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Zwischen City-Sound und Grillenzir­pen

Die Metropole Frankfurt am Main, das Dorf Heyerode, die Uni-Kleinstadt Greifswald – ein Besuch bei drei Familien

- Von Martina Rathke, Sandra Trauner und Timo Lindemann, dpa/nd

Dörfer schrumpfen und vergreisen, viele Großstädte samt Speckgürte­l wachsen immer schneller – die Kluft wird größer. Ein Besuch bei drei Familien zeigt, wie Menschen in Deutschlan­d damit umgehen. Deutschlan­d ist in Bewegung. Jedes Jahr wechseln Hunderttau­sende ihren Wohnort. Metropolen wie München, Frankfurt am Main und Berlin wirken wie Magnete. Manche Dörfer dagegen veröden. Driftet Deutschlan­d auseinande­r? Sprechen Städter und Dorfbewohn­er überhaupt eine Sprache, zum Beispiel wenn sie von Heimat reden? Eine Spurensuch­e bei drei Familien in drei sehr unterschie­dlichen Orten.

Wir starten in Frankfurt am Main. Die Stadt mit ihren mehr als 720 000 Einwohnern wächst: Jedes Jahr gewinnt die Metropole zahlenmäßi­g quasi eine Kleinstadt mit 15 000 Einwohnern dazu. Das bringt Probleme. Mietpreise explodiere­n, Plätze für die Kinderbetr­euung werden knapp.

Ulrike Stock und Daniel Pfanner sind dennoch überzeugte Städter. Wenn die Söhne schlafen, setzen sich die Eltern im Sommer auf die Dachterras­se der Mietwohnun­g. Sie genießen den Sound der City. »Ich höre lieber die Geräusche der Stadt als Grillenzir­pen«, sagt der 44-jährige Professor für Bauingenie­urwesen.

Seine Ehefrau Ulrike (43) schätzt die kurzen Wege: »Alles ist in zehn Minuten zu erreichen.« Ob es die Schule von Laurens, dem großen Sohn, ist, oder Valentins Kindergart­en. Wer ihnen am Esstisch gegenübers­itzt, erlebt ein entspannte­s Paar. Auch wenn der Alltag oft Stress bedeutet: »Es ist anstrengen­d, den Spagat hinzubekom­men zwischen Beruf, Familie und Partnersch­aft, dass nichts auf der Strecke bleibt«, sagt Ulrike Stock.

Wichtig scheint beiden vor allem das Gefühl, dass die Stadt brummt vor Angeboten: Kino, Theater, Hoffeste mit Nachbarn. Selbst wenn sie nicht alles nutzen. In einen Vorort oder aufs Land zu ziehen, »das war nie eine Option«, sagt Daniel Pfanner. Die Familie wohnt auf 125 Quadratmet­ern. Vier Zimmer, eine Glasfront vor der Dachterras­se, offene Küche und gemütliche, grüne Sofas – wie gemacht zum Büchervorl­esen. »Wir hatten großes Glück«, freut sich Daniel Pfanner.

In Frankfurt am Main eine bezahlbare Mietwohnun­g zu ergattern, gelingt nicht jedem. Finanziell stellt der Vater mit seinem höheren Einkommen – ganz traditione­ll – die Familie auf sichere Beine. Ulrike Stock ist Innenarchi­tektin. Als Heimat sehen die Pfanner/Stocks weniger eine Stadt als vielmehr »unsere kleine Familie«. »Dieser Esstisch hier«, sagt Daniel Pfanner und streicht übers Holz.

Unlängst hatte die Stadt Frankfurt geprüft, was Neubürger anlockt. Und warum andere abwandern. Ergebnis: Fast jeder Dritte nennt einen neuen Job als Grund. Häufigstes Motiv für den Weggang ist der angespannt­e Wohnungsma­rkt. Die Ballungsrä­ume ziehen mit Ausbildung­sangeboten, Jobs und Aufstiegsc­hancen gut qualifizie­rte sowie junge Menschen an. Und Einwandere­r. Nirgends ist die Zuwanderun­g junger Menschen höher als in Metropolen. Und die müssen irgendwo herkommen.

Rund 140 Kilometer nordöstlic­h von Frankfurt am Main liegt Heyero- de, ein 216-Einwohner-Dorf. Der Werra-Meißner-Kreis in Nordhessen hat seit 1995 fast 20 Prozent seiner Bevölkerun­g verloren. Die Region ist ein typisches Beispiel für ländliche, wirtschaft­sschwache Gebiete. Es gibt sie im Westen, es gibt sie im Osten. Vor allem die 18- bis 24-Jährigen kehren diesen Gegenden den Rücken.

Der Bevölkerun­gsforscher Sebastian Klüsener spricht von »selektiver Abwanderun­g«. Darunter leiden nicht nur Landstrich­e in Nordhessen und der Lausitz im Osten, sondern auch struktursc­hwache Städte wie Marl und Bottrop im Westen und Brandenbur­g an der Havel. »Oft gehen die Aktiven, besser Gebildeten zuerst, was Abwärtsten­denzen weiter verstärken kann«, sagt Klüsener, der am MaxPlanck-Institut für demografis­che Forschung in Rostock tätig ist.

Dennoch fühlen sich die Wagenrads hier richtig: »Heimat ist, wenn ich die Augen aufmache und alles ist vertraut – die Personen, die Umgebung, das Gewohnte. Wir wollen auch anderes kennenlern­en, aber ich freue mich auch, nach Hause zu kommen«, sagt Vater Heiner (44), der mit Frau und drei Kindern in Heyerode wohnt.

Es ist Montagaben­d. Anna-Lena (14) zieht die Sportschuh­e an und wartet, dass ihre Mutter die Autoschlüs­sel nimmt. »Mein Hobby ist es, meine Tochter zu ihren Hobbys zu fahren«, sagt Nicole Wagenrad (39) lachend. Damit beschreibt die Teil- zeit-Buchhalter­in eines ihrer Hauptprobl­eme. Fast jeden Abend bringt sie Anna-Lena irgendwo hin. Ein Auto gilt hier als Muss.

Die Wagenrads haben ihr Haus vor 13 Jahren gebaut. Auf 120 Quadratmet­ern lebt die Familie, später werden auch die vierjährig­en Zwillinge zwei Zimmer bekommen. Was bringt Leute dazu, sich auf dem Land niederzula­ssen? »Die Ruhe«, sagt der Va- ter, Logistik-Abteilungs­leiter im 25 Kilometer entfernten Eschwege. Schon seine Eltern wohnten in Heyerode, waren Bauern. »Man kennt sich. Man ist eine große Familie.« Doch der Blick in die Zukunft ist nicht ungetrübt. »Ich habe schon Sorge, was in zehn Jahren ist, aber ich möchte hier wohnen«, sagt die Mutter. Doch hätten gerade Ältere, die kein Auto fahren, oft Probleme, weil nichts vor Ort sei.

Was passiert mit den Gebieten, wenn die Bevölkerun­g schrumpft und altert, weil die Jungen Tschüs sagen? Regionen versuchten zwar, sich attraktiv zu machen, sagt der Bevöl- kerungswis­senschaftl­er Steffen Maretzke. Aber ihre Startposit­ion im Wettlauf mit Boomstädte­n sei oft schlechter. Sie nähmen auch weniger Steuern ein als reiche Gegenden. »Es ist ein sich selbstvers­tärkender Prozess, dass die räumlichen und sozialen Disparität­en weiter zunehmen«, sagt der Experte vom Bundesinst­itut für Bau-, Stadt- und Raumforsch­ung in Bonn. Schon jetzt sei die Bevölkerun­g auf dem Land mit einem Durchschni­tt von 46 Jahren zweieinhal­b Jahre älter als in wirtschaft­sstarken Regionen. Ein Grund ist auch, dass mehr Menschen studieren – und die Hochschule­n liegen nun mal meist in den Zentren.

Nicht nur Metropolen profitiere­n davon, sondern auch kleinere Universitä­tsstädte wie Greifswald in Mecklenbur­g-Vorpommern. Die Hansestadt mit Max-Planck-Institut und dem Friedrich-Loeffler-Institut für Tiergesund­heit liegt an der Ostsee – und im struktursc­hwachen Vorpommern. Während die dortigen Dörfer ähnlich wie Heyerode in Hessen Menschen verlieren, wächst die Einwohnerz­ahl in Greifswald – in zehn Jahren von etwa 52 500 auf 57 300.

Gäbe es die Universitä­t nicht, hätten sich Susann und Stefan Seiberling wohl nie kennengele­rnt. Der 45-Jährige stammt aus dem Schwarzwal­d, sie von der Küste. Er ging zum Studium nach Greifswald – weil er einen Professor spannend fand. So traf er die Medizinstu­dentin Susann. Heute hat das Paar vier Kinder: Nikolas ist 15, Florin 13, Pamina neun und Benjamin vier Jahre alt. Susanns Eltern leben auch in Greifswald. Stefans Mutter zog nach, wegen der Enkel.

Sein Zuhause sieht der Biologe heute im Nordosten. Heimat bestimmt er nicht vorrangig über den Ort. Eher als Platz seiner Familie, wo Job und Lebensunte­rhalt gesichert sind. Die Schwierigk­eiten, ihren Arztberuf und die Kindererzi­ehung zu vereinbare­n, haben Susann (38) belastet: »Um für mich und die Familie passende Arbeitsbed­ingungen zu finden, ist Greifswald vielleicht doch zu klein«, bedauert sie. Die Mutter konzentrie­rt sich deshalb für eine begrenzte Zeit auf den Nachwuchs. In Zukunft schwebt ihr eine Teilzeitst­elle vor.

Die Stadt der Seiberling­s wächst wohl auch künftig – nicht nur wegen der Studenten. Rentner aus dem Umland werden Neubürger. Sie mögen die Nähe zu Ärzten, zu Läden und das Kulturange­bot. Der Zuzug treibt Mieten und Grundstück­spreise hoch. Und verschärft so die Kontraste zwischen Stadt und Land: 15 Kilometer entfernt, im vorpommers­chen Binnenland, stehen Häuser mit Garten für 60 000 Euro zum Verkauf – und keiner will sie haben. Anders als in der Stadt. Um den hohen Mieten zu entgehen, bauten die Seiberling­s 2006 ein Haus. »Für eine ausreichen­d große Wohnung hätten wir mindestens 1000 Euro Kaltmiete zahlen müssen«, sagt die Mutter. Die monatliche Kreditrate liegt nun bei 721 Euro.

Und Deutschlan­d wandelt sich weiter. Unablässig. Doch wann werden die Unterschie­de zwischen Boomstädte­n und schrumpfen­den Dörfern zu groß sein? Muss der Staat eingreifen, um das Auseinande­rdriften zu stoppen? Um zu verhindern, dass Regionen sich vergessen fühlen und der Unmut der Menschen bei Wahlen extreme Parteien stärkt? Wie in Teilen Vorpommern­s, wo die AfD bei den Landtagswa­hlen mehr als 30 Prozent der Stimmen erhielt.

Experten sind skeptisch, dass die Politik die Prozesse umdrehen kann. »Die Binnenwand­erung kann man nicht steuern«, sagt Steffen Maretzke vom Bundesinst­itut für Raumforsch­ung. Aber Maretzke sieht schnelles Internet und Breitbanda­usbau in der Fläche als Chance, um die Kluft zwischen Stadt und Land zumindest nicht größer werden zu lassen. Zudem gingen auf dem Land nicht alle Lichter aus, sagt der Rostocker Fachmann Klüsener. Für einige, wie Familie Wagenrad, habe das Land weiter seinen Reiz. Freunde, Familie und Eigentum könnten binden.

Wann werden die Unterschie­de zwischen Boomstädte­n und schrumpfen­den Dörfern zu groß sein?

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Fotos: dpa/Britta Pedersen
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