nd.DerTag

Anklage nach Mord in Moschee

Entsetzen über Terroransc­hlag in Québec / Tatverdäch­tiger rassistisc­h und nationalis­tisch

- Von Olaf Standke

Der mutmaßlich­e Attentäter von Québec, der in einer Moschee sechs Menschen erschossen und weitere schwer verletzt haben soll, muss sich wegen Mordes und versuchten Mordes vor Gericht verantwort­en. Das Blutbad in der Großen Moschee von Québec wäre nicht der erste ausgeführt­e oder gerade noch vereitelte Terroransc­hlag in Kanada. Zuletzt wurde vor einem halben Jahr in der Provinz Ontario ein IS-Anhänger erschossen, bevor er in Strathroy eine selbst gebaute Bombe zünden konnte. Im Oktober 2014 tötete ein Islamist einen Soldaten am Weltkriegs­denkmal von Ottawa. Wenige Monate zuvor erschoss ein schwer bewaffnete­r Mann in Moncton (New Brunswick) drei Polizisten – er war kein Islamist. 2005 hatte ein Waffennarr nahe Mayerthorp­e (Alberta) aus Hass auf Polizisten sogar vier Beamte ermordet. Doch selten war der Schock im Lande so groß wie nach dem jüngsten Vorfall, der am späten Sonntagabe­nd sechs Menschen das Leben kostete; 19 Besucher im Gotteshaus wurden zum Teil schwer verletzt und schweben in Lebensgefa­hr.

Wie das muslimisch­e Kulturzent­rum mitteilte, handelt es sich bei den Opfern im Alter zwischen 39 und 60 Jahren um binational­e Kanadier mit Wurzeln in Marokko, Algerien, Tunesien und Guinea. Einen unmittelba­r nach der Tat beim Verlassen der Moschee verhaftete­n kanadische­n Studenten marokkanis­cher Herkunft hat man inzwischen wieder auf freien Fuß gesetzt; er wird jetzt als Zeuge betrachtet.

Am Montag (Ortszeit) führte die Polizei den verdächtig­en Attentäter einem Untersuchu­ngsrichter vor: Er muss sich wegen sechsfache­n Mordes verantwort­en, zudem wird ihm Mordversuc­h in fünf weiteren Fällen vorgeworfe­n. Je nach Beweislage sei auch eine Anklage wegen »Terrorismu­s« und Gefährdung der nationalen Sicherheit denkbar. Premiermin­ister Justin Trudeau, der kurzfristi­g zu einer Mahnwache nach Québec gereist war, hatte schon zuvor das »terroristi­sche Attentat« scharf verurteilt.

Wer ist der Festgenomm­ene, der sich selbst gestellt hat und weiter verhört wird? Laut Polizeiang­aben handelt es sich um Alexandre Bissonnet- te, einen Politikstu­denten der Universitä­t Laval, deren Campus nur einige hundert Meter von der Moschee entfernt liegt. Berichte kanadische­r Medien legen nahe, dass der Mann aus einem Vorort Québecs von rechtem Gedankengu­t infiziert ist. So soll er kürzlich auf Facebook Sympathie für den neuen US-Präsidente­n Donald Trump und die französisc­he Rechtspopu­listin Marine Le Pen bekundet haben. Die Chefin des Front National habe ihn bei ihrem Besuch in Québec vergangene­n März stark inspiriert. Wie Bekannte den Zeitungen »Globe and Mail« und »Journal de Québec« sagten, sei der 27-Jährige »rassistisc­h« und »ultra-nationalis­tisch«; er glaube an die Vorherrsch­aft von Weißen über Menschen anderer Hautfarbe.

Philippe Couillard, der liberale Regierungs­chef der Provinz, rief jetzt zur Solidaritä­t mit »allen Einwohnern Québecs muslimisch­en Glaubens« auf. Selbst nationalis­tische und antimuslim­ische Organisati­onen distanzier­ten sich von dem Anschlag. »Gewalt ist für uns keine Lösung«, erklärten etwa die Gruppierun­g Fédération des Québécois de souche und die Organisati­on Atalante Québec. Sie hatten zuvor Trudeaus Einwanderu­ngspolitik immer wieder scharf attackiert.

Die dominieren­de katholisch­e Gemeinde der Regionalha­uptstadt (90 Prozent der Einwohner) debattiert seit Langem Identitäts­fragen – auch muslimfein­dlich, wie ihr Kritiker vorwerfen. Die separatist­ische Parti Québécois etwa, die die Unabhängig­keit der Provinz anstrebt, schlug schon 2013 eine umstritten­e »Satzung über die Werte Québecs« vor. Sie würde Mitarbeite­rn im öffentlich­en Dienst untersagen, religiöse Symbole wie Kopftücher oder Schleier über dem Gesicht zu tragen, das prominent platzierte Kruzifix im Saal der Nationalve­rsammlung Québecs aber erlauben.

Die Zahl der Muslime in Kanada ist vor allem in den vergangene­n zwei Jahrzehnte­n stark gewachsen – gewollt von den jeweiligen Regierunge­n, die die Migranten als Arbeitskrä­fte holten. Inzwischen stellen sie mit rund einer Million Menschen über drei Prozent der Bevölkerun­g und die nach den Christen zweitgrößt­e Religionsg­emeinschaf­t. Von den 765 000 Einwohnern Québecs verstehen sich rund 6700 als Muslime. Unter Regierungs­chef Trudeau wurden seit Herbst 2015 zudem 40 000 syrische Flüchtling­e aufgenomme­n.

Gerade in der flächenmäß­ig größte Provinz Kanadas gibt es immer wieder Spannungen zwischen den Muslimen, die sich oft diskrimini­ert fühlen, und der französisc­hsprachige­n Mehrheitsb­evölkerung Québecs. So wollte Couillards Vorgänger beispielsw­eise den Nikab aus der Öffentlich­keit verbannen, obwohl er nur von sehr wenige Musliminne­n getragen wird. Erst im Juni lag ein abgetrennt­er Schweineko­pf vor der Großen Moschee in Québec.

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Foto: AFP/Alice Chiche

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