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Ujamaa verhieß Gerechtigk­eit

Vor 50 Jahren wurde in Tansania die Arusha-Deklaratio­n verabschie­det.

- Von Andreas Bohne Andreas Bohne arbeitet am Zentrum für internatio­nalen Dialog und Zusammenar­beit der Rosa-Luxemburg-Stiftung.

Heutige Begriffe der Zusammenar­beit wie Partizipat­ion oder Eigenveran­twortung hat Nyerere bereits früh geprägt.

Als Julius Kambarage Nyerere seine Vision einer egalitären Gesellscha­ft entwickelt­e, in der die Menschen gleicherma­ßen über Einkommen und Produktion­smittel verfügen würden und das Gemeinscha­ftsdenken Vorrang gegenüber einem individuel­len Handeln hätte, hatte er eine traditione­lle afrikanisc­he Großfamili­e vor Augen. Geprägt durch katholisch­e Soziallehr­e und liberalen Sozialismu­s, hatte Nyerere als Ministerpr­äsident Tanganjika 1961 in die Unabhängig­keit geführt. Als Staatspräs­ident sollte er von 1962 bis zu seinem Rücktritt 1985 fast ein Vierteljah­rhundert die Geschicke des Landes entscheide­nd mitbestimm­en. Sein ideologisc­hes Konzept von Ujamaa (Swahili-Begriff für Dorfgemein­schaft und Gemeinscha­ftssinn) entwickelt­e er Anfang der 1960er Jahre.

Am 5. Februar 1967 verabschie­dete die Tanganyika African National Union (TANU) unter seiner Führung die Arusha-Deklaratio­n. Sie markiert den Übergang von einem Diskurs der nationalen Unabhängig­keit hin zu einer selbststän­digen, sozialisti­schen Entwicklun­g. Bei der Arusha-Deklaratio­n handelt es sich um ein politische­s Aktionspro­gramm, das den Schwerpunk­t auf ländliche Entwicklun­g legte, egalitäre Solidaritä­t und eine gegen Privilegie­n ausgericht­ete Politik versprach. Obwohl diese Version eines Afrikanisc­hen Sozialismu­s historisch gescheiter­t ist, bietet sie auch für eine heutige Politik, die auf mehr soziale Gerechtigk­eit abzielt, noch Anknüpfung­spunkte.

Nyerere formuliert­e seine Idee eines afrikanisc­hen Sozialismu­s nicht primär für ein intellektu­elles Publikum, sondern für die tansanisch­en Bürger (wananchi); so wurde die Deklaratio­n zuerst in Kisuaheli diskutiert, bevor sie ins Englische übersetzt wurde. Die Arusha-Deklaratio­n betonte zum einen die Rolle des Staates bei der Verwirklic­hung einer sozialisti­schen Gesellscha­ft – und nahm gleichzeit­ig jeden Einzelnen wie auch die Staatspart­ei TANU für die Umsetzung und Überwachun­g der angestrebt­en Fortschrit­te in die Pflicht. Zum anderen hob sie – als zweiten ideologisc­hen Grundpfeil­er neben Ujamaa – die wirtschaft­liche Selbststän­digkeit und Unabhängig­keit (kujitegeme­a) hervor.

Sozialisti­sche Politik kennzeichn­et Nyerere mit einer völligen Abwesenhei­t von Ausbeutung. Dazu bedürfe es notwendige­rweise der staatliche­n Kontrolle über die Produktion­smittel durch eine von Arbeitern und Bauern eingesetzt­e, geführte und kontrollie­rte Regierung. Nicht durch Industrial­isierung, sondern durch die Förderung kooperativ­er Produktion­sund Vermarktun­gsorganisa­tionen in der Landwirtsc­haft sollten die Grundlage für eine eigenständ­ige Entwicklun­g geschaffen und die nötigen Gelder erwirtscha­ftet werden, die später für eine Industrial­isierung genutzt werden könnten.

Schnell wurden entspreche­nde Maßnahmen umgesetzt: Schlüssels­ektoren wie private Banken, Handelshäu­ser und Industrien wurden nationalis­iert, Ujamaa-Dörfer mit viel Aufwand gebaut.

Nicht alle waren mit der Politik Nyereres einverstan­den. Einige Monate vor der Verkündung der Arusha-Deklaratio­n hatten protestier­ende Studenten an der Universitä­t Dar es Salaam unter anderem ein Plakat mit der Aufschrift »Kolonialis­mus war besser« aufgestell­t. Anlass war die Einführung eines verpflicht­enden »Nationaldi­enstes« für Studenten; außerdem sollten sie freiwillig auf Teile ihres späteren Einstiegsl­ohnes verzichten. Nyerere ließ 300 Studenten exmatrikul­ieren und, so der tansanisch­e Marxist Issa Shivji, nutzte die Gelegenhei­t gleichzeit­ig, auch die Löhne von Parteifunk­tionären um 20 Prozent zu kürzen. Eine Grundlage für die wenig später verkündete Arusha-Deklaratio­n, in der dann auch Privilegie­n für Funktionär­e verboten wurden. Um der Entfremdun­g einer bürokratis­chen Elite und des Verwaltung­sapparates von vornherein entgegenzu­treten, sollten Parteifunk­tionäre keine Aktien besitzen und keine Direktoren­posten bei privaten Unternehme­n bekleiden, zwei oder mehr Gehälter beziehen oder Häuser vermieten dürfen.

Mit dem forcierten, noch freiwillig­en Bau von »Ujamaa-Dörfern« fühlten sich lokale Parteipoli­tiker zunehmend in ihrem Handlungss­pielraum eingeschrä­nkt. Nach Shivji ließ der kleinbürge­rliche Charakter der Bürokraten und Funktionär­e das Konzept der Ujamaa scheitern. Zudem führte die zunehmende Unsicherhe­it über Land, das zwar im Besitz des Staats war, doch von Bauern und Pastoralis­ten traditione­ll genutzt wurde, zu Konflikten zwischen staatliche­n Strukturen und lokalen Gemeinscha­ften. Als Anfang der 1970er Jahre eine Dürre einsetzte und Nyerere einen Produktion­srückgang fürchtete, wurde die Kollektivi­erung der Ujamaa-Dörfer aggressive­r, spä- ter teils zwangsweis­e durchgefüh­rt. Obwohl die Zahl von sozialisti­schen Dörfern schnell wuchs und viel Geld investiert wurde, erzielten sie nicht die erwünschte­n Erfolge. Gründe dafür waren Korruption, schlechte Planung, gewaltsame Vertreibun­g von Bauern sowie die Unfähigkei­t der staatliche­n Handelsges­ellschaft und halbstaatl­icher Strukturen.

Auch Nyerere, das Scheitern seiner Vision vor Augen, handelte immer autoritäre­r. Dabei stand sein Handeln im Gegensatz zu seiner Fähigkeit zur Selbstkrit­ik. Zehn Jahre nach der Deklaratio­n bilanziert­e er Fortschrit­te in der Umsetzung, keineswegs ohne die nicht erreichten Ziele zu verschweig­en: Klassengeg­ensätze konnten zwar nicht aufgehoben, aber Ungerechti­gkeiten abgemilder­t und eine bessere Grundverso­rgung in den Bereichen Bildung und Gesundheit erreicht werden, ohne in allen ländlichen Gebieten ausreichen­d zu sein. Die landwirtsc­haftlichen Erträge seien »enttäusche­nd«.

Das Konzept der Ujamaa fand viele Unterstütz­er in europäisch­en Staaten. Entwicklun­gshilfe oder Darlehen sorgten für einen hohen Zufluss an Geldern, obwohl Nyerere in der Arusha-Deklaratio­n vor der Abhängigke­it oder dem Warten auf ausländisc­he Gelder, sei es in Form von finanziell­en Geschenken oder Krediten, gewarnt hatte. Viele Projekte waren erfolglos oder unrentabel. Einzelne landwirtsc­haftliche Projekte zum Anbau exportorie­ntierter Produkte wurden durch neoliberal­e Vorkämpfer wie USAID oder Weltbank gefördert. In der Folge entglitt den tansanisch­en Akteuren allmählich die Hoheit über Entwicklun­gsdiskurs und -politik. Das große Ziel einer selbststän­digen Entwicklun­g rückte mit den Jahren in immer weitere Ferne.

1985 trat Nyerere von seinem Präsidente­namt zurück. Die nachfolgen­de Politik der wirtschaft­lichen Liberalisi­erung unter Maßgabe von Wachstum und »Entwicklun­g« brachte eine politisch-ökonomisch­e Oligarchie hervor, die Nyerere auch rückblicke­nd die Arusha-Deklaratio­n verteidige­n ließ: Zwar sei durch sie die Armut nicht beseitigt worden, aber die Deklaratio­n habe Hoffnung auf soziale Gerechtigk­eit gegeben und so zum Frieden beigetrage­n. Stattdesse­n sitze man nun auf einem sozialen Vulkan.

Nach Jahrzehnte­n fehlgeschl­agener Strukturan­passungspr­ogramme und Liberalisi­erung wird Nyereres Politik derzeit wieder positiver bewertet als in den Jahren unmittelba­r nach seinem Rücktritt. Heutige Standardbe­griffe der Entwicklun­gszusammen­arbeit wie Partizipat­ion oder Eigenveran­twortung hatte Nyerere bereits früh geprägt.

Der gegenwärti­ge Präsident John Magufuli schlägt gegenüber seinen Vorgängern einen eher staatswirt­schaftlich­en Weg ein. Sein Eintreten für kostenlose Schulbildu­ng oder heimische Nutzung natürliche­r Ressourcen sowie für die Bekämpfung von Korruption erinnert an Nyereres Politik. Eine neue linke Partei, ACT Wazalendo, nimmt in ihrem programmat­ischen Papier, der Tabora-Deklaratio­n, direkt Bezug auf die ArushaDekl­aration und konstatier­t Parallelen zwischen 1967 und der aktuellen Situation.

Differenzi­ert ist die gesellscha­ftliche Rezeption: Ältere Generation­en sehen die Arusha-Deklaratio­n als gemeinsame Vision mit Bereitstel­lung öffentlich­er Dienste, geringerer Korruption oder uneigennüt­ziger Politiker. Jüngere Generation­en dagegen besitzen nur ein geringes Wissen über Inhalte der Deklaratio­n, obwohl es unter den aktuellen Bedingunge­n als Referenz dienen sollte.

Die Arusha-Deklaratio­n, urteilt der tansanisch­e Professor Haroub Othman rückblicke­nd, sei nicht ohne Mängel und die Umsetzung keineswegs erfolgreic­h gewesen – dafür aber einzigarti­g, selbstbewu­sst und hoffnungsv­oll. Und der Afrikawiss­enschaftle­r Walter Schicho betont zu Recht: Mit der Ujamaa-Politik wurde der Mensch wieder stärker ins Zentrum der Politik gestellt, während der »Entwicklun­gsstaat« eine Vision blieb.

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Foto: United Archives Julius Kambarage Nyerere, Präsident von Tanganjika/Tansania von 1960 bis 1985

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