Wer zu spät kommt ...
Selen, genauer: die selenhaltige Aminosäure Selenocystein, ist in der Evolution offensichtlich zu spät gekommen. Und wurde für ihre Verspätung tatsächlich bestraft. Obwohl unverzichtbarer Baustein vieler Proteine, bekam sie keinen Platz im genetischen Code. Dieser Code verschlüsselt die Baupläne der Proteine in der DNA (Desoxyribonukleinsäure). Jeweils ein Basen-Triplett, auch Codon genannt, steht für eine Aminosäure. Selenocystein hat kein einziges abbekommen. Alle 64 möglichen Codons wurden entweder auf die anderen 20 proteinbildenden Aminosäuren verteilt oder sie dienen als Signal zum Synthesestopp.
Viele Aminosäuren sind mehrfach codiert. Selenocystein fehlt anscheinend deshalb, weil es zur Lebensentstehung nicht notwendig war. Gebraucht wurde die Aminosäure erst, als Cyanobakterien anfingen, Sauerstoff zu produzieren. Vermutlich wurde dadurch fast das gesamte existierende Leben vernichtet. Selenhaltige Proteine können vor aggressiven Sauerstoff-Radikalen schützen. So musste die Evolution für das plötzlich dringend gefragte Selenocystein eine Hintertür finden!
Zur Proteinsynthese dienen kleine Organellen in den Zellen, Ribosomen genannt. Die ProteinBaupläne der DNA werden als RNA-Kopien (RNA: Ribonukleinsäure) zum Ribosom gebracht. Normalerweise dirigieren allein deren Tripletts die Abfolge der Aminosäuren.
Soll Selenocystein eingebaut werden, erscheint ein vermeintliches Stopp-Signal. Mit einem Trick zaubert die RNA daraus das fehlende Triplett! Wie eine Haarnadel gefaltet, stößt sie mit einem spezi- ellen Bereich und unterstützt von Proteinen, dem Ribosom in die Seite. Als Folge verändern sich die chemischen Eigenschaften des Stopp-Signals. Augenblicklich kann es ein eigens dafür gebildetes Selenocystein codieren und die Proteinsynthese läuft weiter. Ein komplizierter, störanfälliger Prozess. Aber er lohnt sich. SelenocysteinProteine sind unverzichtbar in unserem Bollwerk gegen »oxidativen Stress«. Etwa, wenn sie helfen, lebenszerstörendes Wasserstoffperoxid in Wasser umzuwandeln. Ein anderes Selenocystein-Enzym sorgt für die Bildung des aktiven Schilddrüsenhormons. Die Funktion vieler Selenproteine ist allerdings noch ungeklärt.
Selen wurde als Element vor fast 200 Jahren vom schwedischen Chemiker Jöns Jakob Berzelius entdeckt. Beim Verbrennen riecht es noch penetranter als Schwefel. Lange galt es ausschließlich als Gift. Erst in den 50er Jahren des vergangenen Jahrhunderts wurde seine Lebensnotwendigkeit erkannt.
Selen ist unverzichtbarer Bestandteil unserer Nahrung. Wir benötigen nur etwa 0,06 Milligramm pro Tag. Es ist in pflanzlicher und tierischer Kost enthalten. Doch der Selengehalt pflanzlicher Nahrung hängt stark vom Boden ab. Der ist in weiten Teilen Europas selenarm. Deshalb sind Fisch, Fleisch und Eier in Deutschland deutlich bessere Quellen. Trotz geringer Spanne zwischen Mangel und Giftwirkung, kann man bei normaler Mischkost kaum etwas falsch machen.
Der genetische Code ist praktisch für alle Lebewesen gleich und gilt als universell. Der für den Selenocystein-Einbau ist eine der wenigen Ausnahmen.