»Volksaufstand« statt Aufmarsch
Rechtsextremisten haben ihre Aktivitäten von der Straße in andere Bereiche verlagert
Aufmärsche gegen Flüchtlingsheime sind in den östlichen Bezirken zurückgegangen. Die Rechten demonstrieren stattdessen öfter in Mitte gegen die Regierung und Kanzlerin Angela Merkel (CDU). Die medienwirksame Aktion der rechten »Identitären-Bewegung« am Brandenburger Tor ist in der Aufzählung zu den Aufmärschen in Berlin des »antifaschistischen pressearchivs und bildungszentrums berlin« (apabiz) gar nicht enthalten. Im August vergangenen Jahres hatten rund 15 Rechtsextremisten das Wahrzeichen kurzfristig besetzt, Pyrotechnik gezündet und fremdenfeindliche Transparente aufgehängt, bevor die Polizei sie festnahm. Ebenfalls unbeachtet ließen die Rechercheure des apabiz die nahezu täglichen Miniaktionen von sogenannten Reichsbürgern vor dem Bundestag. Die vielen Kundgebungen mit ein bis zwei Teilnehmern hätten das Gesamtbild zu sehr verzerrt, hieß es.
Anders als noch vor dem Jahr 2014 gelingt es dem apabiz nicht mehr, jeden rechten Aufmarsch in der Hauptstadt selber zu beobachten – dazu hat sich die bloße Anzahl viel zu stark erhöht. »Wir beschreiben das als soziale Bewegung von Rechts«, sagt apabiz-Mitarbeiter Kilian Behrens. Doch auch wenn die Rechercheure nicht mehr immer selber vor Ort sein können, prüfen sie ihre Quellen für die Veranstaltungen genau.
Was die bloße Anzahl der Aufmärsche angeht, gab es im vergangenen Jahr eine erfreuliche Entwicklung: So ging von 2015 auf 2016 die Zahl der Aufmärsche und Kundgebungen von 234 auf 173 zurück. Der Rückgang betrifft auch jene rechten Veranstaltungen, zu denen mindestens 50 Teilnehmer erschienen waren.
Von diesen größeren Zusammenkünften gab es im vergangenen Jahr 75, im Jahr 2014 waren noch 95 solcher Aufzüge zu verzeichnen gewesen. Der quantitative Rückgang ist unterdessen mit Vorsicht zu genießen: Denn die Zahl der Teilnehmer aller Veranstaltungen stieg mit rund 19 600 Personen sogar leicht an. Mit 2000 Teilnehmern mit Abstand der größte Aufmarsch seiner Art war die »Merkel-muss-weg«-Demonstration im März 2016. Der Titel dieses Aufzuges zeigt, dass sich die verbliebenen Organisatoren und Teilnehmer der rechten Veranstaltungen zusehends radikaler gerieren.
Zwar standen im vergangenen Jahr weiter asylfeindliche und rassistische Motive im Zentrum, immer mehr Raum nimmt aber auch die generelle Systemkritik von Rechts ein. »Hass- erfüllte und rassistische Äußerungen, die eine offene Gesellschaft im Kern angreifen, werden immer selbstsicherer artikuliert«, sagt Behrens.
Besonders deutlich zeigt sich die besorgniserregende Entwicklung bei den verbliebenen 50 Rechtsextremisten, die auch nach zwei Jahren weiter wöchentlich bei »Bärgida« am Hauptbahnhof auflaufen, dem Berliner »Pegida«-Ableger. Dort werde inzwischen offen zum »Volksaufstand« aufgerufen, beobachteten nicht nur die Mitarbeiter des apabiz.
Wie hoch die Gefahr von Rechts weiter ist, zeigt darüber hinaus die aktuelle Anschlagsserie in Neukölln. Auch die Zahl der Attacken stadtweit liegt weiter auf einem hohen Niveau. »Wir haben bis jetzt 241 Angriffe für das Jahr 2016 vorliegen«, sagt eine Mitarbeiterin der Opferberatung Reach Out. Abschließend kann die Organisation aber für 2016 noch nichts sagen, weil nicht alle Zahlen vorliegen.
Dass sich der Abwärtstrend bei den Aufmärschen in diesem Jahr fortsetzt, ist indes unwahrscheinlich. Schließlich ist wegen des Bundestagswahljahrs zu erwarten, dass im Regierungsviertel zahlreiche rechte Aufmärsche gegen die Kanzlerin und die Regierung stattfinden werden.