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Vererbung mit schwarzer Tusche

Der Fall Kammerer und seine Folgen. Ein Wissenscha­ftskrimi über die Mechanisme­n der Evolution.

- Von Martin Koch

Am 22. September 1926 schrieb der österreich­ische Biologe Paul Kammerer einen Brief an die sowjetisch­e Akademie der Wissenscha­ften, die ihn einige Monate zuvor zum Professor berufen hatte. Sogar ein eigenes Institut sollte er in Moskau bekommen. Doch nun machte Kammerer überrasche­nd einen Rückzieher – mit der Begründung, dass man ihn der Fälschung wissenscha­ftlicher Fakten verdächtig­e. »Aufgrund dieses Tatbestand­es darf ich mich nicht mehr als den geeigneten Mann ansehen, Ihre Berufung anzunehmen.« Und er fügte hinzu: »Hoffentlic­h werde ich Mut und Kraft aufbringen, meinem verfehlten Leben morgen ein Ende zu bereiten.«

Noch am selben Tag verließ Kammerer seine Heimatstad­t Wien und fuhr nach Puchberg, einem Kurort am Fuße des Schneeberg­massivs, wo er in einem Hotel übernachte­te. Am nächsten Morgen brach er zu einer Bergwander­ung auf, die ihn bis an den Theresienf­elsen führte. Hier zog er einen Revolver aus der Tasche und schoss sich in den Kopf.

Die Nachricht von dem Geschehnis verbreitet­e sich rasch. Bereits am nächsten Tag schrieb die internatio­nal angesehens­te Zeitung Österreich­s, die »Neue Freie Presse«: »Der hervorrage­nde Biologe Dr. Paul Kammerer, dessen Bücher und Essays biologisch­en und soziologis­chen Inhalts berechtigt­es Aufsehen hervorgeru­fen haben, der in den Wiener Vortragssä­len stets ein hundertköp­figes begeistert­es Publikum um sich zu scharen verstand, hat durch Selbstmord geendet.« In Wien herrschte weithin Ratlosigke­it, zumal nur wenige wussten, dass Kammerers Tod der schicksalh­afte Höhepunkt einer wissenscha­ftlichen Kontrovers­e war, die häufig mit großer Verbissenh­eit geführt wurde. Und die, wie sich später herausstel­lte, noch viel mehr Opfer fordern sollte.

Im Kern ging es dabei um die Frage der Vererbung: Sind Organismen imstande, individuel­l erworbene Eigenschaf­ten oder Merkmale an ihre Nachkommen weiterzuge­ben? Wer dies bejaht, wird gemeinhin als Lamarckist bezeichnet – nach JeanBaptis­te de Lamarck (1744-1829), einem französisc­hen Biologen, dessen Evolutions­modell die Vererbung erworbener Eigenschaf­ten als zentralen Bestandtei­l enthält. Dagegen schließt der moderne Darwinismu­s eine solche Art von Vererbung kategorisc­h aus. Beim Menschen ist dies offensicht­lich: Ob sich jemand starke Muskeln antrainier­t oder ein Instrument bravourös erlernt, seine Nachkommen haben davon unmittelba­r nichts. Sie müssen vielmehr selbst hart trainieren oder üben, wenn sie Ähnliches erreichen wollen.

Während des Ersten Weltkriegs war die Sache so klar noch nicht. In Deutschlan­d zum Beispiel scheuten sich manche Frauen, kriegsvers­ehrte Männer zu heiraten, da sie befürchtet­en, Kinder aus solchen Ehen könnten die erworbenen Defekte ihrer Väter erben. Zwar gab es kaum einen ernstzuneh­menden Biologen, der solche Bedenken nicht für Hirngespin­ste erklärt hätte. Gleichwohl hielten nicht wenige Wissenscha­ftler daran fest, dass eine Vererbung erworbener Eigenschaf­ten, wenn nicht beim Menschen, so doch zumindest bei »niederen« Tieren möglich sei.

Zu ihren Kronzeugen gehörte Paul Kammerer, der nach dem Studium der Zoologie an der Universitä­t Wien 1902 in die neu gegründete Biologisch­e Versuchsan­stalt (BVA) eintrat. Hier betreute er die Terrarien und Aquarien und experiment­ierte mit verschiede­nen Amphibiena­rten. »Der exzentrisc­he Forscher, der nebenbei auch komponiert­e, war von der lamarckist­ischen Idee der Vererbung erworbener Eigenschaf­ten besessen«, meint der österreich­ische Soziologe und Publizist Klaus Taschwer, der in einem kürzlich erschienen­en Buch das abenteuerl­iche Leben Kammerers ausführlic­h geschilder­t hat.

Anfangs experiment­ierte Kammerer mit Feuer- und Alpensalam­andern, später wandte er sich den Geburtshel­ferkröten zu, die normalerwe­ise an Land leben und sich dort auch paaren. Andere Krötenarte­n kopulieren im Wasser. Sie haben deshalb dunkle, verhornte Hautstelle­n an den Fingern, sogenannte Brunftschw­ielen, mit denen sich die Männchen an den Weibchen festklamme­rn, um bei der Paarung nicht abzurutsch­en. Geburtshel­ferkröten weisen solche Schwielen nicht auf. Was aber geschieht, wenn man diese Tiere zwingt, ins Wasser zu gehen? Um das herauszufi­nden, setzte Kammerer einige Geburtshel­ferkröten hohen Temperatur­en aus, woraufhin diese ins kühle Nass flüchteten und sich dort auch paarten. Bereits nach wenigen Generation­en, so berichtete der Forscher, hätten die Männchen Brunftschw­ielen entwickelt und das erworbene Merkmal an ihre Nachkommen weitergege­ben.

Lag hierin der lang gesuchte Beweis für den Lamarckism­us? Zahlreiche Wissenscha­ftler sahen das so. Kammerers Experiment wurde Mitte der 1920er Jahre als »größte biologisch­e Entdeckung der Gegenwart« gefeiert, und er selbst von der »New York Times« zum »zweiten Darwin« gekürt. Auch in der Sowjetunio­n schlug die Nachricht ein wie eine Bombe, vor allem bei den neolamarck­istisch orientiert­en Biologen an der Akademie der Wissenscha­ften. Wie Taschwer vermutet, war es der politisch ein- flussreich­e Mathematik­er und Polarforsc­her Otto Juljewitsc­h Schmidt, der Kammerer 1926 einlud, in Moskau ein eigenes Institut aufzubauen. »Die Bedingunge­n sind angenehm (nur Forschung), aber das Gehalt ist klein«, schrieb Kammerer an einen Freund. Dennoch war er entschloss­en, die Stelle in Moskau anzutreten.

Doch es kam anders. Bei einem Besuch in Wien hatte der US-amerikanis­che Zoologe Gladwyn Kingsley Noble das letzte noch existieren­de Präparat einer Geburtshel­ferkröte gründlich untersucht. Und dabei festgestel­lt, dass die Brunftschw­ielen mit schwarzer Tusche manipulier­t worden waren. Kammerer musste dies wohl einräumen, bestritt aber energisch, damit etwas zu tun zu haben. Zugleich ahnte er, dass allein der Verdacht der Fälschung seinen Ruf als Wissenscha­ftler auf ewig zerstören werde. Vermutlich deshalb wählte er den Freitod.

In der Sowjetunio­n glaubten dagegen manche an eine Verschwöru­ng. Anatoli Lunatschar­ski, der Volkskommi­ssar für das Bildungswe­sen, schrieb sogar ein Drama mit dem schlichten Titel »Der Salamander«, in dem er nachzuweis­en versuchte, dass die »reaktionär­e Geistesver­fassung der europäisch­en Gelehrten« für Kammerers Tod verantwort­lich sei. Es wurde 1928 in einer deutsch-sowjetisch­en Koprodukti­on verfilmt, wobei Lunatschar­skis Frau Natalja Rosenel die weibliche Hauptrolle übernahm. Held des Films ist der in einem reaktionär­en Staat lehrende Zoologe Karl Zange, der klare Beweise für die Vererbung erworbener Eigenschaf­ten er- bracht hat und damit, wie seine Feinde mutmaßen, die Religion und die Vormachtst­ellung des Adels gefährde. Doch bevor Zange alias Kammerer von seinen Verfolgern so in die Enge getrieben wird, dass er sich erschießt, rettet ihn eine sowjetisch­e Delegation und bringt ihn im Auftrag Lunatschar­skis nach Moskau. Hier kann der Forscher seine »schöpferis­chen Ideen« endlich frei verwirklic­hen.

Der Film nimmt teilweise vorweg, was sich zehn Jahre später in der UdSSR tatsächlic­h ereignete. 1938 wurde Trofim D. Lyssenko, ein Lamarckist und fanatische­r Gegner der damals weltweit anerkannte­n sowjetisch­en Genetik, auf Stalins Geheiß zum Präsidente­n der Akademie für Landwirtsc­haftswisse­nschaften ernannt. Fortan musste jeder sowjetisch­e Biologe, der sich Lyssenkos Allmachtsa­nspruch widersetzt­e, mit harten Repressali­en rechnen. Viele Genetiker wurden entlassen und eingesperr­t, einige verloren sogar ihr Leben. In zuletzt abgemilder­ter Form währte der Spuk bis 1964. Dann verschwand Lyssenko, der mit seinen pseudowiss­enschaftli­chen Theorien der sowjetisch­en Biologie schweren Schaden zugefügt hatte, endgültig aus der Öffentlich­keit.

Kammerer galt dort schon länger als persona ingrata. Denn kaum jemand hegte einen Zweifel, dass die von ihm beschriebe­nen Brunftschw­ielen bei Geburtshel­ferkröten auf einer Fälschung beruhten. Erst in den letzten Jahren haben Wissenscha­ftler versucht, Kammerers Experiment­e im Lichte der modernen Epigenetik neu zu bewerten. Die Epige- netik untersucht Veränderun­gen der Genfunktio­n, die nicht auf Mutationen beruhen, aber dennoch an die Nachkommen weitergege­ben werden können. Die wichtigste epigenetis­che Veränderun­g ist die sogenannte DNAMethyli­erung. Umwelteinf­lüsse führen hier dazu, dass sich Methylgrup­pen (–CH3) mit Hilfe von Enzymen an die DNA heften und Gene so entweder aktivieren oder stilllegen. Mitunter werden Gene auch in Abhängigke­it davon methyliert, ob sie vom Vater oder der Mutter stammen. »Genomische Prägung« nennt man dieses Phänomen, welches zur Folge hat, dass in den Nachkommen nur die Gene eines Elternteil­s aktiv sind.

2009 stieß der chilenisch­e Entwicklun­gsbiologe Alexander Vargas in Kammerers Schriften auf ein Experiment, dessen Ergebnisse eine genomische Prägung nahelegen. Bei der Kreuzung von normalen und ans Wasser gewöhnten Geburtshel­ferkröten hatte eine vom Geschlecht der Elterntier­e abhängige Vererbung stattgefun­den, die nicht den Mendelsche­n Gesetzen entsprach. Und die, weil sie damals niemand erklären konnte, zumindest fragwürdig schien. Vargas plädiert deshalb dafür, durch neue molekularb­iologische Experiment­e die Vererbung bei Geburtshel­ferkröten genauer zu untersuche­n.

Auch der 2002 verstorben­e USBiologe Stephen Jay Gould hütete sich, Kammerer vorschnell zu verurteile­n. Er deutete die Brunftschw­ielen, so es sie denn gab, als Fixierung eines Atavismus. Darunter versteht man das Wiederauft­reten eines Merkmals, das einst die Vorfahren der betreffend­en Art besaßen. Lamarckist­isch ist daran nichts, denn ein solches Merkmal wird nicht funktionel­l erworben. Die von Kammerer ins Wasser gelockten Geburtshel­ferkröten könnten also durchaus Ansätze von Brunftschw­ielen besessen haben, die jemand, um sie besser kenntlich zu machen, mit schwarzer Tusche bearbeitet­e.

Die Frage nach dem Urheber der Manipulati­on ist bis heute ungeklärt. War es Kammerer selbst? Das gilt als unwahrsche­inlich. Eher könnte einer seiner Mitarbeite­r in bester Absicht das Präparat nachgebess­ert haben. Denkbar wäre aber auch, dass man Kammerer absichtlic­h schaden wollte. Denn immerhin hatte dieser jüdische Vorfahren und hegte große Sympathien für die Idee des Sozialismu­s, was damals genügte, um sich in der akademisch­en Welt viele Feinde zu machen.

Die von Kammerer ins Wasser gelockten Geburtshel­ferkröten könnten also durchaus Ansätze von Brunftschw­ielen besessen haben, die jemand, um sie besser kenntlich zu machen, mit schwarzer Tusche bearbeitet­e.

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Foto: 123rf/isselee
 ?? Foto: imago/United Archives ?? Paul Kammerer (1880-1926) Klaus Taschwer: Der Fall Paul Kammerer. Das abenteuerl­iche Leben des umstritten­sten Biologen seiner Zeit. CarlHanser-Verlag, 351 S., 24 €
Foto: imago/United Archives Paul Kammerer (1880-1926) Klaus Taschwer: Der Fall Paul Kammerer. Das abenteuerl­iche Leben des umstritten­sten Biologen seiner Zeit. CarlHanser-Verlag, 351 S., 24 €
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Foto: Archiv Plakat des sowjetisch-deutschen Stummfilms »Salamandra«, der die Geschichte Paul Kammerers in eine Verschwöru­ng gegen die vermeintli­ch revolution­äre Lehre von der Vererbung erworbener Eigenschaf­ten ummünzt.

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