Warum Ellen-Lea Schernikau als Zeitzeugin für die DDR wie die BRD gelten kann. Deutsch-deutsche Grenzerfahrung
Ich habe mir 23 Jahre Mühe gegeben, Bundesbürger zu sein. Es ist mir nicht gelungen. Ich geh’ wieder nach Hause.« Mit diesen Worten hat sich im September 1989 Dozentin Ellen-Lea Schernikau von ihren Klassen und Kollegen an einer gewerkschaftlichen Bildungseinrichtung in Hamburg aus der bundesdeutschen Staatsbürgerschaft verabschiedet. Ging mit 53 Jahren zurück nach Magdeburg, in jene Stadt in der DDR, die sie als 30-Jährige mit ihrem damals sechsjährigen Sohn – von dem zu diesem Zeitpunkt freilich noch nicht zu ahnen war, dass er einmal ein berühmter Dichter werden sollte – verlassen hatte.
Während über den 1991 verstorbenen Ronald M. Schernikau schon viel geschrieben wurde, ist seine Mutter zwar beinahe bei jeder Lesung seiner Texte in übervollen Sälen, bei ausverkauften Theateraufführungen oder bei vielen hitzigen Kolloquien zu der von ihm ausgehenden Inspiration für Linke dabei – sie selbst allerdings vermittelt ihre Zeitzeugenschaft für ein Leben in beiden deutschen Staaten einem vergleichsweise kleineren Publikum. Mal vor den Müttern für den Frieden, mal in Schulklassen zwischen Bayern und Brandenburg erzählt sie mit umwerfender Ehrlichkeit, einer Portion Selbstironie und vor allem großer Nachdenklichkeit von ihrer doppelten Systemreise.
Das freilich ist ein großes Wort. Denn das System war nicht der Grund, der Ellen Schernikau 1966 bewog, samt ihrem Sohn in den Kofferraum eines Diplomatenautos zu klettern und illegal die DDR zu verlassen. Im Gegenteil. Die junge Frau war Genossin. Nicht nur irgendwie, wie so viele, sondern mit ernsthaftem Engagement. Über die Doppelzüngigkeit vieler Mitstreiter in der SED konnte sie sich schon als junge Frau richtig aufregen. Ganz abgesehen davon, dass die Krankenschwester auch beruflich an der Medizinischen Akademie in Magdeburg als Ausbilderin von Schwesterschülerinnen relativ früh Verantwortung trug.
Noch vor dem Mauerbau war der Vater ihres Kindes mit dem Versprechen, die Familie nachzuholen, in den Westen gegangen, der Kontakt ist nie abgerissen. Die alleinerziehende Mutter war nicht nur verdammt verliebt und einsam, sondern felsenfest davon überzeugt, dass der Junge seinen Vater braucht. Trotzdem war sie sechs lange Jahre hin und her gerissen zwischen Heimat und Familienwunsch. Nach dem 13. August 1961, so erinnert sich Schernikau, sei sie sogar vorübergehend seltsam erleichtert gewesen, dass »andere mir meine Entscheidung abgenommen haben«. Doch der inzwischen in Hannover lebende Mann ließ nicht locker, organisierte und bezahlte die sogenannte Fluchthilfe, freilich ohne zu erwähnen, auf welche Art sie stattfinden würde – und so landeten Mutter und Sohn im wahrsten Wortsinn auf dunklen Wegen in der Bundesrepublik.
Ellen Schernikau war alt genug zu wissen, dass dieser Schritt keine Kleinigkeit war. Noch heute spricht sie davon, wie sie sich vor ihren Schülerinnen, Kollegen und Genossen schämte, welch schlechtes Gewissen sie gegenüber ihrer nichtsahnenden Mutter hatte. Vielleicht hätte sie das alles dennoch nicht als ganz so schlimm empfunden, wenn sie nicht eine halbe Stunde nach ihrer Ankunft im Westen, noch auf der Straße erfahren hätte, dass Ronalds Vater bereits wieder eine Familie gegründet hatte – und zudem ein Neonazi geworden war. Da stand sie nun in der fremden, anderen Welt mit dem Jungen an der Hand, der auch in den kommenden Jahren nie einen Draht zu seinem Vater finden sollte und den sie – aus heutiger Sicht ein großer Fehler – in ihre Traurigkeit nie einbezogen hat. Ein Zurück, so viel stand jedoch gleich zu Beginn für sie fest, hätte der Mutter Gefängnis und Ronald das Kinderheim gebracht. Also blieb trotz aller Tränen, Enttäuschungen, des Gefühlschaos’ und eines »jahrzehntelangen schlechten Gewissens«, nur, irgendwie Fuß zu fassen.
Beruflich ist das Frau Schernikau gelungen, weil sie intelligent, inte- Ellen Schernikau wurde im Herbst 1989 wieder Staatsbürgerin der DDR, zuvor lebte sie 23 Jahre in der Bundesrepublik. ressiert und eben gut ausgebildet war. Erst arbeitete sie als Nachtschwester, um tagsüber für den Sohn da sein zu können. Später war sie Pflegedienstleiterin und noch später Dozentin in der Erwachsenenbildung und lehrte vor künftigen Oberschwestern. Aber irgendwie fühlte sich all das nicht richtig an. »Ich machte Leute fit für ein System, das ich nicht mochte«, sagt die heute 80Jährige. Und erinnert sich an die vielen Reisen in die DDR, die nach dem Grundlagenvertrag Anfang der 1970er Jahre für sie wieder möglich waren. Damals wollte sie noch nicht wieder zurück in ihre alte Heimat, weil der Sohn noch wirtschaftlich von ihr abhängig war – aber aus dem Auge hat sie ihre »Rückreise« nie verloren. Bei einem ihrer ersten Besuche in Magdeburg ist sie sogar zu ihrem einstigen Direktor gegangen, so peinlich ihr die Angelegenheit auch war, um, wie sie sagt, »klare Verhältnisse« zu schaffen und von ihren Gründen für den Weggang aus der DDR zu sprechen, die – und das ist ihr bis heute wichtig – zu keinem Zeitpunkt politische waren. Der ExChef habe das verstanden, sagt sie kurz und hat auch in all den Jahren nichts davon gehört, dass unter den früheren Kollegen ein Scherbengericht über sie stattgefunden hätte, weil sie um ihre privaten Verhältnisse nie ein Geheimnis machte.
Geradezu belustigt erzählt Ellen Schernikau, wie sie später im Westen einmal zum Dezernenten bestellt wurde, weil eine Kollegin es für angeraten gehalten hatte, die Obrigkeit darüber zu informieren, dass die Frau aus dem Osten die Zeitung der DKP »Unsere Zeit« liest. Diesem Vorfall allerdings war eine lange Zeit vorausgegangen, in der die Enddreißigerin sich zwar stets »am falschen Ort« gefühlt hatte, aber nirgendwo jemanden fand, mit dem sie darüber sprechen konnte. Freilich hat sie ihre Meinung über die Bundesrepublik nicht verleugnet – aber politisch mischte sie sich fast ein Jahrzehnt nicht ein. »Man kann auch Marxist ohne Partei sein«, sagt sie beinahe trotzig. Und ist nicht ganz freiwillig diesem Grundsatz treu geblieben.
Als ihr inzwischen 16-jähriger Sohn eines Tages nach Hause kam, von der Sozialistischen Deutschen Arbeiterjugend und der DKP erzählte und meinte, die Mutter müsse nun endlich raus aus ihrer selbst auferlegten Emigration – da hat sie dessen Rat zwar befolgt, wurde aber kein Parteimitglied. Dreimal hat sie den Antrag gestellt, doch unter Verweis auf ein Abkommen zwischen SED und DKP – »keine Genossen, die die DDR verraten haben« – wurde er immer wieder abgelehnt. Nicht, dass Ellen Schernikau das gut gefunden hätte – aber mitmachen durfte sie ja auch als Nichtmitglied und allein die Tatsache, dass sie wieder unter Leuten war, mit denen sie reden konnte, war wichtig.
Der Rest der Geschichte ist schnell erzählt. Ronald hat noch vor dem Abitur in Lehrte sein erstes Buch, die »Kleinstadtnovelle«, geschrieben, Ehemalige DDR-Bürger schreiben an das SED-Zentralkomitee, warum sie zurück in die DDR möchten. »Neues Deutschland« dokumentierte vermeintliche oder tatsächliche Rückkehrwünsche am 6. März 1985. dessen Erstauflage nur nach Tagen vergriffen war, später Germanistik und Philosophie und zwischen 1986 und 1989 als erster und einziger Westberliner am Johannes-R.-Becher-Institut in Leipzig mit Dauervisum Literatur studiert. Seit 1988 bemühte sich Ellen Schernikau aktiv um eine Rückkehr in die DDR – und als ihr Sohn ihr 1989 sagte, dass er für immer in die kleinere deutsche Republik übersiedeln werde, hatte sie ihren Brief mit der Bitte um Wiederaufnahme gerade in den Postkasten gesteckt. Ronald war am 1. September, seine Mutter am 2. Oktober wieder zu Hause – in jenem Land, das auf dem Papier noch genau ein Jahr existieren sollte.
Für Ellen Schernikau fand sich wieder ein Platz in der Erwachsenenbildung, sie begann als Erzieherin im Studentenwohnheim in Magdeburg. Und musste alsbald wieder lernen zu schweigen. Denn kaum war die Grenze am 9. November geöffnet, zogen sich die Kollegen wieder von ihr zurück, um ungestört ihre Westerlebnisse zu diskutieren. »Sie wussten, wie ich dachte, und nicht wenige haben mich für verrückt erklärt, weil ich wiedergekommen bin«, erzählt sie kopfschüttelnd. Dass die Einrichtungen, in denen sie arbeiteten, bald den Bach runtergehen würden, hat ihr damals keiner geglaubt. Es kam aber so – und dass Schernikau Recht behielt, ist nicht nur den ganz persönlichen Erfahrungen mit zwei gesellschaftlichen Systemen geschuldet. »Theoretisch hätten es alle wissen müssen, was der Kapitalismus bringt« – sagt die 80-Jährige. »Und jetzt sind wir eben im Praktikum.«
Was wie ein Kalauer klingt, ist Ellen Schernikau bitterernst. Deshalb fährt sie wie ein Wanderprediger durchs Land, um jungen Leuten die Geschichte nahezubringen, Widersprüche erklären zu helfen, Vorurteile abzubauen, vor allem zum Nachdenken und zur eigenen Meinung anzuregen. Und – wie ihr Sohn es einmal formulierte – »im Kleinen auch das Große zu sehen«.