Zwischen City-Sound und Grillenzirpen
Die Metropole Frankfurt am Main, das Dorf Heyerode, die Uni-Kleinstadt Greifswald – ein Besuch bei drei Familien
Dörfer schrumpfen und vergreisen, viele Großstädte samt Speckgürtel wachsen immer schneller – die Kluft wird größer. Ein Besuch bei drei Familien zeigt, wie Menschen in Deutschland damit umgehen. Deutschland ist in Bewegung. Jedes Jahr wechseln Hunderttausende ihren Wohnort. Metropolen wie München, Frankfurt am Main und Berlin wirken wie Magnete. Manche Dörfer dagegen veröden. Driftet Deutschland auseinander? Sprechen Städter und Dorfbewohner überhaupt eine Sprache, zum Beispiel wenn sie von Heimat reden? Eine Spurensuche bei drei Familien in drei sehr unterschiedlichen Orten.
Wir starten in Frankfurt am Main. Die Stadt mit ihren mehr als 720 000 Einwohnern wächst: Jedes Jahr gewinnt die Metropole zahlenmäßig quasi eine Kleinstadt mit 15 000 Einwohnern dazu. Das bringt Probleme. Mietpreise explodieren, Plätze für die Kinderbetreuung werden knapp.
Ulrike Stock und Daniel Pfanner sind dennoch überzeugte Städter. Wenn die Söhne schlafen, setzen sich die Eltern im Sommer auf die Dachterrasse der Mietwohnung. Sie genießen den Sound der City. »Ich höre lieber die Geräusche der Stadt als Grillenzirpen«, sagt der 44-jährige Professor für Bauingenieurwesen.
Seine Ehefrau Ulrike (43) schätzt die kurzen Wege: »Alles ist in zehn Minuten zu erreichen.« Ob es die Schule von Laurens, dem großen Sohn, ist, oder Valentins Kindergarten. Wer ihnen am Esstisch gegenübersitzt, erlebt ein entspanntes Paar. Auch wenn der Alltag oft Stress bedeutet: »Es ist anstrengend, den Spagat hinzubekommen zwischen Beruf, Familie und Partnerschaft, dass nichts auf der Strecke bleibt«, sagt Ulrike Stock.
Wichtig scheint beiden vor allem das Gefühl, dass die Stadt brummt vor Angeboten: Kino, Theater, Hoffeste mit Nachbarn. Selbst wenn sie nicht alles nutzen. In einen Vorort oder aufs Land zu ziehen, »das war nie eine Option«, sagt Daniel Pfanner. Die Familie wohnt auf 125 Quadratmetern. Vier Zimmer, eine Glasfront vor der Dachterrasse, offene Küche und gemütliche, grüne Sofas – wie gemacht zum Büchervorlesen. »Wir hatten großes Glück«, freut sich Daniel Pfanner.
In Frankfurt am Main eine bezahlbare Mietwohnung zu ergattern, gelingt nicht jedem. Finanziell stellt der Vater mit seinem höheren Einkommen – ganz traditionell – die Familie auf sichere Beine. Ulrike Stock ist Innenarchitektin. Als Heimat sehen die Pfanner/Stocks weniger eine Stadt als vielmehr »unsere kleine Familie«. »Dieser Esstisch hier«, sagt Daniel Pfanner und streicht übers Holz.
Unlängst hatte die Stadt Frankfurt geprüft, was Neubürger anlockt. Und warum andere abwandern. Ergebnis: Fast jeder Dritte nennt einen neuen Job als Grund. Häufigstes Motiv für den Weggang ist der angespannte Wohnungsmarkt. Die Ballungsräume ziehen mit Ausbildungsangeboten, Jobs und Aufstiegschancen gut qualifizierte sowie junge Menschen an. Und Einwanderer. Nirgends ist die Zuwanderung junger Menschen höher als in Metropolen. Und die müssen irgendwo herkommen.
Rund 140 Kilometer nordöstlich von Frankfurt am Main liegt Heyero- de, ein 216-Einwohner-Dorf. Der Werra-Meißner-Kreis in Nordhessen hat seit 1995 fast 20 Prozent seiner Bevölkerung verloren. Die Region ist ein typisches Beispiel für ländliche, wirtschaftsschwache Gebiete. Es gibt sie im Westen, es gibt sie im Osten. Vor allem die 18- bis 24-Jährigen kehren diesen Gegenden den Rücken.
Der Bevölkerungsforscher Sebastian Klüsener spricht von »selektiver Abwanderung«. Darunter leiden nicht nur Landstriche in Nordhessen und der Lausitz im Osten, sondern auch strukturschwache Städte wie Marl und Bottrop im Westen und Brandenburg an der Havel. »Oft gehen die Aktiven, besser Gebildeten zuerst, was Abwärtstendenzen weiter verstärken kann«, sagt Klüsener, der am MaxPlanck-Institut für demografische Forschung in Rostock tätig ist.
Dennoch fühlen sich die Wagenrads hier richtig: »Heimat ist, wenn ich die Augen aufmache und alles ist vertraut – die Personen, die Umgebung, das Gewohnte. Wir wollen auch anderes kennenlernen, aber ich freue mich auch, nach Hause zu kommen«, sagt Vater Heiner (44), der mit Frau und drei Kindern in Heyerode wohnt.
Es ist Montagabend. Anna-Lena (14) zieht die Sportschuhe an und wartet, dass ihre Mutter die Autoschlüssel nimmt. »Mein Hobby ist es, meine Tochter zu ihren Hobbys zu fahren«, sagt Nicole Wagenrad (39) lachend. Damit beschreibt die Teil- zeit-Buchhalterin eines ihrer Hauptprobleme. Fast jeden Abend bringt sie Anna-Lena irgendwo hin. Ein Auto gilt hier als Muss.
Die Wagenrads haben ihr Haus vor 13 Jahren gebaut. Auf 120 Quadratmetern lebt die Familie, später werden auch die vierjährigen Zwillinge zwei Zimmer bekommen. Was bringt Leute dazu, sich auf dem Land niederzulassen? »Die Ruhe«, sagt der Va- ter, Logistik-Abteilungsleiter im 25 Kilometer entfernten Eschwege. Schon seine Eltern wohnten in Heyerode, waren Bauern. »Man kennt sich. Man ist eine große Familie.« Doch der Blick in die Zukunft ist nicht ungetrübt. »Ich habe schon Sorge, was in zehn Jahren ist, aber ich möchte hier wohnen«, sagt die Mutter. Doch hätten gerade Ältere, die kein Auto fahren, oft Probleme, weil nichts vor Ort sei.
Was passiert mit den Gebieten, wenn die Bevölkerung schrumpft und altert, weil die Jungen Tschüs sagen? Regionen versuchten zwar, sich attraktiv zu machen, sagt der Bevöl- kerungswissenschaftler Steffen Maretzke. Aber ihre Startposition im Wettlauf mit Boomstädten sei oft schlechter. Sie nähmen auch weniger Steuern ein als reiche Gegenden. »Es ist ein sich selbstverstärkender Prozess, dass die räumlichen und sozialen Disparitäten weiter zunehmen«, sagt der Experte vom Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung in Bonn. Schon jetzt sei die Bevölkerung auf dem Land mit einem Durchschnitt von 46 Jahren zweieinhalb Jahre älter als in wirtschaftsstarken Regionen. Ein Grund ist auch, dass mehr Menschen studieren – und die Hochschulen liegen nun mal meist in den Zentren.
Nicht nur Metropolen profitieren davon, sondern auch kleinere Universitätsstädte wie Greifswald in Mecklenburg-Vorpommern. Die Hansestadt mit Max-Planck-Institut und dem Friedrich-Loeffler-Institut für Tiergesundheit liegt an der Ostsee – und im strukturschwachen Vorpommern. Während die dortigen Dörfer ähnlich wie Heyerode in Hessen Menschen verlieren, wächst die Einwohnerzahl in Greifswald – in zehn Jahren von etwa 52 500 auf 57 300.
Gäbe es die Universität nicht, hätten sich Susann und Stefan Seiberling wohl nie kennengelernt. Der 45-Jährige stammt aus dem Schwarzwald, sie von der Küste. Er ging zum Studium nach Greifswald – weil er einen Professor spannend fand. So traf er die Medizinstudentin Susann. Heute hat das Paar vier Kinder: Nikolas ist 15, Florin 13, Pamina neun und Benjamin vier Jahre alt. Susanns Eltern leben auch in Greifswald. Stefans Mutter zog nach, wegen der Enkel.
Sein Zuhause sieht der Biologe heute im Nordosten. Heimat bestimmt er nicht vorrangig über den Ort. Eher als Platz seiner Familie, wo Job und Lebensunterhalt gesichert sind. Die Schwierigkeiten, ihren Arztberuf und die Kindererziehung zu vereinbaren, haben Susann (38) belastet: »Um für mich und die Familie passende Arbeitsbedingungen zu finden, ist Greifswald vielleicht doch zu klein«, bedauert sie. Die Mutter konzentriert sich deshalb für eine begrenzte Zeit auf den Nachwuchs. In Zukunft schwebt ihr eine Teilzeitstelle vor.
Die Stadt der Seiberlings wächst wohl auch künftig – nicht nur wegen der Studenten. Rentner aus dem Umland werden Neubürger. Sie mögen die Nähe zu Ärzten, zu Läden und das Kulturangebot. Der Zuzug treibt Mieten und Grundstückspreise hoch. Und verschärft so die Kontraste zwischen Stadt und Land: 15 Kilometer entfernt, im vorpommerschen Binnenland, stehen Häuser mit Garten für 60 000 Euro zum Verkauf – und keiner will sie haben. Anders als in der Stadt. Um den hohen Mieten zu entgehen, bauten die Seiberlings 2006 ein Haus. »Für eine ausreichend große Wohnung hätten wir mindestens 1000 Euro Kaltmiete zahlen müssen«, sagt die Mutter. Die monatliche Kreditrate liegt nun bei 721 Euro.
Und Deutschland wandelt sich weiter. Unablässig. Doch wann werden die Unterschiede zwischen Boomstädten und schrumpfenden Dörfern zu groß sein? Muss der Staat eingreifen, um das Auseinanderdriften zu stoppen? Um zu verhindern, dass Regionen sich vergessen fühlen und der Unmut der Menschen bei Wahlen extreme Parteien stärkt? Wie in Teilen Vorpommerns, wo die AfD bei den Landtagswahlen mehr als 30 Prozent der Stimmen erhielt.
Experten sind skeptisch, dass die Politik die Prozesse umdrehen kann. »Die Binnenwanderung kann man nicht steuern«, sagt Steffen Maretzke vom Bundesinstitut für Raumforschung. Aber Maretzke sieht schnelles Internet und Breitbandausbau in der Fläche als Chance, um die Kluft zwischen Stadt und Land zumindest nicht größer werden zu lassen. Zudem gingen auf dem Land nicht alle Lichter aus, sagt der Rostocker Fachmann Klüsener. Für einige, wie Familie Wagenrad, habe das Land weiter seinen Reiz. Freunde, Familie und Eigentum könnten binden.
Wann werden die Unterschiede zwischen Boomstädten und schrumpfenden Dörfern zu groß sein?