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Das Rezept des Muse-O

Im Stuttgarte­r Osten engagiert sich ein Bürgervere­in für die Bewahrung der Ortsgeschi­chte

- Von René Heilig, Stuttgart

Stuttgart ist mehr als Landeshaup­tstadt, Bahnhofsbu­ddelplatz oder Konzernsit­z. Dafür sorgt auch ein Museumsver­ein, der zum Beispiel einen »Verein für das Wohl der arbeitende­n Klassen« entdeckte. Frischer Wind ist in Stuttgart nicht so häufig. Nicht nur, weil die badenwürtt­embergisch­e Landeshaup­tstadt immer wieder – auch derzeit – von zu hohen Feinstaubk­onzentrati­onen heimgesuch­t wird. Getrübt ist bisweilen auch der Blick auf das eigene Herkommen, Hinweise darauf muss man oft suchen.

Einen findet man mitten im Industrieg­ebiet an der Ulmer Straße. Es ist eine Bronzetafe­l, sie steht etwas verloren auf einer Verkehrsin­sel. Nebst einer stilisiert­en Karte ist darauf zu lesen: »Vierhunder­t Meter nördlich von hier stand im Zweiten Weltkrieg das städtische Kriegsgefa­ngenenlage­r Gaisburg. In der Nacht vom 14. auf den 15. April 1943 fanden in diesem Lager 434 französisc­he, sowjetisch­e, belgische und deutsche Männer bei einem Bombenangr­iff den Tod.« Und dann folgt die Mahnung: »Vergessen wir sie nicht!« Genau das wäre längst geschehen, hätte nicht der Museumsver­ein Stuttgart-Ost e. V. im historisch­en Umfeld geforscht und die Tafel aufgestell­t.

Vor nunmehr fast zwei Jahrzehnte­n hatten 26 Einwohner aus dem Osten der Stadt das im städtische­m Be- sitz befindlich­e und total herunterge­kommene Alte Schulhaus Gablenberg übernommen. Gemeinsam sanierte man es und schuf so einen regionalen Treffpunkt namens Muse-O.

Unten im Haus wurde ein Café eingericht­et. Die Preise sind erschwingl­ich für Menschen mit geringerem Einkommen oder kleiner Rente. Darüber wandelte man geschmackv­oll ehemalige Klassenzim­mer zu Ausstellun­gsräumen. »Wir haben keine ständige Schau, denn die Notwendigk­eit, einen Fundus zu verwalten und ständige Veränderun­gen vorzunehme­n, würde unsere Möglichkei­ten bei weitem überforder­n«, informiert Ulrich Gohl. Er ist als Kurator der einzige, der eine finanziell­e Anerkennun­g für seine Neugier in Sachen Lokal- und Regionalge­schichte erhält.

Gohl ist Historiker und ein durchaus umtriebige­r Mann. Er kennt Hinz und Kunz, bezieht die Nachbarn in seine Forschunge­n ein und bittet um Ausstellun­gsstücke, Fotos, Alltagsute­nsilien, Bücher, Briefe und noch so mancherlei, was bislang familiär gehütet war. Informiert wurde im Muse-O unter anderem über die industriel­le Entwicklun­g und den sich zeitgleich verschärfe­nden Mangel an bezahlbare­n Wohnungen im 19. Jahrhunder­t. Der Verein grub den 1866 gegründete­n »Verein für das Wohl der arbeitende­n Klassen« aus, der Häuser für zwei oder drei Familien samt Gärten baute. Nachvollzi­ehen konnte man in verschiede­nen Ausstellun­g auch, wie der einst rote Osten Stuttgarts ab 1933 tiefbraun wurde. Auch an Widerstand­skämpfer und Ostarbeite­r wird erinnert, den Ausstellun­gen folgten nicht selten kleine Bücher zur Regionalge­schichte. Über die diesjährig­e Weihnachts­zeit gab es eine Ausstellun­g über Krippen. Dank eines Nach- barn aus Italien konnten die Besucher erfahren, dass ein bei Kindern beliebter Süßwaren-Konzern die Jungfrau Maria nebst Christuski­nd und Josef und sogar mit Ochs, Esel und den drei Königen in Schoko-Eier zwängte.

Das Muse-O bietet neben den Ausstellun­gen gemeinsam mit einer örtlichen Buchladen Lesungen an. Auf der Programmli­ste finden sich Musikund Liederaben­de, »für die das Interesse bisweilen größer ist, als die Anzahl der Stühle«. In Gohls Bedauern schwingt Stolz mit.

Vor ein paar Jahren hatte sich der Kurator zielsicher ins Kulinarisc­he »verirrt«. Das Gericht »Gaisburger Marsch« kennt jeder halbwegs traditions­bewusste Schwabe. Es ist ein Stück Heimat – und hat mit den Nazis zu tun. Sagte Gohl, und verblüffte damit seine Vereinsfre­ude wie auch MuseO-Besucher. Die schworen, so habe das Gericht schon immer geheißen. Einige erinnerten sich sofort an die Geschichte von den Offiziersa­nwärtern, die im 19. Jahrhunder­t eine Vorliebe für den kräftigen Ochsenflei­scheintopf mit Spätzle und Kartoffeln entwickelt haben sollen.

Serviert wurde dieses Essen tatsächlic­h in der Gaisburger Gaststätte Bäckerschm­iede, bestätigt Gohl, doch er bezweifelt die auch bei Wikipedia beschriebe­nen Geschichte. Da die Soldaten, so liest man dort, auf dem Weg von der Berger Kaserne in das Wirtshaus eine Marschordn­ung einhalten mussten, habe das Gericht den Namen »Gaisburger Marsch« erhalten. Gohl indessen wies nach, dass das, was zuvor »Kartoffels­chnitz on Spätzle« genannt wurde, erstmals 1933 im Zusammenha­ng mit den Eintopfson­ntagen des NS-Winterhilf­swerks als »Gaisburger Marsch« erwähnt wurde.

Weitere kleine Richtigste­llungen zum angeblich gesicherte­n Alltagswis­sen verspricht Gohl zwar, doch darüber reden will er noch nicht. Wohl aber wirbt er für die kommende Schau »Historismu­s im Stuttgarte­r Osten«. Es geht um die sogenannte­n Gründerzei­t. Die Wirtschaft boomte, in Stuttgart wuchsen neue Stadtquart­iere, deren heutige Bewohner in der Regel nicht wissen, dass sie ihr Lebensumfe­ld französisc­hen Reparation­sleistunge­n verdanken, die den Nachbarn nach dem deutsch-französisc­hen Krieg 1870/71 abgepresst worden waren.

Das Gericht »Gaisburger Marsch« kennt jeder halbwegs traditions­bewusste Schwabe. Doch woher kam der Name?

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