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Entscheidu­ng gegen die Betroffene­n

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In Zehntausen­den Haushalten flatterten 2015 Briefe mit Gebührenbe­scheiden herein – für oft lange zurücklieg­ende Abwasseran­schlüsse. Grund dafür ist eine Übergangsv­orschrift in Sachsen-Anhalt. Die LINKE-Fraktion im Landtag rief das Landesverf­assungsger­icht an. Am 24. Januar 2017 verkündete­n die Richter in Dessau-Roßlau ihr Urteil. Es fiel gegen die Antragstel­ler aus. Die Richter wiesen den Vorstoß ab und erklärten die geltende Regelung für verfassung­skonform. Das Land hatte 2014 im Kommunalab­gabengeset­z erstmals festgelegt, dass Beiträge höchstens zehn Jahre nachträgli­ch erhoben werden können.

Es räumte allerdings eine Übergangsf­rist für ältere Fälle bis Ende 2015 ein. Das hatte zu Zehntausen­den von Bescheiden mit nachträgli­chen Forderunge­n geführt. Aus Sicht der Verfassung­srichter bedeutet die Übergangsz­eit keine Ungleichbe­handlung von alten und neuen Anschließe­rn. Worum dreht sich der Konflikt? Im Kern geht es um die Frage, wie lange ein Haushalt nachträgli­ch noch für einen Wasseransc­hluss zur Kasse gebeten werden darf. Bei diesen sogenannte­n Altanschli­eßerfällen treiben die Zweckverbä­nde oft Jahre, manchmal sogar Jahrzehnte nach dem Bau oder Anschluss von Abwassersy­stemen noch Gebühren dafür ein.

Im Konflikt, den die Verfassung­srichter jetzt beurteilte­n, geht es um eine Übergangsr­egelung. Sie hatte 2015 zu der Flut an Gebührenbe­scheiden geführt. Während die Regierung davon überzeugt ist, dass die Regelung rechtmäßig ist, hat sich die LINKEN-Fraktion als Opposition an das Landesverf­assungsger­icht gewandt. Wen betrifft es? In Sachsen-Anhalt sind nach Angaben des Verbands Deutscher Grundstück­snutzer etwa 85 000 Haushalte betroffen. Allein im Jahr 2015 wurden demnach mehr als 78 000 Bescheide mit einem Volumen von 77 Millionen Euro verschickt. Für den Einzelnen geht es um Forderunge­n von bis zu vielen tausend Euro. Rund 36 000 Betroffene, also etwa die Hälfte der zuletzt angeschrie­benen Sachsen-Anhalter, hätten Widerspruc­h eingelegt, so ein Verbandssp­recher. Wie kam es zu dem Streit? In Sachsen-Anhalt galt viele Jahre überhaupt keine zeitliche Obergrenze für nachträgli­che Bescheide. Nach einem Bundesverf­assungsger­ichtsurtei­l aus dem Jahr 2013 zu einem Fall aus Bayern änderte sich das. Die obersten Richter hatten festgelegt, dass die Beiträge nicht beliebig lang nach Anschluss erhoben werden dürfen.

Viele Bundesländ­er, darunter auch Sachsen-Anhalt, änderten daraufhin ihr Kommunalab­gabengeset­z. Im Land gilt seitdem eine Verjährung­sfrist von zehn Jahren. Eigentlich. Denn es gibt eine Übergangsr­egelung: Bis zum Stichtag Ende 2015 wurde diese zeitliche Obergrenze außer Kraft gesetzt. Das führte zu der Flut von Bescheiden im vergangene­n Jahr – und ließ den Streit hochkochen. Was geschah bisher? Die Altanschli­eßer-Beiträge beschäftig­en nicht zum ersten Mal die Justiz. Im Februar 2016 hatte das Oberverwal­tungsgeric­ht in Magdeburg die Regelungen als rechtmäßig eingestuft. Das Innenminis­terium empfahl den Gemeinden dennoch per Erlass, auf das Eintreiben der Gebühren bis zu einer höchstrich­terlichen Entscheidu­ng zu verzichten.

Auch der Landtag stimmte im Sommer für eine Lockerung: Zweckverbä­nde können auf das Eintreiben der Gebühren bis zur gerichtlic­hen Klärung verzichten. Beide Empfehlung­en sind nicht verpflicht­end. Sind die Regelungen in Sachsen-Anhalt ein Einzelfall? Nein, die Diskussion gibt es in vielen Bundesländ­ern, vor allem im Osten. Hintergrun­d ist hier, dass nach der Wiedervere­inigung viele Kläranlage­n und Lei- tungen teuer neu gebaut wurden, aber zunächst auf das Eintreiben von Beiträgen verzichtet wurde. Das Bundesverf­assungsger­icht in Karlsruhe hatte bereits mit den Brandenbur­ger Regelungen zu nachträgli­chen Anschlussg­ebühren zu tun. Es erklärte sie für unwirksam.

Auf dieses Urteil verwiesen Kritiker der Übergangsv­orschrift in Sachsen-Anhalt und hofften auf eine ähnliche Entscheidu­ng. Gegenstimm­en meinen, die Fälle in Brandenbur­g seien ganz anders gelagert. Welche Folgen kann das Urteil haben? Das kommt ganz darauf an. In Brandenbur­g hatten die Instanzen die Regelungen des Landes für rechtmäßig erklärt – erst der Gang nach Karlsruhe brachte 2015 endgültige Klärung. Ähnliches könnte auch in SachsenAnh­alt passieren. Werden die Regelungen für unwirksam erklärt, könnte ein langer Streit darüber folgen, wer sein Geld zurückbeko­mmt – und wer die dann fehlenden Einnahmen der Zweckverbä­nde kompensier­t. In Brandenbur­g wird derzeit um mögliche Schadenser­satzforder­ungen an das Land gestritten. Wie wird es nun weitergehe­n? Nach der Entscheidu­ng des Landesverf­assungsger­ichts strebt die Landtagsfr­aktion der LINKEN eine Gesetzesän­derung an. Die Belastunge­n müssten hier gleichmäßi­ger verteilt werden, sagte Fraktionsc­hef Swen Knöchel. Für die Zukunft seien dafür neue Regelungen zu finden und das entspreche­nde Kommunalab­gabengeset­z zu novelliere­n.

Bisher wird etwa der Beitrag für einen Anschluss ans Abwasserne­tz nach der Grundstück­sgröße berechnet. Das führt zu einer großen Spanne der Forderunge­n. Auch ein anderes Modell zur Refinanzie­rung von Anlagen sei denkbar, sagte Knöchel. Zudem hätten Abwasserve­rbände mit überdimens­ionierten Anlagen und klammen Kassen zu kämpfen. Dafür will die LINKE Lösungsvor­schläge diskutiere­n.

Der Streit könnte vor Gericht weitergehe­n. Dem Verband Deutscher Grundstück­snutzer zufolge reichte eine Betroffene aus Sachsen-Anhalt bereits Klage beim Bundesverf­assungsger­icht ein. Die obersten Richter in Karlsruhe hatten vor wenigen Jahren bereits den Streit um Altanschli­eßer aus Brandenbur­g auf dem Tisch. Hier hatten die vorherigen Instanzen ebenfalls die Regelungen für rechtmäßig erklärt – doch die Karlsruher Richter kippten diese dann. dpa/nd

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Foto: dpa/Sönke Möhl Alt- und Neuanschli­eßer schauen in die Röhre.

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