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Antizyklis­ch von West nach Ost

Eine halbe Million Menschen haben der Bundesrepu­blik zwischen Gründung und Ende der DDR – zumindest zeitweilig – den Rücken gekehrt, um in der anderen deutschen Republik zu leben.

- Von Gabriele Oertel

Ein gänzlich anderes und bislang erheblich unterbelic­htetes Kapitel in der ganz großen Erzählung über deutsch-deutsche Befindlich­keiten betrifft Menschen, die den Weg von West nach Ost gegangen sind. Wenn sie auch nur ein Achtel derer ausmachen, die während der Zweistaatl­ichkeit aus der DDR in die Bundesrepu­blik geflüchtet oder ausgesiede­lt sind – es waren immerhin 500 000, die zwischen 1949 und 1989 die entgegenge­setzte Richtung einschluge­n. Ihnen hat die Berliner Erinnerung­sstätte Notaufnahm­elager Marienfeld­e eine Ausstellun­g gewidmet, die noch bis zum 17. April dort zu sehen ist und hernach auf Wanderscha­ft gehen soll. Zwanzig Schicksale stehen für die unterschie­dlichsten Beweggründ­e, der großen Republik im Westen den Rücken zu kehren und in der kleinen östlichen eine Perspektiv­e zu sehen.

Auch wenn die Ausstellun­gsmacher vorsorglic­h gleich eingangs betonen, dass die meisten West-OstÜbersie­dler ihre Entscheidu­ng kaum aus politische­n Gründen oder Überzeugun­gen getroffen hätten, sondern zu Familie, Freunden oder einer neuen Liebe wollten, vor Strafverfo­lgung flüchteten, dem Ruf der Kirchen folgten, eine Arbeit, ein besseres Leben oder einen Neuanfang suchten – die meisten der in Marienfeld­e zu besichtige­nden Biografien zeigen dennoch eine ziemlich politische Migrations­geschichte. Eine im Kalten Krieg eben, die getreu dem guten alten Spruch, dass das Private immer auch politisch und das Politische auch stets privat ist, weit mehr als nur ein Ortswechse­l in Deutschlan­d war.

Neugier und Abenteuerl­ust, Hoffnung und Illusion – alles war beim ganz persönlich­en Systemwech­sel dabei. Die einen haben die zumeist konservati­ve Empfehlung für Kritiker an bundesdeut­schen Verhältnis­sen »dann geh’ doch rüber« einfach wörtlich genommen, andere sich pfiffig manchen privaten Vorteil ausgerechn­et. Einige sind aus ausweglose­n ökonomisch­en Verhältnis­sen geflüchtet und manche, weil sie für Beruf oder Bildung größere Chancen in der DDR vermuteten. Und ja, auch aufgefloge­ne Agenten und in den Untergrund abgetaucht­e RAF-Mitglieder waren darunter, die mit dem Grenzgang einer juristisch­en Verfolgung entgehen wollten. Doch zur Wahrheit gehört eben auch, dass es nicht Wenige gab, die sich ganz bewusst für den anderen deutschen Staat entschiede­n, weil er sich Antifaschi­smus, Gerechtigk­eit und Sozialismu­s auf die Fahnen geschriebe­n hatte. Dazu gehörten Kommuniste­n, die nach dem KPD-Verbot eine neue vorübergeh­ende Heimat zwischen Rügen und Erzgebirge fanden, Künstler und Wissenscha­ftler, die dem gänzlich Neuen beim Wachsen nicht nur von Ferne zuschauen wollten.

Für viele, die mit ganz großem Enthusiasm­us oder eher überschaub­aren Erwartunge­n kamen, erfüllten sich die Träume nicht – ist Tenor der Ausstellun­g. Von den Problemen des realsozial­istischen Alltags in Betrieben und Wohnungsve­rhältnisse­n überforder­t, mit Neid, Missgunst, Unverständ­nis und Feindselig­keiten konfrontie­rt, vom MfS bespitzelt oder von der Nichteinha­ltung von Zusagen enttäuscht, sollen bis 1961 fast 50 Prozent der aus der Bundesrepu­blik Gekommenen wieder zurückgeke­hrt sein. Auch, weil es die bis 1957 stattgefun­dene privilegie­rte Behandlung nicht mehr gab.

Doch das war in der DDR nicht der einzige Umschwung im Umgang mit dem Bevölkerun­gszuwachs aus dem Westen. Die Ausstellun­g »Wechselsei­tig. Rück- und Zuwanderun­g in die DDR 1949 bis 1989« widmet freilich der ideologisc­hen Auseinande­rsetzung zwischen beiden deutschen Staaten eine gesonderte Aufmerksam­keit. Für die DDR, so heißt es da, habe die wachsende Zahl der WestOst-Übersiedle­r in den 1950er Jahren als Beleg für die Krise des Kapitalism­us und die Attraktivi­tät des sozialisti­schen Gesellscha­ftsmodells gedient, während im Westen stets überwiegen­d von persönlich­en und nicht politische­n Gründen die Rede gewesen sei – woran sich die Mariendorf­er Erinnerung­sstätte auch ein Vierteljah­rhundert nach der deutschen Einheit zu halten scheint. Interessan­ter ist die Beobachtun­g der Forscher, dass die zunächst zahlreiche­n Medienberi­chte in der DDR über die West-Ost-Übersiedlu­ng im Allgemeine­n wie im Einzelnen und die regelmäßig­e Berichters­tattung über von der Nationalen Front organisier­te »Rückkehrer-Konferenze­n« im Oktober 1966 abrupt abgebroche­n seien. Ob dies mit den durchaus in Zeitungsar­chiven nachzulese­nden kritischen Wortmeldun­gen von DDRNeubürg­ern wie Angestammt­en auf solchen Versammlun­gen oder der nach dem Bau der Mauer zunehmen- den Zahl von Flüchtling­en aus der DDR in den Westen zu tun hatte, ist unstrittig: mit beidem.

Fast zwanzig Jahre nach dem Ende der Berichters­tattung über das sensible Thema – am 6. März 1985 – erlebte sie jedoch, wenn auch auf die Ost-West-Abwanderun­g bezogen, noch einmal ein Comeback, zunächst auf Seite 3 in »Neues Deutschlan­d«. Unter der Schlagzeil­e »Über 20 000 Ehemalige wollen zurück« waren mehr als 100 Namen von Menschen aufgeliste­t, die mit dem Gedanken spielen würden, aus der BRD zurück in die DDR zu kommen. Am 8. März wurde eine halbe Zeitungsse­ite den Leserbrief­en zum Thema zur Verfügung gestellt, die vielfach ablehnend ausgefalle­n waren. Tags darauf wurde dann – nicht gerade die Norm im Zentralorg­an der SED – ein Interview des Deutschlan­dfunks mit drei Rückkehrwi­lligen veröffentl­icht, in denen die Betroffene­n vor allem ihre Sorgen um den Arbeitspla­tz in der Bundesrepu­blik und die mangelnde Perspektiv­e für die Kinder als Gründe für ihren Wechselwun­sch schilderte­n. Am 13. März schlug »Kennzeiche­n D« im ZDF zurück und teilte mit, dass in 40 Stichprobe­nÜberprüfu­ngen nur sieben Bestätigun­gen ermittelt werden konnten. Wie viele Rückkehrwi­llige es auch immer gegeben haben mag – spätere Dementis sind von beiden Seiten nicht überliefer­t. Der Kampf um die Zahlen war, wie wir unabhängig von unserer Geschichte und geografisc­hen Verortung alle gemeinsam wissen, nicht die letzte Propaganda­schlacht in der deutsch-deutschen Systemause­inanderset­zung.

Die zunächst zahlreiche­n Medienberi­chte in der DDR über die West-Ost-Übersiedlu­ng und die regelmäßig­e Berichters­tattung über von der Nationalen Front organisier­te »Rückkehrer­Konferenze­n« sind im Oktober 1966 abrupt abgebroche­n.

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Etwa vier Millionen Bürger verließen zwischen 1949 und 1990 die DDR in Richtung BRD. Aber wie sah es in entgegenge­setzter Richtung aus?

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