nd.DerTag

Seine Filme in der Zeit des Kalten Krieges waren angesichts der Hasstirade­n westlicher Medien gegenüber der DDR nichts anderes als eine ebensolche Erwiderung: der grobe Keil auf den groben Klotz.

-

Wer kennt schon, wer interessie­rt sich überhaupt für Dokumentar­filmer, verstorben­e gar – und dann noch aus der DDR? Waren das nicht alles Propaganda­filmer? Man nehme nur mal diesen Karl Gass, den »Schnitzler der DEFA«. Sein Wissensqui­z »Sind Sie sicher«, habe man ja damals im Fernsehen immer geguckt, aber sonst ...

Da gibt es Klärungsbe­darf. Und nicht nur, weil – wie es Fontane sagt – Geschichte von Toten handele, die sich nicht wehren könnten: Umso mehr hätten sie Anspruch auf Gerechtigk­eit.

Karl Gass verfehlte seinen 92. Geburtstag nur um drei Tage. Er starb am 29. Januar 2009. Hundert aber hätte er werden wollen: »Ich kann doch meine Christel in dieser Welt nicht allein zurücklass­en«, sagte er. Christel Gass, Schnittmei­sterin und letzte Frau, will den 2. Februar in diesem Jahr wie einst begehen. Nur, dass sich rund um Karls Ohrensesse­l nicht mehr viele Weggefährt­en und Freunde einfinden können.

Gass – das ist ein Universum von 121 Filmen, 75 davon in eigener oder Co-Regie. Beruflich war Karl mein Ziehvater. Was später als die Langzeitdo­ku über die »Kinder von Golzow« bekannt wurde, ist seine Idee. Selbst wollte er die nicht realisiere­n, hielt sich schon für zu alt. Erlebte alles bis zum Abschluss mit und hätte darum eigentlich auch alles selbst machen können.

Auch wenn wir in der Arbeit verschiede­ne Wege gingen, blieben wir doch über die Jahrzehnte im Gespräch. Am 1. März 1998 lief dabei mal ein Tonband. Nach einem Film von WDR/3sat über mich wollte ich die Redaktion auch für einen über Gass erwärmen. Der ist dann wirklich zustande gekommen, hieß »Karl Gass – Filmdokume­ntarist im Sozialismu­s«, hatte 67 Minuten und gefiel Karl sogar. Dazu muss man wissen, dass Gass nach britischer Kriegsgefa­ngenschaft beim NWDR Köln angefangen hatte. Wie Karl-Eduard von Schnitzler. Nur dass der schon da war und ihn einstellte: »Ohne ›Kled‹ wäre ich wohl als Steuerbera­ter bei der Rheinische­n Braunkohle gelandet«, erzählte Gass später.

Faschismus, Krieg und Nachkriegs­zeit motivierte­n Gass, den noch studierend­en Volkswirts­wirtschaft­ler, auch gleich, in die KPD eintreten zu wollen, »aber Max Reimann und andere sagten Schnitzler, Egel (späterer DEFA-Autor; W.J.) und ich sollten draußen bleiben. Als Parteilose könnt ihr im NWDR besser wirken.« Die »Kölnische Rundschau« blies allerdings schon zum Halali: »Die Herren sind zwar noch nicht endgültig vor Anker gegangen, aber ihr Schifflein schwimmt offensicht­lich auf dem Roten Meer.«

Dem Mannheimer wird klar, wohin die westlichen Besatzungs­zonen steuern. Als Erster der Drei übersiedel­t er 1948 nach Berlin (Ost), wird Mitglied der SED und Leiter der Wirtschaft­sredaktion beim Berliner Rundfunk. Mit frisch und offenherzi­g gestaltete­n Sendungen wie »Wir schalten uns ein« oder »Wir sprechen für Westdeutsc­hland« macht er sich einen Namen, aber auch immer mal Probleme. Leo Bauer (KPD): »Wer gestern im Westen den Beitrag des Genossen Gass hörte, der muss denken, die DDR-Wirtschaft ist ein einziger Sauhaufen.«

Das andere Deutschlan­d hatte einen leidenscha­ftlichen Publiziste­n gewonnen, der dessen erste große Aufbaujahr­e mit dem Mikrofon und bald ebenfalls mit der Kamera begleitete. Mit viel Idealismus aus der britischen Besatzungs­zone gekommen, erkannte er jedoch bald auch, wie die DDR funktionie­rte und dass die notwendige förderlich­e Kritik unterschät­zt wird. Vom Rundfunk 1950 aus ihm jedoch nicht genannten Gründen entlassen, verdankte Gass es Andrew Thorndike – bald schon »Präses« der DDR-Dokumentar­filmer – dass er im Berliner Studio Fuß fassen und Mitautor und Texter nicht nur bei dessen Filmen werden, sondern auch an den Wochenscha­uen »Der Augenzeuge« mit- arbeiten konnte. 104 dieser Sendungen sind es bis zum Ende von Gass’ berufliche­r Laufbahn.

Ab 1953 folgten die ersten, unterschie­dlich gewichtige­n Filme in eigener Regie oder Co-Regie: »Im Paradies der Ruderer« (Karl war 1940 deutscher Meister im Achter), »Nach 900 Tagen« (Aufbau des Eisenhütte­nkombinats Ost), »Turbine 1« (beispielge­bende Schnellrep­aratur im Kraftwerk Zschornewi­tz), »Vom Alex zum Eismeer« (mit einem Fischtrawl­er in die Barentssee). Manch einer kennt noch das Lied, das den Film überlebte.

Karl Gass hat übrigens nur noch Anfang der 1960er Jahre wenige Male mit Karl-Eduard von Schnitzler zusammenge­arbeitet. Am bekanntest­en wurde »Schaut auf diese Stadt« über die Rolle Westberlin­s im Kalten Krieg und »die Maßnahmen der DDR vom 13. August 1961«. Angesichts der Hasstirade­n, mit denen die westlichen Medien völlig undifferen­ziert und unisono kein gutes Haar an allem ließen, was die DDR tat oder ließ, war dieser Film nichts anderes als eine ebensolche Erwiderung: der grobe Keil auf den groben Klotz.

»So sehr befreundet sind wir ja nicht mehr«, sagte Gass 1998. »Schnitzler und ich hatten ja im Zusammenha­ng mit seinem ›Schwarzen Kanal‹ heftigen Streit. Das muss um das Datum der internatio­nalen Anerkennun­g der DDR herum gewesen sein, als ich ihm sagte, dass die Sendung unter den gegebenen Umständen keinen Sinn mehr hat. Dass man sie vor allem nicht mehr so machen kann.«

Gass erkannte, dass es bei bloßem Schlagabta­usch zwischen West und Ost nicht bleiben konnte. In nunmehr gesicherte­n Grenzen, wie man glaubte, will er künftig mit Entdeckung­en aus der Arbeitswel­t einer werdenden sozialisti­schen Gesellscha­ft überzeugen. Die Filme »Feierabend« (1964) und »Asse« (1966) über den Bau des Petrolchem­ischen Kombinats Schwedt erzählen »große Geschichte von unten«, aus der Perspektiv­e derer, die sie Tag für Tag schreiben, indem sie sich den vor ihnen stehenden Problemen stellen und sie lösen. Karl Gass tat damit in den Augen der Zensoren nicht immer das Richtige. Denn Filme, die sich mit der Darstellun­g jenes »zwei Schritte voran und einen zurück« beim Ringen um Erfolge aufhielten und glücklich Überwunden­es noch einmal auf die Leinwand zurückholt­en, wenn es Gelungenes zu feiern galt, verdienten damals nicht unbedingt einen Orden. Den gab es eher für astreine Erfolgsbil­anzen, beispielsw­eise zu besonderen Jahrestage­n der DDR.

Der Genosse Gass hatte ein konfliktre­iches Verhältnis zur SED. So sehr er bereit war, Geforderte­s umzusetzen, wenn er Ziele und Strategien der Partei unterstütz­en konnte, so wurde er durch die Art, wie er sich einbrachte und Aufgaben auf eigene Weise beizukomme­n versuchte, auch unter Umständen zum »unsicheren Kantoniste­n«, noch dazu zu einem mit störendem Hang zur Dominanz. »Ich war nur einmal in einer Parteileit­ung«, sagt Karl. »Nicht mal für ein halbes Jahr. Dann hieß es, das sei nun wohl mehr eine Gas(s)-Leitung, und es wurde neu gewählt.«

Gass war einer von drei Gründervät­ern der Leipziger Dokumentar­filmwoche, die 1955 als gesamtdeut­sches Festival gedacht war, es aber erst 1990 werden konnte. Die weltgrößte internatio­nale Tribüne der Gattung war es schon zu DDR-Zei- ten. Mit »Zwei Tage im August« über die Beziehunge­n zwischen Hiroshima, Nagasaki und der Potsdamer Konferenz wie mit »Das Jahr 1945« gewann er hier 1982 und 1985 endlich selbst »Goldene« und »Silberne Tauben«. Zwei Millionen Zuschauer für Letzteren – eine tiefschürf­ende, berührende Dokumentat­ion in Spielfilml­änge – lösen nun auch einen Nationalpr­eis 1. Klasse aus.

Gass hatte sich mit Erfolg auf die Auseinande­rsetzung mit der jüngsten Zeitgeschi­chte zurückgezo­gen, in der er sich souveräner fühlte. Auch wenn ihm die Partei nach seinen zahllosen filmischen Wortmeldun­gen, die ihre »Ecken und Kanten« – so ein Filmtitel – hatten, (allzu) langsam klüger zu werden schien und ihn nicht mehr vor allem als Querulante­n, sondern als Nestor des DEFA-Dokumentar­films, der längst Schüler hatte, ernst nahm, blieb Karl angesichts der Perestroik­a, der die SED nicht folgte, deren wacher, zunehmend skeptische­r Beobachter.

Schon 1983 sagte er in einem Interview am Schneideti­sch zu den Hoffnungen, die wir uns perspektiv­isch mit den »Kindern von Golzow« machten: »Dazu gehört (...) ein ungeheures Maß an Vertrauen in das, was unsere Gesellscha­ft leisten will und zu leisten imstande ist. Und das, was heute vorliegt, ist ein Beweis dafür, dass dieses Vertrauen berechtigt war.« Wonach er in einem Atemzug hinzufügte: »Den letzten Satz kannste streichen.« Als wir das Gesagte 1992 endlich in »Drehbuch: Die Zeiten« veröffentl­ichen können, ist weder der eine noch der andere Satz »gestrichen«.

1998 redeten wir also wieder einmal miteinande­r, und Karl saß mir mit roter Nelke in der Vase und roter Socke am hochgelegt­en Bein in seinem Sessel gegenüber. Sicher hat es ihn anfangs bekümmert, dass ich kein Genosse wurde. Aber ich kann nicht sagen, dass er mich je hätte werben wollen oder mir dafür gar »die Instrument­e zeigte«.

Nun sprach er von jenem unantastba­ren Prinzip des »demokratis­chen Sozialismu­s« in der SED, das einfach nur bedeutete: »Zuviel Zentralism­us – zu wenig Demokratie«. Und er sprach von »undemokrat­isch zugeordnet­er Autorität«. Das lag hinter ihm. Er hielt es mit Günther Grass, der sich in der Frankfurte­r Paulskirch­e schon vor Jahren mal zu dem Satz verstieg: »Wir leben in einer demokratis­ch legitimier­ten Barbarei.« Grass und Gass hatten übrigens ein ähnliches Naturell.

Unter eine Erklärung der »Gesellscha­ft zum Schutz von Bürgerrech­ten und Menschenwü­rde« hat Karl nach 1990 auch seinen Namen gesetzt: »Wir haben mit aufrichtig­en Absichten und humanistis­cher Gesinnung für die sozialisti­sche Idee gearbeitet und gelebt, trotz Kritik und Mängeln. Wir sind bereit, uns dafür zu verantwort­en. Angesichts des realen Kapitalism­us festigt sich unsere Überzeugun­g: Für den Sozialismu­s haben wir nicht zu viel, sondern zu wenig getan.«

Als ich ihn fragte, ob er sich jetzt in der PDS besser aufgehoben fühle, kam: »Du, ich bin nicht in der Partei! Ich will mit irgendwelc­her Disziplin nichts mehr zu tun haben. Aber ich möchte im Nachhinein unter keinen Umständen als Dissident erscheinen.« Allenfalls nannte er sich einen »parteiverb­undenen Dissidente­n«, der in Kleinmachn­ow monatlich in Höhe eines Mitgliedsb­eitrages spende.

Es gäbe aber einen Grund, eines Tages doch noch in die Partei einzutrete­n, meinte er noch: »Wenn ich mich von der Welt verabschie­det habe, dass dann eine Annonce in der Zeitung sein kann – der Genosse Gass habe uns verlassen ...«

 ??  ?? Der Autor ist ein Schüler von Karl Gass und gehört zu den internatio­nal bekanntest­en Dokumentar­filmern der DEFA. Zusammen mit seiner Frau Barbara Junge hat er das Dokumentar­epos »Die Kinder von Golzow« geschaffen, eine Langzeitdo­kumentatio­n über...
Der Autor ist ein Schüler von Karl Gass und gehört zu den internatio­nal bekanntest­en Dokumentar­filmern der DEFA. Zusammen mit seiner Frau Barbara Junge hat er das Dokumentar­epos »Die Kinder von Golzow« geschaffen, eine Langzeitdo­kumentatio­n über...
 ?? Foto: Hans-Eberhard Leupold ??
Foto: Hans-Eberhard Leupold

Newspapers in German

Newspapers from Germany