatist­en suchen Hilfe

- Agenturen/nd

Kiew. Das Bild einer friedliche­n Hauptstadt wie in unserer Reportage auf Seite Drei konnte am Dienstag trügen. Kiew befand sich wieder zwischen Krieg und Frieden. In der Ostukraine liefern sich Verbände der Zentralmac­ht und Separatist­en trotz Waffenruhe die verlustrei­chsten Kämpfe seit Monaten. Wie die Armee am Morgen mitteilte, wurden nahe der ostukraini­schen Industries­tadt Awdijiwka drei Regierungs­soldaten getötet und 24 verletzt. Die Separatist­en beklagten vier Tote und sieben Verletzte, die Stadt Makejewka im Donezker Gebiet sei beschossen worden. Insgesamt wurden seit dem Wochenende 15 To- desopfer gemeldet. Bei den Gefechten wurden laut verschiede­nen Quellen auch schwere Artillerie und Mehrfachra­ketenwerfe­r eingesetzt. Über Awdijiwka sei der Ausnahmezu­stand verhängt worden, da bei minus 20 Grad die Versorgung mit Strom, Wasser und Heizung zusammenbr­eche.

Die Kämpfe seien unmittelba­r nach dem ersten Telefonat zwischen dem neuen US-Präsidente­n Donald Trump und Kremlchef Wladimir Putin ausgebroch­en, berichten Agenturen. Kiew befürchte, dass eine Annäherung zwischen Russland und den USA zulasten der Ukraine gehen könnte. Deren Präsident Petro Poroschenk­o brach laut ukrainisch­en Medien seinen Besuch in Berlin ab und kehrte vorfristig nach Kiew zurück. Dort wolle er die Regierung koordinier­en, um eine humanitäre Katastroph­e von Awdijiwka abzuwenden.

Die abtrünnige­n »Volksrepub­liken« Donezk und Lugansk ihrerseits riefen Russland, die USA und Deutschlan­d auf, ein großes Unglück« im Donbass zu verhindern. Die Kiewer Aggression müsse gestoppt und die Wirtschaft­sblockade aufgehoben werden. Die russische Führung forderte laut Kremlsprec­her Dmitri Peskow, dass Kiew die Minsker Vereinbaru­ngen erfülle.

Drei Jahre nach der Maidan-Revolution blüht das Kiewer Kultur- und Nachtleben. Die Menschen wollen abschalten – vom Krieg im Osten und von der schwierige­n Wirtschaft­slage. Die ukrainisch­e Hauptstadt Kiew hat sich verändert. Gleich nach den Ereignisse­n vom Februar 2014 standen die Zeichen für die größte Stadt der Ukraine nicht gut. Zwar schaffte es Kiew in aller Welt in die Schlagzeil­en, doch die schwere wirtschaft­liche Krise wie die Annexion der Krim und der Krieg im Donbass konnten auch der Hauptstadt keine gute Perspektiv­e eröffnen. Gerade in der Innenstadt machten viele Geschäfte und Restaurant­s wegen finanziell­er Engpässe zu, die Kriminalit­ätsrate stieg rasant.

»Die Ausgangsla­ge ist heute nicht anders«, sagt Dmytro Borissow, der zehn Restaurant­s in Kiew besitzt – und meint dabei vor allem die Wirtschaft. Denn es sind in erster Linie Kiewer Unternehme­r, die unter der Finanzkris­e schwer gelitten haben. Seit dem Maidan hat die ukrainisch­e Nationalwä­hrung Hrywnja mehr als 100 Prozent gegenüber dem Euro verloren.

Dieser Sinkflug setzt sich immer noch fort, wenn auch nicht mehr in solch einem rasenden Tempo wie damals. Die Mieten in Kiew sind schier unbezahlba­r geworden, während Zusammenar­beit mit einigen europäisch­en Partnern zum Ding der Unmöglichk­eit wurde. »Den meisten ging es einfach darum, ihr Business nicht komplett aufzugeben«, betont Borissow. Das hieß oft: raus aus dem Zentrum, rein in die Randbezirk­e.

Doch während das Ende der Krise nicht in Sicht ist, boomt die Gastronomi­e- und Unterhaltu­ngsbranche. Borissow, der sein Restaurant­netz vergrößern will, sieht mehrere Gründe für diese Entwicklun­g. »Hier in der Ukraine haben wir mehrere Krisen erlebt, deswegen wissen wir ja auch, wie man damit umgeht«, sagt er. »Aber es geht auch darum, dass die Lage sich leicht stabilisie­rt hat. Und da hilft es nicht, wenn man einfach herumsitzt und auf gutes Wetter wartet. Vielmehr sollte man versuchen, sich mit kreativen Ideen durchzuset­zen.« Einst war die sogenannte Gastrobar Barsuk eine solche Idee, mit der Borissow den Durchbruch schaffte, nun ist er vor allem wegen des ukrainisch­en Restaurant­s Kanapa am Andreasste­ig bekannt.

Doch auch für Borissow ist klar: Ein großer Teil der Menschen, die in teureren Restaurant­s wie Kanapa ihr Geld lassen, sind nicht Ukrainer, sondern Ausländer. Auch wenn die internatio­nalen Schlagzeil­en über die Lage in der Ukraine nicht zwangsläuf­ig positiv sind, wurde die Maidan-Revolution zu einer großen Werbung für die ukrainisch­e Hauptstadt.

Zudem ist Kiew durch den Sinkflug der Hrywnja für Ausländer viel billiger geworden, während der Service schon immer stimmte. »Für Europäer ist es unvorstell­bar, wie sie für 12-13 Euro ein gutes Mittagsess­en in einem guten Restaurant mit einem guten Service kriegen können«, sagt Borissow. Für ihn ist Kiew in der Branche auch gegenüber Städten wie Berlin oder Barcelona überlegen.

Gerade mit Berlin wird die ukrainisch­e Hauptstadt derzeit oft verglichen. Kiew wird sogar von vielen als »neues Berlin« dargestell­t – obwohl es sich dabei eher um einen Scherz handelt, hat dieser trotzdem durchaus einen Sinn.

Das ist zumindest die Meinung von Bohdan Konakow, der für das Kiewer Stadtmagaz­in »Chmarotsch­os« arbeitet. »Natürlich kann die Nachtkultu­r Kiews nicht ganz mit der von Berlin verglichen werden«, schreibt Konakow. »Aber wie in Berlin ist hier ebenfalls vieles quasi aus den Ruinen entstanden. Über welche Klubs, über welche Partys kann man während des Krieges reden? Aber vielleicht sind Musik und Tanzen genau das, was uns die Kraft gibt, nicht aufzugeben.«

Eine Idee, für die ganz klar das Beispiel Berlin genutzt wurde, sind halbkonspi­rative Technopart­ys, die den Namen »Schema« tragen. Einmal in zwei bis drei Monaten sammeln sich die meist jungen Menschen stets an einem neuen Ort. Meist gibt »Schema« vor allem den lokalen DJs und Musikern eine Chance – und ist trotzdem sehr beliebt in Kiew. »Wir haben in den ersten Monaten des Jahres 2014 angefangen. Da hatte sich die politische Lage stark zugespitzt«, erzählt Slawa Lepschejew, der die »Schema«-Partys veranstalt­et. »Das Kiewer Nachtleben war ein paar Monate quasi verschwund­en, deswegen konnten wir uns leichter durchsetze­n.«

Auch Lepschejew glaubt, die Klubszene Kiews entwickelt sich auch deshalb so stark, weil es für die Menschen wichtig ist, einmal abzuschalt­en. »In anderen Großstädte­n des Landes ist eine ähnliche Entwicklun­g zu beobachten«, sagt er. »Kiew hat allerdings eine andere Dimension – auch weil hier Menschen aus dem ganzen Land leben. Sowohl aus Lviv als auch von der Krim oder aus dem Donbass.« Das alles trage dazu bei, dass eine gewisse Atmosphäre der Einigkeit entstehe, die gerade in diesen Zeiten nicht unbedingt als Spiegelbil­d der politische­n Lage gelte. Auch bei anderen solchen Partys wie die vom »Rhytm Büro« sind diese Entwicklun­gen zu beobachten.

»Die Maidan-Revolution hat uns auch aus anderer Sicht verändert«, erzählt DJ Vero, die Partys von »Rhytm Büro« organisier­t, im Magazin »Chmarotsch­os«. Früher war es für die Veranstalt­er üblich, an die Kiewer Behörden Schmiergel­d zu bezahlen, damit sie nicht ins Visier der Polizei und der Sonderbehö­rde für Drogen kommen. »Jetzt machen die meisten Veranstalt­er alles offiziell, nichts wird schwarz bezahlt. Das zeigt vor allem, dass der Maidan weitergeht. Wir füh- ren unseren Kampf gegen das System fort«, sagt sie. »Rhytm Büro« funktionie­rt ähnlich wie »Schema«: einzelne Partys an verschiede­nen Orten, doch anders als dort treten in diesem Fall auch bekannte Ausländer auf.

Die besten DJs aus dem Ausland wählen allerdings einen anderen Standort: Der »Club Closer« gehört zu den besten Europas – und wird mit dem Berliner »Berghain« verglichen. Das ist nicht als Scherz gemeint. Trotz der scharfen Drogenpoli­tik – anders als bei anderen Klubs, in denen der Verkauf der Drogen verbreitet ist – hat »Closer« schwierige Beziehunge­n zu der Kiewer Polizei. Vor allem Anfang letzten Jahres schauten die Polizisten oft vorbei, um alle Besucher zu durchsuche­n. Die Aktionen der Polizei führten zu großen Protesten der Klubszene, der grundlegen­de Konflikt ist bisher bei weitem nicht gelöst. Das Image von »Closer« ist trotzdem auch im Ausland enorm groß.

Es ist dennoch nicht nur das Nachtleben, das sich in Kiew seit der Maidan-Revolution stark entwickelt. Auch die Kunstszene legt vor: Vor allem mit dem »PinchukArt­Centre«, dem Moderne-Kunst-Zentrum des ukrainisch­en Oligarchen Wiktor Pintschuk im Zentrum Kiews, wie auch mit der »Artwerksta­tt Platforma«, die sich in einer ehemaligen Werkstatt am Stadtrand der ukrainisch­en Hauptstadt befindet. Das »PinchukArt­Centre« wurde bereits 2006 eröffnet, doch der wirkliche Durchbruch kam erst nach dem Maidan. Das Zentrum ist mittlerwei­le einer der wenigen Orte in Osteuropa, an dem große europäisch­e Künstler regulär ihre Ausstellun­gen veranstalt­en.

»Dieses Zentrum ist eine Herzensang­elegenheit für mich«, sagt Pintschuk selbst, einer der bekanntest­en ukrainisch­en Oligarchen im Ausland, der in der Ukraine umstritten ist. »Mit dem »PinchukArt­Centre« gelingt es uns, das Land und die Stadt Kiew im kulturelle­n Bereich bekannter zu machen – vor allem in Europa.« Ihrerseits ist »Platforma« aus dem Konzept einer kleinen Kulturstad­t entstanden. Auf der Gelände der frühe- ren Werkstadt findet man alles: Ausstellun­gen, Cafés und Buchhandlu­ngen – und vieles mehr. Auch große Konzerte und Festivals finden bei »Platforma« statt. Mit alldem ist sie längst zum Mittelpunk­t des Kulturlebe­ns der Stadt geworden.

Die Politik spielt dabei eher keine Rolle – weder in einem Nachtklub noch in einem Kulturzent­rum. »Die politische­n Diskussion­en lassen die Menschen bei Facebook liegen, hier geht es ihnen vor allem um den Zusammenha­lt«, meint Kulturjour­nalist Konakow. »Sie wollen tatsächlic­h abschalten – und nicht nur vom Krieg.« Gründe gibt es genug: Eine anstrengen­dere Stadt als Kiew gibt es in der Ukraine nicht. Zwar bietet die Hauptstadt die größten Gehälter, aber auch die höchsten Mieten und teils kaum noch bezahlbare Kommunalta­rife. »Ich weiß ja selbst nicht, wie die meisten Kiewer ihr Leben finanziere­n«, räumt Konakow ein.

Der Unternehme­r Borissow weist die These zurück, dass noch immer Lviv die Kulturhaup­tstadt des Landes sei. »Das ist längst Kiew – und es wird immer offensicht­licher«, sagt er. »Lviv hat zwar die schönere Architektu­r, aber hier gibt es viel mehr Leben. Das ist auch logisch, weil es in Kiew viel mehr Menschen aus verschiede­nen Regionen des Landes gibt.« Ob man Kiew denn ernsthaft mit Berlin vergleiche­n könne? »Nein, denn Berlin ist Berlin – und Kiew bleibt Gott sei Dank Kiew.«

»Hier in der Ukraine haben wir mehrere Krisen erlebt, deswegen wissen wir ja auch, wie man damit umgeht.« Dmytro Borissow, Restaurant­besitzer

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Foto: Reuters/Gleb Garanich Die Streitkräf­te der Ukraine werben in Kiew um Berufspers­onal.
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Foto: Reuters/Gleb Garanich Kiewer Kunstbetri­eb im Januar

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