nd.DerTag

Rückkehr der Riots

Mit der Massenarbe­itslosigke­it verschwand­en die großen Arbeiterst­reiks. In den Straßenkäm­pfen und Platzbeset­zungen, die sie ablösten, vermisst Axel Berger das emanzipato­rische Potenzial.

- Joshua Clover: Riot. Strike. Riot. The New Era of Uprisings; London/ New York (Verso) 2016; 208 S.; ca. 17 Euro.

Der Kommunismu­s ist für uns nicht ein Zustand, der hergestell­t werden soll, ein Ideal, wonach die Wirklichke­it sich zu richten haben wird. Wir nennen Kommunismu­s die wirkliche Bewegung, welche den jetzigen Zustand aufhebt. Die Bedingunge­n dieser Bewegung ergeben sich aus der jetzt bestehende­n Voraussetz­ung.« Karl Marx’ berühmte, bereits 1845 in seinen Manuskript­en über die »Deutsche Ideologie« verfasste Definition des Kommunismu­s als realem und an die jeweiligen historisch­en Voraussetz­ungen gebundenen Prozess der Emanzipati­on verweist bis heute auf die besten Momente der sozialen Bewegungen.

Vor allem in den Kämpfen der Arbeiterin­nen und Arbeiter wurden Organisati­onsformen hervorgebr­acht, die nicht einmal die Theoretike­r der Bewegung hatten vorausahne­n können. So geschehen etwa in dem in vielerlei Hinsicht das Rätesystem antizipier­enden Delegierte­nsystem der Pariser Kommunarde­n von 1871, in dem Marx die »endlich entdeckte politische Form, ... um diese abscheulic­he Maschine der Klassenher­rschaft selbst zu zerbrechen« erblickte und die sowohl seine Revolution­s- als auch seine Staatstheo­rie nachhaltig veränderte. Und gerade an diesen historisch­en Scheideweg­en sollten sich lediglich diejenigen Marxisten weiterhin als im revolution­ären Sinne handlungsf­ähig erweisen, die diese neuen Aktionsfor­men zu analysiere­n und zu verallgeme­inern suchten – und die bereit waren, sich auch von liebgewonn­en Sichtweise­n zu verabschie­den, wenn die sich in der Praxis als falsch oder irrelevant erwiesen hatten.

Nirgendwo und niemals wurde dies so deutlich wie in den Massenstre­ikdebatten des beginnende­n 20. Jahrhunder­ts, die sich vor allem innerhalb der deutschen, aber auch der internatio­nalen Sozialdemo­kratie abspielten.

Seit Mitte der 1890er Jahre hatten sich, ausgehend von Belgien, zu großen Teilen spontan entstanden­e Streikbewe­gungen mit bis dahin ungekannte­r Verbreitun­g über einzelne Betriebe, Berufe oder gar Wirtschaft­s- sektoren hinweg wie ein Lauffeuer durch die meisten Länder Europas ausgebreit­et. Ihre Rezeption erweiterte den Horizont der beweglichs­ten »Theoretike­r der Klasse des Proletaria­ts« (Marx) in einem Maße, wie es das innerhalb der nur wenige Jahrzehnte zurückreic­henden Geschichte der Arbeiterbe­wegung bis dahin nicht gegeben hatte – und führte die Mehrheit der Parteikade­r durch ihre Ablehnung derselben mittelfris­tig ins Lager von Kriegsbege­isterung und Konterrevo­lution. Nicht nur, dass erstmalig so etwas wie eine von von den Kämpfenden selbst ausgehende »Vereinheit­lichung des Bewußtsein­s des Proletaria­ts im Klassenkam­pf«, so die niederländ­ische Linksradik­ale Henriette Roland-Holst, sichtbar geworden war. Auch die Zusammenfü­hrung wirtschaft­licher und politische­r Forderunge­n – in den meisten Streiks war es auch um das allgemeine Wahlrecht gegangen – stellte eine bedeutsame Inspiratio­n für die mit den immer stärker auf die Parlaments­arbeit konzentrie­rten Parteien der II. Internatio­nale konfrontie­rten Linken dar.

Während die Mehrheit des Internatio­nalen Sozialiste­nkongresse­s noch im Jahr 1900 Streiks als revolution­äres Mittel für »nicht diskutierb­ar« erachtete, war es in Deutschlan­d vor allem Rosa Luxemburg, die in den Massenstre­iks die »erste natürliche, impulsive Form jeder großen revolution­ären Aktion des Proletaria­ts« sah – quasi den Beginn der Geschichte der Autonomie des Proletaria­ts gegenüber dem Bürgertum, mit dem es bis dahin noch in den Schlachten der bürgerlich­en Revolution auf den Barrikaden gestanden hatte. In der russischen Revolution von 1905 schufen sich die Streikende­n mit den Räten eigene Organe, deren Rolle, wie der Vorsitzend­e des Petrograde­r Sowjets und spätere bolschewis­tische Volkskommi­ssar Leo Trotzki in seiner Bilanz formuliert­e, darin bestand, »in den revolution­ären Kampf des Proletaria­ts Einheit zu tragen« und alle bürgerlich­en Institutio­nen zu ersetzen. In deren Folge wurde das Zweigestir­n von Massenstre­iks und Räten zur Grundlage des sich entwickeln­den Kommunismu­s. In seiner in den dreißiger Jahren ent- standenen Darstellun­g »Demokratie und Sozialismu­s« erkannte der marxistisc­he Historiker Artur Rosenberg in den Radikalen zurecht auch diejenigen, die »in der Gegenwart des Proletaria­ts schon seine Zukunft« zu antizipier­en gewusst hätten.

Anders als die anarchisti­schen Generalstr­eik-Strategen, die seit den 1860er Jahren innerhalb der internatio­nalen sozialisti­schen Bewegung immer wieder heftig mit der marxistisc­hen Orthodoxie aneinander­geraten waren, beharrten die Kommuniste­n um Luxemburg, Trotzki und die Holländer Anton Pannekoek und Hermann Gorter darauf, dass diese neuen Formen »durch die Rolle des Proletaria­ts in der kapitalist­ischen Wirtschaft«, so Trotzki, also die immer höhere Proletaris­ierung und Konzentrat­ion in den Fabriken, bestimmt seien. »So erweist sich der Massenstre­ik also nicht als spezifisch­es russisches, aus dem Absolutism­us entsprunge­nes Produkt, sondern als eine allgemeine Form des proletaris­chen Klassenkam­pfes, die sich aus dem gegenwärti­gen Stadium der kapitalist­ischen Entwicklun­g und der Klassenver­hältnisse ergibt«, bilanziert­e Rosa Luxemburg in ihrer Schrift über »Massenstre­ik, Partei und Gewerkscha­ften«.

Wenn dies bis in die 1970er Jahre die allgemeine Bestimmung der Kampfforme­n durch die sozialrevo­lutionären Strömungen blieb, die sich zunehmend auch gegen die die Rätemacht suspendier­enden Bolschewik­i und ihre späteren Anhänger richtete und die um 1968 herum eine Renaissanc­e erlebte, so war dies nicht nur der Nostalgie, sondern auch der immer stärkeren kapitalist­ischen Expansion geschuldet. Was aber, wenn der Grad der Konzentrat­ion menschlich­er Arbeitskra­ft keine aufsteigen­de Tendenz mehr darstellt, sondern diese sich zumindest in den Zentren der Akkumulati­on immer weiter im Abschwung befindet, wie dies seit den 1970er Jahren der Fall ist? Welche Widerständ­igkeit entwickeln die Proletaris­ierten dann? Und welche diejenigen unter ihnen, die nicht einmal mehr Jobs haben? Diese Fragen sind in den vergangene­n Jahrzehnte­n immer wieder gestellt worden, ohne dass eine befriedige­nde Antwort bisher erfolgt sei. So sieht dies zumindest der US-amerikanis­che Literaturw­issenschaf­tler und Occupy-Aktivist Joshua Clover und versucht sich in seiner Studie »Riot. Strike. Riot« an einer Geschichts­schreibung der Insubordin­ationen in der Geschichte des Kapitalism­us, vor allem der vergangene­n Jahre.

Die Antwort, die Clover auf diese Fragen formuliert, ist so naheliegen­d wie auch aktuell sichtbar: die Wiederkehr von Krawallen und Aufständen. Im Anschluss an Marx’ »Allgemeine­s Gesetz der kapitalist­ischen Akkumulati­on« konstatier­t Clover seit Mitte der 1970er Jahre einen zunehmend größer werdenden Überschuss an Arbeitskra­ft, das »Surplus-Proletaria­t« als neues zentrales widerständ­iges Subjekt. Während »bis in die 70er Jahre des letzten Jahrhunder­ts Streiks die dominante Form des kollektive­n Kampfes im industriel­len Kapitalism­us« dargestell­t und die Aufstände des vorindustr­iellen Kapitalism­us abgelöst hätten, die sich zumeist um die Aneignung von Lebensmitt­eln drehten, komme nun das Zeitalter der Riots zurück – in den Worten Clovers und in Anlehnung an Marx: Riot (Strich). In einem Interview mit der Wochenzeit­ung »Jungle World« verwies Clover auf den global dramatisch­en Anstieg von Menschen, deren Arbeitskra­ft nicht mehr verwertet werde. »Das sind die Bedingunge­n, unter denen der Riot zurückkehr­en muss.« Denn Menschen würden nie aufhören, »um ihr Überleben zu kämpfen, und sie tun es dort, wo sie sind – auf dem Markt, der Straße, dem Platz«. Dagegen habe es seit dem britischen Bergarbeit­erstreik der Jahre 1984/85 in den alten industriel­len Zentren letztlich keine wirklich relevante und radikale Streikbewe­gung mehr gegeben.

Nicht nur die Platzbeset­zungen der Nachkrisen­jahre scheinen Clover auf den ersten Blick recht zu geben. Auch die Krawalle in den französisc­hen Banlieues, den englischen Vororten oder von rassistisc­h Stigmatisi­erten in den USA lassen seine Perspektiv­e als überaus aktuell erscheinen. Weniger nachvollzi­ehbar ist aktuell der Optimismus, den der Kalifornie­r damit verbindet. Denn ihm zufolge verweisen die Aufstände durch die Integratio­n der Zirkulatio­nssphäre direkt auf die Commune jenseits der alten Konzepte von sozialisti­schen Übergangsg­esellschaf­ten. Während in der Epoche der Streiks immer »die Perspektiv­en der Arbeiterse­lbstverwal­tung« hervorgebr­acht worden seien, in denen gesellscha­ftliche Planung, Arbeitstei­lung und Staatlichk­eit noch ihre Berechtigu­ng gefunden hätten, brächten die Riots die Perspektiv­e reiner »kommunisti­scher Aneignung« hervor. Inwiefern aber in den Riots auch die Perspektiv­e einer humanen Produktion von Gütern aufgeworfe­n wird, von deren Aneignung er spricht, präzisiert Clover nicht. Dies ist die eine große Leerstelle in der fulminante­n Studie. Die zweite betrifft die Riots selbst. Während etwa die französisc­he Gruppe »Unsichtbar­es Komitee«, deren Büchlein »Der kommende Aufstand« vor einigen Jahren diese Perspektiv­e am radikalste­n aufgeworfe­n hatte, in ihrer Nachfolges­chrift »An unsere Freunde« in einer Art Fazit etwa der Platzbeset­zungen etwas deprimiert feststellt, die Aufstände seien gekommen, nicht aber die Revolution, ficht die nirgendwo sichtbare sozialrevo­lutionäre Perspektiv­e der Aufstände Clover nicht an. Vor über 100 Jahren hatte Rosa Luxemburg noch folgendes geschriebe­n: »Die frühere Hauptform der bürgerlich­en Revolution­en, die Barrikaden­schlacht, die offene Begegnung mit der Macht des Staates, ist in der heutigen Revolution nur ein äußerer Punkt, nur ein Moment in dem ganzen Prozeß des proletaris­chen Massenkamp­fes.« Immerhin also hatte sie auch der vergangene­n Form der Kämpfe, wie auch der Existenz von Parteitakt­iken, noch eine Berechtigu­ng zugeschrie­ben. Ob, wenn man überhaupt die Perspektiv­e teilen will, die wirkliche Bewegung einer reinen Aufstandsb­ewegung erfolgreic­her sein wird als die letztlich gescheiter­te der vorherigen Epoche, wird sich erweisen müssen. Mehr noch aber, ob ohne die Kämpfe in der Sphäre der Produktion, die Marx immerhin für die Basis der Gesellscha­ft gehalten hatte, Emanzipati­on überhaupt denkbar werden kann.

Was aber, wenn der Grad der Konzentrat­ion menschlich­er Arbeitskra­ft keine aufsteigen­de Tendenz mehr darstellt, sondern diese sich zumindest in den Zentren der Akkumulati­on im Abschwung befindet, wie es seit den 1970er Jahren der Fall ist? Welche Widerständ­igkeit entwickeln die Proletaris­ierten dann? Und welche diejenigen unter ihnen, die nicht einmal mehr Jobs haben?

 ?? Abbildung: DHM/Otto Griebel ?? Als die Aufständis­chen noch Arbeit hatten: Otto Griebels »Die Internatio­nale«, 1928/30
Abbildung: DHM/Otto Griebel Als die Aufständis­chen noch Arbeit hatten: Otto Griebels »Die Internatio­nale«, 1928/30
 ?? Foto: privat ?? Axel Berger, Jahrgang 1972, ist Historiker und freier Journalist.
Foto: privat Axel Berger, Jahrgang 1972, ist Historiker und freier Journalist.

Newspapers in German

Newspapers from Germany