Einstein, Hitler und die Windfahnenstraße
Die Stadt Ulm in Baden-Württemberg zitiert ihren großen Sohn offenbar falsch – und das zu ihren Ungunsten
1933 Machtergreifung, 1945 Zerschlagung der NS-Diktatur. Auch in Ulm, Geburtsstadt Albert Einsteins, passten sich viele Deutsche jeweils schnell an. Doch hat sich Einstein deshalb abfällig zu Ulm geäußert? Alles ist relativ, auch Albert Einstein. Auf der Website seiner Geburtsstadt heißt es jedenfalls, der Nobelpreisträger sei »nur ein relativer Ulmer« gewesen. Gerade mal 15 Monate war er auf der Welt, als die Familie von Ulm (Baden-Württemberg) nach München zog. Dennoch wird der Erfinder der Relativitätstheorie als »berühmtester Sohn Ulms« verehrt. Wobei das mit der Verehrung ebenfalls relativ ist, historisch betrachtet. Das zeigt die Beschäftigung mit einem privaten Brief Einsteins, den das Ulmer Stadtarchiv kürzlich für 7500 Dollar über einen New Yorker Autographenhändler angekauft und der Öffentlichkeit nun vorgestellt hat.
Fragen werfen sowohl die Präsentation des Originalbriefs sowie Erläuterungen des Historikers und Stadtarchivdirektors Professor Michael Wettengel auf: Hat Einstein, der wegen der Machtergreifung der Nazis in die USA emigrierte, seine Landsleute nach dem Krieg als Wendehälse verspottet, die ihr Fähnlein in den Wind hängen? Oder ist eine entsprechende, viel zitierte Äußerung gar nicht echt?
Hintergrund ist die Umbenennung der Ulmer Einsteinstraße 1933 in Fichtestraße und die Rückbenennung wenige Wochen nach dem Ende der Naziherrschaft. Einstein habe das Hin und Her der Straßenbezeichnung – so steht es in einem Flyer der Stadt Ulm – so kommentiert: »Ich glaube ein neutraler Name, z.B. ›Windfahnenstraße‹, wäre dem politischen Wesen der Deutschen besser angepasst und benötigte kein Umtaufen im Laufe der Zeit.«
Natürlich könnte niemand dem Juden Einstein solcherart abfälligen Spott übel nehmen – Millionen Deutsche haben ihr Fähnlein in den Wind gehängt, 1933 ebenso wie nach Kriegsende. Zudem hatte Einstein Verwandte zu betrauern, die in Konzentrationslagern umgebracht wurden. Die Frage ist allein, ob das Einstein zugeschriebene Zitat korrekt ist oder nicht.
Dafür sei der Brief mit Datum vom 20. März 1946 von Bedeutung, erklärt Wettengel. Mit dem knappen Schreiben hatte das Physik-Genie auf den Brief eines entfernten Ulmer Verwandten geantwortet, der ihm von der Rückbenennung der Einsteinstraße wenige Wochen nach Kriegsende 1945 berichtetet hatte.
»Die drollige Geschichte mit dem Straßennamen ist mir seinerzeit zur Kenntnis gekommen und hat mich nicht wenig amüsiert«, schrieb der Physiker. »Ob sich seither an der Sache etwas geändert hat, ist mir unbekannt und noch mehr, wann eventuell die nächste Änderung vollzogen wird – weiß aber meine Neugier zu zügeln.« Es folgen Dank und Grüße, mehr nicht.
Spannend sei an dem Brief »besonders das, was nicht drinsteht«, sagt Wettengel. »Und von der viel kolportierten ›Windfahne‹ steht da eben nichts.« Ob nun eine Korrektur des Ulmer Einstein-Flyers und der entsprechenden Website der Stadt nötig werden?
Tatsächlich findet sich die »Windfahnenstraße«-Äußerung in einer Einstein-Biografie des britischen Physikers Banesh Hoffmann, die 1976 auf Deutsch erschien. Hoffmann (1906-1986), mit dem Einstein einige Jahre zusammengearbeitet hatte, gab dafür jedoch keine konkrete Quelle an. Wettengel sagt, er habe sich seit 2004 vergeblich bemüht, ein solches Schreiben ausfindig zu machen. Ergebnis: »Wir haben keinen Beweis gefunden. Das Zitat bei Hoffmann ist nicht belegt, es beruht lediglich auf Hörensagen«, sagt der Historiker. Sein Fazit: »Ich würde das der Gerüchtekiste zuordnen.«
Tatsächlich hat sich Einstein in allen belegten Schreiben im Zusammenhang mit seiner Geburtsstadt nie abfällig geäußert – wenngleich gelegentlich durchaus humorvoll und in mindestens einem Fall auch sehr weitsichtig. Als ihm 1929 Oberbürgermeister Emil Schwamberger von der liberalen Deutschen Demokratischen Partei zum 50. Geburtstag gratulierte und die Einsteinstraße erwähnte, schrieb der Nobelpreisträger zurück: »Von der nach mir benannten Straße habe ich schon gehört. Mein tröstlicher Gedanke war, dass ich ja nicht für das verantwortlich bin, was darin geschieht.«
Ob nun eine Korrektur des Ulmer EinsteinFlyers und der entsprechenden Website der Stadt nötig wird?