Machterhalt um jeden Preis
Der autoritäre Kurs Erdoğans hat lange vor dem Putschversuch 2016 begonnen.
Seit die AKP vor inzwischen 14 Jahren in der Türkei die Regierung übernommen hat, ist ihre Politik daran ausgerichtet, ihre Führungsposition auszubauen – und zwar unter allen Umständen. Bei der Mobilisierung von Wählergruppen oder der Auswahl ihrer Verbündeten verfolgt sie daher vor allem einen pragmatischen Ansatz und schert sich relativ wenig um moralische Überzeugungen und Werte. Dies haben politische BeobachterInnen und auch die Opposition in der Türkei zu spät erkannt – und manche Akteure unterliegen bis heute noch fatalen Irrtümern.
So hat zwar die säkulare und kemalistische Opposition die AKP schon früh nach der Machtübernahme im Jahr 2002 angegriffen, warf ihr jedoch vor, sie wolle die Türkei in einen islamistischen Staat verwandeln und eine islamische Gesetzgebung (»Scharia«) einführen. Aber auch diejenigen, die die AKP als demokratieförderlich eingeschätzt haben, lagen falsch. Viele Liberale, die sich gegen die säkulare und kemalistische Opposition stellten, weil sie die AKP als junge moderat-islamische Kraft begriffen, die es gegen die undemokratischen Staatseliten zu verteidigen galt, sollten diesen Irrtum in späteren Jahren teuer bezahlen.
Nach dem Regierungsantritt der AKP kam es in der Türkei zunächst zu einer ganzen Reihe von innen- und außenpolitischen Kursänderungen. Es gab vorsichtige erste Schritte in Richtung einer friedlichen Lösung des »Kurdenkonflikts«, und auch im Prozess der Annäherung an die Europäische Union schienen Fortschritte möglich zu sein. Die Hoffnung vieler war, dass die EU die Einhaltung demokratischer und menschenrechtlicher Mindeststandards verlangen und die AKP-Regierung diesen Forderungen graduell nachkommen würde.
Es gab zwar schon früh kritische Stimmen, die auf die autoritären Tendenzen der AKP-Regierung hinwiesen. Aber es war leicht, diese Stimmen als einseitig und interessegeleitet abzutun. In dem sich damals anbahnenden Machtkampf zwischen der AKP-Regierung und den Kemalisten setzten dann viele Liberale und auch Angehörige von Minderheiten auf die AKP und versprachen sich von ihr eine Politik der Demokratisierung und Aussöhnung.
Ausschaltung der Opposition Der AKP-Regierung kam zugute, dass auch ihre GegnerInnen aus unterschiedlichen Motiven abgelehnt wurden. So stießen die zahlreichen Festnahmen von kemalistischen und nationalistisch gesinnten PolitikerInnen, Militärangehörigen, Intellektuellen und JournalistInnen im Rahmen des Ergenekon-Prozesses ab 2007 lange Zeit auf wenig Protest. Es kam erst zu vermehrter Kritik, als nicht mehr zu übersehen war, dass die Regierung unter Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan diesen Prozess dazu nutzte, RegimegegnerInnen zu inhaftieren.
Ab 2009 kam es zu einer zweiten Repressionswelle, dieses Mal gegen vermeintliche Mitglieder der PKK-nahen Organisation Koma Civakên Kurdistan (KCK). Damit konnte die AKPRegierung in den Jahren 2007 bis 2013 ihre politischen GegnerInnen erfolgreich in Schach halten.
Gleichzeitig hat es die AKP geschafft, sich eine Massenbasis aufzubauen. Etwa 40 Prozent der Bevölkerung wählt seit 2002 recht konstant die AKP. Unter ihrer Regierung ist eine konservative Mittelklasse entstanden, die Stabilität mit der AKP verbindet. Aber auch Teile der ärmeren Schichten unterstützen sie, nicht zuletzt, weil die Partei Wahlbezirke mit dem Bau von Schulen und Straßen »belohnt«, in denen sie viele Stimmen erhält. Mit ihrer islamisch-konservativen Gesellschaftspolitik hat sie in den staatlichen und nicht staatlichen Bildungs- und Sozialeinrichtungen eine ganze Generation geprägt, deren Weltanschauung regierungskonform ist. Diese gesellschaftliche Wende hat die AKP im Übrigen in enger Partnerschaft mit der islamischen Gülen-Bewegung organisiert und vollzogen.
Zwischen 2002 und 2015 hat die Partei bei den Parlamentswahlen je- weils so viele Stimmen erhalten, dass sie ohne Koalitionspartner regieren konnte. Nachdem die Macht im Staatsapparat abgesichert war, machte sie sich ab 2009 daran, die einzige weiterhin sichtbare Bedrohung im eigenen Land zu beseitigen: die kurdische PKK. Misserfolge bei deren Bekämpfung hatten in den 1990er Jahren immer wieder zum Sturz von Regierungen geführt – diesem Schicksal wollte die AKP entgehen. Ausgestattet mit einem Gefühl der Überlegenheit ging die AKP davon aus, dass die kurdische Seite einem Friedensangebot zustimmen müsse. So begannen 2009, eingefädelt vom türkischen Geheimdienst MIT, inoffizielle Verhandlungen mit der PKK, während derer die Regierung die Repression gegenüber der kurdischen Bewegung und Zivilgesellschaft jedoch fortsetzte.
Zuerst sah es danach aus, als würde sich die PKK nicht auf das »Friedensangebot« der Regierung einlassen. Erst der Beginn direkter Verhandlungen mit dem inhaftierten PKKAnführer Abdullah Öcalan im Winter 2012 brachte spürbare Resultate. Nachdem die AKP-Regierung die Anerkennung der kurdischen Bevölkerung, ihre rechtliche Gleichstellung und ihre politische Beteiligung in Aussicht gestellt hatte, erfolgte 2013 ein Teilrückzug der PKK-KämpferInnen aus der Türkei nach Nordirak. Die Zahl der militärischen Zusammenstöße ging deutlich zurück. Allerdings blieb es bei einer relativen Waffenruhe.
Ein grundsätzliches Problem ist die Forderung der AKP-Regierung, die PKK müsse alle ihre Waffen abgeben, bevor offiziell verhandelt wird. Ein weiteres Hindernis ist die Politik der Türkei gegenüber der autonomen Region Rojava im Norden von Syrien. Dort dominieren PKK-nahe kurdische Kräfte und die Türkei versucht, die seit 2012 etablierten Selbstverwaltungsstrukturen zumindest zu schwächen. In gewisser Weise tragen Türkei und PKK in Rojava einen Stellvertreterkrieg aus.
Machtkampf im Staatsapparat Während Verhandlungen eine Zeit lang für Ruhe an der »kurdischen Front« sorgten, entstand an einer unerwarteten Stelle eine ernsthafte Bedrohung der AKP-Macht. Nachdem die AKP gemeinsam mit der islamischen Gülen-Bewegung mehr als zehn Jahre lang den Staatsapparat beherrscht hatte, kam es Ende 2013 zu einem ernsthaften Zerwürfnis. Die Gründe hierfür sind nicht ideologischer Natur, beide Parteien zielen auf eine islamisch-konservative Gesellschaft ab. Zerstritten haben sich die ehemaligen Bündnispartner vielmehr an der Frage, wer nach der erfolgreichen Eroberung der Staatsmacht welchen Anteil an Posten und Ressourcen erhalten soll.
Im Dezember 2013 ließ die GülenBewegung über ihre Anhänger innerhalb der Justiz und der Polizei 80 AKP-nahe Personen wegen Korruption festnehmen, darunter die Söhne von drei AKP-Ministern. Die AKPFührung reagierte mit der Strafversetzung von Polizeipräsidenten und der Entlassung der für die Festnahmen verantwortlichen Staatsanwälte. Damit war der Machtkampf offen entbrannt. Den vorläufigen Sieg soll- te die AKP-Regierung davontragen: Ende des Jahres 2014 war der Staatsapparat von allen bekannten Netzwerken der Gülen-Bewegung »gesäubert« worden.
Rückkehr des Krieges Währenddessen hatte der sogenannte Friedensprozess in der Türkei zu einer Entwicklung beigetragen, die von der AKP-Regierung weder so vorhergesehen worden war noch ihren Vorstellungen entsprach. Die kurdische Bevölkerung hatte damit begonnen, stärker als zuvor auf demokratische und zivilgesellschaftliche Bewegungen zu setzen. Dies hat die Barışve Demokrasi Partisi (BDP) gestärkt und zu einem Bündnis zwischen ihr und zahlreichen kleineren linken Parteien und Organisationen geführt, woraus schlussendlich die Halkların Demokratik Partisi (HDP) entstanden ist, mit der Absicht, diese zu einer Interessenvertretung der kurdischen Bevölkerung im türkischen Parlament zu machen.
Als diese bei den Wahlen am 7. Juni 2015 mit einem Ergebnis von 13 Prozent der Stimmen überraschend deutlich die Wahlhürde für das nationale Parlament überwand, begriff die AKP-Führung, dass der »Friedensprozess« für sie nicht mehr zweckmäßig war. Der Erfolg der HDP hatte dazu geführt, dass die AKP zum ersten Mal seit 2002 über keine absolute Mehrheit mehr im Parlament verfügte. Statt ernsthafte Koalitionsgespräche zu führen, wurde alles getan, um Neuwahlen herbeizuführen und die innenpolitische Lage eskalieren zu lassen, um den Aufstieg der kurdischen Oppositionspartei zu stoppen. Ein erneutes Aufflammen des kriegerischen Konflikts zeichnete sich ab, es brauchte nur noch einen Auslöser.
Am 20. Juli 2015 fand in der türkischen Stadt Suruç in der Nähe der syrischen Grenze ein Anschlag auf eine Gruppe von HelferInnen statt, die auf dem Weg nach Kobane in Rojava waren. Dieser Anschlag wurde dem »Islamischen Staat« zugeschrieben, aber viele gehen zumindest von bewusster Duldung durch den türkischen Geheimdienst aus. Als PKK-nahe Kräfte auf das Attentat mit der Ermordung zweier türkischer Polizisten reagierten, diente dies der türkischen Regierung als Rechtfertigung für Luftangriffe auf die PKK-Stellungen im Nordirak. In den folgenden Monaten wütete ein brutaler Krieg in den kurdischen Städten im Südosten des Landes, in dem über 8000 Menschen getötet und über 400 000 Menschen vertrieben wurden. Die AKP jedoch konnte von alldem profitieren. Aus den vorgezogenen Parlamentswahlen am 1. November 2015 ging sie erneut als stärkste politische Kraft (49,5 Prozent) hervor und kann wieder allein regieren.
Auf dem Weg in die Autokratie Als es am 15. Juli 2016 zum militärischen Aufstand gegen die Zivilregierung kam, zeigte sich recht bald, dass die Putschisten nicht ausreichend Unterstützung mobilisieren konnten. Den fehlgeschlagenen Militärcoup nutzte die AKP-Regierung unter Erdoğan jedoch zum Gegenschlag. Man hat bereits über 115 000 Staatsbedienstete entlassen. Mehr als 78 000 Menschen wurden festgenommen, über 37 000 von ihnen sitzen in Haft. Mehr als 2100 Vereine, Gewerkschaften, Schulen, Stiftungen sind verboten bzw. geschlossen worden. Auch die Angriffe auf die HDP, die bei den Wahlen im November 2015 erneut mit 10,8 Prozent der Stimmen in die türkische Nationalversammlung einziehen konnte, haben noch einmal deutlich zugenommen.
Spätesten seit ihrem Wahlerfolg im Juni 2015 ist die HDP zum Ziel staatlicher Repression geworden. Hunderte PolitikerInnen und AktivistInnen wurden festgenommen. Die Festnahme der beiden Parteivorsitzenden Selahattin Demirtas und Figen Yüksekdag und zehn weiterer Abgeordneter am 4. November 2016 war dann eine neue Stufe der Eskalation.
Bereits Ende Mai 2016 hatte das türkische Parlament die Immunität aller 59 HDP-Abgeordneten aufgehoben, und zwar mit Zustimmung der MHP und CHP. Während die nationalistische und rechte MHP aus Überzeugung heraus die antikurdische Linie der AKP unterstützt, gibt es in der kemalistischen CHP zumindest Bedenken, weil der autoritäre Kurs der AKP irgendwann auch die Existenz der eigenen Organisation gefährden könnte. Dennoch hat es die größte türkische Oppositionspartei bis heute nicht geschafft, sich gegen die Angriffe auf die HDP zu stellen – von einem Bündnis mit linken und kurdischen Kräften zur Rettung der Demokratie ganz zu schweigen.
Der anhaltende Ausnahmezustand hilft der AKP-Führung zudem dabei, andere lang gehegte kontroverse Gesetzesvorhaben durchzubringen. Am 10. Dezember ist von der AKP der Entwurf zu einer Verfassungsreform, die Voraussetzung für die Einführung eines Präsidialsystems wäre, ins Parlament eingebracht worden. Es ist kaum zu erwarten, dass die Abstimmung und das geplante Referendum nicht im Sinne der Regierungspartei ausgehen werden.
Derzeit scheinen nur noch zwei Faktoren eine Gefahr für die AKP darzustellen. Zum Ersten ist absehbar, dass der Krieg gegen die PKK militärisch langfristig nicht erfolgreich sein wird. Zum Zweiten droht der Türkei eine heftige ökonomische Krise, sollte irgendwann die Blase des kreditfinanzierten Wachstums zerplatzen. Der Wertverlust der türkischen Lira ist ein erstes Anzeichen dafür. Genau diese beiden Faktoren waren es, die in den 1990er Jahren die damaligen Regierungsparteien zur Fall brachten, was wiederum zur Gründung der AKP und deren Aufstieg an die Macht führte.
Die größte türkische Oppositionspartei, die kemalistische CHP, hat es bis heute nicht geschafft, sich gegen die Angriffe auf die HDP zu stellen – von einem Bündnis mit linken und kurdischen Kräften zur Rettung der Demokratie ganz zu schweigen.