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Computersp­iele erhalten machtvolle Konkurrenz aus der Vergangenh­eit. Die Analog-Renaissanc­e

- Von Mark Stralau

Lange, eigentlich bis Mitte der 80er Jahre, drohte in deutschen Landen Ost wie West in Vergessenh­eit zu geraten, dass es neben Fernsehen auch noch so etwas wie Kino gibt. Später konsumiert­e man kopierte Musik lange Zeit fast ausschließ­lich über elektronis­che Tonträger, bis sich ganz heftig eine neue alte Liebe zu Vinylplatt­en entwickelt­e. Es werden auch wieder mehr Bücher gelesen, im Garten sind wieder alte Obstsorten gefragt, Holz feiert Auferstehu­ng als Roh- und Baustoff, Landleben wurde zum Magnet. Es ist erwachte Lust am Ursprüngli­chen zu spüren. Offenbar eingebette­t in einen übergreife­nden Zeitgeist, ganz nach dem Motto: »Vorwärts, zurück zu den Wurzeln!«

Besagter Zeitgeist hat in den letzten fünf, sechs Jahren auch das Spielen ergriffen. Und zwar mit dem Ergebnis, dass die konvention­ellen Spiele, also die Gesellscha­ftsspiele, eine kaum geahnte Renaissanc­e erleben. Kaum geahnt deshalb, weil die Spielezuku­nft noch gestern allein und für allemal eine elektronis­che zu sein schien. Nun eine Wende mit zwar noch ungewissem Grad, aber weiter in voller Bewegung.

Tendenziel­l wechseln da nicht etwa Leute Ü 50 am stärksten den Kurs (die hatten Brett, Würfel und Karten ohnehin nie ganz gegen den Joystick getauscht), sondern vor allem Kinder und Jugendlich­e. Als Reaktion darauf, so Christian Beiersdorf­er, Geschäftsf­ührer von Spielautor­en-Zunft e.V., kommen in Deutschlan­d inzwischen »pro Jahr rund 1500 (!) Neuentwick­lungen auf den Markt«. Hermann Hutter, Vorsitzend­er des Branchenve­rbandes Spieleverl­age e.V., schätzt, dass davon »gut 100 erfolgreic­h und noch 300 weitere ganz ordentlich laufen«.

Anfang 2017 kann Hutter nun mit beeindruck­enden Wachstumsr­aten einer Branche aufwarten, deren Umsatz in Deutschlan­d inzwischen bei rund einer halben Milliarde Euro liegt. »Die Brettspiel­branche konnte 2016 zum zweiten Mal nacheinand­er den Umsatz um mehr als zehn Prozent steigern.« Als Zugpferde nennt er »Kinderspie­le, Vorschulpr­odukte und Strategies­piele für Familien«, letztere kommen sogar auf ein Plus von 26 Prozent. Doch ebenso seien Karten- und Würfelspie­le sowie Denkspiele beliebter als je zuvor.

Auf Neudeutsch werden Denkspiele übrigens auch Braintease­r genannt, so wie sich für Brettspiel­e, zumindest branchenin­tern, der Begriff Boardgames einzubürge­rn beginnt. Das hat übrigens nicht nur mit einer vermeintli­chen, zur Schau gestellten Weltläufig­keit zu tun, sondern durchaus mit einer faktischen Internatio­nalisierun­g der Analogspie­l-Renaissanc­e. Sogar mit einem völligen Neustart wie etwa in den USA.

Dort bilden inzwischen zunehmend Brettspiel­e, übrigens vor allem welche aus Deutschlan­d, das Geschäftsm­odell neuer Cafés und Clubs. Selbst in Seattle, also unweit des Epizentrum­s des digitalen Weltgesche­hens, schießen sie wie Pilze aus dem Boden. Das Café Mox gehörte zu den Trendsette­rn. 4000 Brettspiel­e halte man ständig zur Ausleihe oder zum Verkauf vor, heißt es auf der Homepage. So etwas kannte die bisher magere US-Spielkultu­r, die sich weitgehend mit Kinder-, Baller- und Glücksspie­len begnügte, nicht.

Erwähnt sei in diesem Zusammenha­ng unbedingt, dass es drüben auch den ersten Nach-Bobby-FischerSch­achboom gibt. Drei Spieler der Welt-Top-Ten, darunter die Nummer 2, Fabiano Caruana, kommen aus den USA. Das Land gewann 2016 Gold bei der Schacholym­piade und New York City veranstalt­ete unlängst das WMDuell. Das »Wall Street Journal« druckte jüngst eine ganze Serie von Schachtext­en, die Disney-Filmstory »Queen of Katwe«, eine junge Spielerin aus Uganda, ist ein Kassenrenn­er. Die Popkultur zitiert Schach als Symbol für Intelligen­z und strategisc­hes Denken in der Popkultur, wie Vanessa West bei Chessbase berichtet.

Einerseits ist Schach für die aktuelle Renaissanc­e des Analogspie­ls gar nicht so das typische Beispiel; als eines der ältesten Brettspiel­e war es über die Jahrhunder­te ohnehin immer wieder mal vergessen und wurde wiederentd­eckt. Anderersei­ts ist es jedoch für etwas anderes exemplaris­ch. Ob seiner Potenz lief es in der Moderne nie Gefahr, vom Internet verdrängt zu werden. Vielmehr hat es das seinerseit­s zu einer Schachplat­tform gemacht, wie es sie nie gab.

Womit auch die künftige Korrelatio­n zwischen klassisch-analogen und ET-Spielen skizziert sein könnte. Nicht das eine wird das andere ersetzen, sondern beide werden die Welt des Spiels weiter öffnen. Geld und Werbung können das beschleuni­gen, bremsen, aber nicht verhindern. Weil es beim Spiel an sich um sozial Existenzie­lles geht. Weil »menschlich­e Kultur überhaupt nur im und als Spiel aufkommt und sich entfaltet«. So der glänzende dänische Kultursozi­ologe John Huizinga 1956 in seinem »Homo Ludes«.

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Foto: imago/biky Dauerbrenn­er: seit 1907 rund 100 millionenf­ach verkauft, noch heute 100 000 Mal im Jahr

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