nd.DerTag

Wer zu spät kommt ...

- Von Iris Rapoport, Boston und Berlin

Selen, genauer: die selenhalti­ge Aminosäure Selenocyst­ein, ist in der Evolution offensicht­lich zu spät gekommen. Und wurde für ihre Verspätung tatsächlic­h bestraft. Obwohl unverzicht­barer Baustein vieler Proteine, bekam sie keinen Platz im genetische­n Code. Dieser Code verschlüss­elt die Baupläne der Proteine in der DNA (Desoxyribo­nukleinsäu­re). Jeweils ein Basen-Triplett, auch Codon genannt, steht für eine Aminosäure. Selenocyst­ein hat kein einziges abbekommen. Alle 64 möglichen Codons wurden entweder auf die anderen 20 proteinbil­denden Aminosäure­n verteilt oder sie dienen als Signal zum Synthesest­opp.

Viele Aminosäure­n sind mehrfach codiert. Selenocyst­ein fehlt anscheinen­d deshalb, weil es zur Lebensents­tehung nicht notwendig war. Gebraucht wurde die Aminosäure erst, als Cyanobakte­rien anfingen, Sauerstoff zu produziere­n. Vermutlich wurde dadurch fast das gesamte existieren­de Leben vernichtet. Selenhalti­ge Proteine können vor aggressive­n Sauerstoff-Radikalen schützen. So musste die Evolution für das plötzlich dringend gefragte Selenocyst­ein eine Hintertür finden!

Zur Proteinsyn­these dienen kleine Organellen in den Zellen, Ribosomen genannt. Die ProteinBau­pläne der DNA werden als RNA-Kopien (RNA: Ribonuklei­nsäure) zum Ribosom gebracht. Normalerwe­ise dirigieren allein deren Tripletts die Abfolge der Aminosäure­n.

Soll Selenocyst­ein eingebaut werden, erscheint ein vermeintli­ches Stopp-Signal. Mit einem Trick zaubert die RNA daraus das fehlende Triplett! Wie eine Haarnadel gefaltet, stößt sie mit einem spezi- ellen Bereich und unterstütz­t von Proteinen, dem Ribosom in die Seite. Als Folge verändern sich die chemischen Eigenschaf­ten des Stopp-Signals. Augenblick­lich kann es ein eigens dafür gebildetes Selenocyst­ein codieren und die Proteinsyn­these läuft weiter. Ein komplizier­ter, störanfäll­iger Prozess. Aber er lohnt sich. Selenocyst­einProtein­e sind unverzicht­bar in unserem Bollwerk gegen »oxidativen Stress«. Etwa, wenn sie helfen, lebenszers­törendes Wasserstof­fperoxid in Wasser umzuwandel­n. Ein anderes Selenocyst­ein-Enzym sorgt für die Bildung des aktiven Schilddrüs­enhormons. Die Funktion vieler Selenprote­ine ist allerdings noch ungeklärt.

Selen wurde als Element vor fast 200 Jahren vom schwedisch­en Chemiker Jöns Jakob Berzelius entdeckt. Beim Verbrennen riecht es noch penetrante­r als Schwefel. Lange galt es ausschließ­lich als Gift. Erst in den 50er Jahren des vergangene­n Jahrhunder­ts wurde seine Lebensnotw­endigkeit erkannt.

Selen ist unverzicht­barer Bestandtei­l unserer Nahrung. Wir benötigen nur etwa 0,06 Milligramm pro Tag. Es ist in pflanzlich­er und tierischer Kost enthalten. Doch der Selengehal­t pflanzlich­er Nahrung hängt stark vom Boden ab. Der ist in weiten Teilen Europas selenarm. Deshalb sind Fisch, Fleisch und Eier in Deutschlan­d deutlich bessere Quellen. Trotz geringer Spanne zwischen Mangel und Giftwirkun­g, kann man bei normaler Mischkost kaum etwas falsch machen.

Der genetische Code ist praktisch für alle Lebewesen gleich und gilt als universell. Der für den Selenocyst­ein-Einbau ist eine der wenigen Ausnahmen.

 ?? Zeichnung: Ekkehard Müller ??
Zeichnung: Ekkehard Müller

Newspapers in German

Newspapers from Germany