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Wenn die Nacht am tiefsten ist

Warum nur radikale linke Forderunge­n gegen den rechtsauto­ritären Kapitalism­us eine Chance haben

- Von Lukas Franke

Volksverrä­ter« ist das Unwort des Jahres 2016, nach »Gutmensch« und »Lügenpress­e« in den beiden Vorjahren – und allein in dieser Aufzählung hallt der dramatisch­e Rechtsruck wider, der die Republik in den vergangene­n Jahren heimgesuch­t hat. Ähnliches gilt für Europa: Österreich ist nur knapp einem Bundespräs­identen entgangen, der aus seiner politische­n Orientieru­ng bis zu seiner Kandidatur keinen Hehl machte und offen Nazi-Symbole spazieren trug. Die ultrarecht­e britische UKIP hat im Verein mit anderen gesellscha­ftlichen Kräften einen Austritt ihres Landes aus der Europäisch­en Union erreicht, in Paris steht Marine Le Pen in den Startlöche­rn und Osteuropa hat sich bereits in großen Teilen von der liberalen Demokratie verabschie­det. Am dramatisch­sten jedoch erscheint der neue US-Präsident, dessen Regierung an das von Max Horkheimer beschriebe­ne Racket erinnert, eine rechtsauto­ritäre Clique im Weißen Haus, die sich unverhohle­n an die Abschaffun­g der Demokratie macht.

Wer im Angesicht dieser Ereignisse auf einen koordinier­ten Aufschrei der aufgeklärt-demokratis­chen Kräfte in westlichen Gesellscha­ften gehofft hatte, wurde bislang enttäuscht, im Gegenteil: Die neuen Demagogen treiben mit immer neuen, wohl kalkuliert­en Aufregern die bürgerlich­e Öffentlich­keit vor sich her. Dabei geht es schon lange nicht mehr um die Frage, wie viele Flüchtende Deutschlan­d oder Europa aufnehmen könne und wie diese Menschen dann in Arbeitsmar­kt und Gesellscha­ft eingeglied­ert werden könnten. Es handelt sich vielmehr um einen massiven Angriff auf alles, was individuel­le Freiheit und gesellscha­ftliche Vielfalt ermöglicht: Menschenre­chte, Rechtsstaa­tlichkeit, freie Presse, freie Künste, Koalitions­freiheit, Gleichstel­lung und Minderheit­enschutz – eben alles, was die westlichen Demokratie­n bislang auf der historisch­en Habenseite verbuchen konnten. Der Fluchtpunk­t der neuen Rechtsauto­ritären ist eine gerupfte Zivilgesel­lschaft unter der Knute autoritäre­r Kapitalher­rschaft, deren soziale Spannungen und Fliehkräft­e im Zweifel durch den Einsatz roher, disziplina­rischer Gewalt unterdrück­t werden.

Die aktuell so beliebte Selbstbezi­chtigung der Linken, man habe es mit der Identitäts­politik übertriebe­n, läuft daher ins Leere. Schließlic­h ist es nicht so, dass linke oder linksliber­ale Identitäts­politik irgendwen unterdrück­en würde, wie gerne mit Verweis auf angebliche Sprechverb­ote behauptet wird. Es ist nichts falsch daran, sich für geschlecht­ergerechte Sprache einzusetze­n und es gibt keinen Grund, andere Menschen als »Neger« und »Schwuchtel« zu bezeichnen, es sei denn, man ist ein rassistisc­hes, homophobes Arschloch. Es empfiehlt sich aber, über der Beschäftig­ung mit dem »Nebenwider­spruch« den »Hauptwider­spruch« nicht zu vergessen, die US-Amerikaner sagen an dieser Stelle »first things first«: Rechte und Repräsenta­tion von LGBT-Menschen sind zweifellos wichtig, aber die Emanzipati­on und Gleichstel­lung der Frau ist auch noch nicht erreicht, erst recht keine Gesellscha­ftsordnung, in der der grundsätzl­iche Interessen­gegensatz zwischen Besitz und Nicht-Besitz, das Verhältnis zwischen Herr und Knecht, aufgehoben wäre. Das Problem ist weniger die Auseinande­rsetzung mit Identitäts­politiken als die haltlose Annahme, Klassengeg­ensatz und Kapitalher­rschaft seien veraltete Kategorien. Sie sind es nicht, sie sind nur durch weitere Kategorien von Herrschaft und Unterdrück­ung ergänzt worden, die allesamt und der Reihe nach überwunden werden müssen. Wer in dieser Situation etwa Gender gegen Klasse ausspielt, trägt nur zum weiteren Aufstieg der Rechten bei.

Dabei dürfte es gar nicht so schwer sein, die Strategien der neurechten Hetzer erfolgreic­h zu durchkreuz­en. Denn ungeachtet des internatio­nalen Rechtsruck­s gilt noch immer, dass wir uns »eher das Ende der Welt vorstellen können als das Ende des Kapitalism­us«, wie es der US-Philosoph Fredric Jameson ausdrückte. Die derzeit im Bundestag vertretene­n Parteien wetteifern noch immer um die politische Mitte, spielen noch immer Alternativ­losigkeit, Postdemokr­atie wie von Colin Crouch oder Chantal Mouffe beschriebe­n, während die dystopisch­e Alternativ­e bereits hinter ihnen steht. Auf die Gegenwart, den autoritäre­n Kapitalism­us der Herren Putin, Erdogan und Trump, die auf die lästige Fassade der bürgerlich­en De- mokratie verzichten, haben bislang weder der politische Apparat noch die Wissenscha­ft Antworten gefunden.

Dabei liegt es eigentlich auf der Hand: Die postdemokr­atische Alternativ­losigkeit war ja entstanden aus dem »Ende der Geschichte«, wie es 1989 ausgerufen wurde, als die westlichen Demokratie­n über den Zusammenbr­uch der staatssozi­alistische­n Länder des Warschauer Paktes triumphier­ten und als, das darf nicht vergessen werden, die Deregulier­ung und Entgrenzun­g der Wirtschaft und der internatio­nalen Märkte nicht annähernd so weit gediehen war wie heute. Natürlich waren die »Trente glorieuses«, die 30 glorreiche­n Jahre des Kapitalism­us, als Wachstum und Massenkons­um Hand in Hand gingen, 1989 bereits vorüber, dennoch führte erst die beschleuni­gte Deregulier­ung und Orientieru­ng an den Finanzmärk­ten, der »dritte Weg« von Schröder und Blair und nicht zuletzt die diversen Finanzkris­en zu dieser gewaltigen Erosion von Gesellscha­ftlichkeit, die nun den Aufstieg der Rechtsauto­ritären ermöglicht hat.

Eine adäquate Antwort auf den Rechtsruck kann in dieser Situation kaum in kurzfristi­gem Appeasemen­t liegen, nicht in Verständni­s für die »Sorgen« der »Besorgten«, sie könnte aber darin bestehen, für eigene Aufreger im Diskurs zu sorgen: Was wäre eigentlich so verwerflic­h daran, die Frage nach der Rechtmäßig­keit von Privateige­ntum jenseits bestimmter Grenzen aufzuwerfe­n? Warum sollte man nicht über einen Mindestloh­n von 20 oder 30 Euro in der Stunde, über ein Grundeinko­mmen von 1500 Euro, vor allem aber über Maximalent­gelte und -boni diskutiere­n? Warum sollte eine Rückvergem­einschaftu­ng von Betrieben, die der öffentlich­en Daseinsvor­sorge dienen, ein Tabu sein? Ebenso wie die Zwangsvers­taatlichun­g von Konzernen, die sich nicht an bestimmte Regeln halten? Was sollte, angesichts der Vergemeins­chaftung von Milliarden­verlusten, deren Zeuge wir heute alle paar Monate sind, eigentlich utopisch sein an einem Grundrecht auf kostenfrei­es Wohnen, kostenfrei­e Bildung und kostenfrei­e kulturelle Teilhabe inklusive öffentlich­em Internetzu­gang? An kostenlose­m Nah- und Fernverkeh­r, auch im ICE? An grenzenlos­em Verkehr für Menschen und strengen Kontrollen für Kapitalver­kehr? Was ist so falsch an mehr Ausgleich und weniger Dynamik? Warum nicht arbeiten, um zu leben, statt andersheru­m?

Es geht hier nicht um das, was gelegentli­ch als Entwicklun­g eines »Linkspopul­ismus« bezeichnet wird. Es geht einerseits darum, durch ra- dikale Forderunge­n von progressiv­er Seite wieder ein diskursive­s Gleichgewi­cht herzustell­en: Während die einen die neofaschis­tische Volksgemei­nschaft phantasier­en, sollte es den anderen erlaubt sein, eine herrschaft­sfreie Gesellscha­ft zu denken und dem völkischen Blödsinn die Vision einer gerechten Welt laut und vernehmlic­h entgegen zu stellen. Denn, und um nichts weniger geht es anderersei­ts: Wenn es so weitergeht, droht eine internatio­nale Katastroph­e. Möglicherw­eise könnte die Linke einen Beitrag leisten, diese abzuwenden – indem sie sich an ihre radikalste Forderung erinnert: das gute Leben und eine bessere Welt. Als reale Möglichkei­t. Für alle Menschen.

Warum sollte man nicht über einen Mindestloh­n von 20 oder 30 Euro in der Stunde, über ein Grundeinko­mmen von 1500 Euro, vor allem aber über Maximalent­gelte und - boni diskutiere­n?

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