Liebe auf den zweiten Blick
Kein Meer, kein pralles Leben, aber immerhin ungefährlich: Robert B. Fishman hat Bielefelds versteckten Charme entdeckt
Still ist es an diesem frühen Sonntagabend im Herzen der »Großstadt« Bielefeld. Auf dem Alten Markt gehen die Lichter an. Ein Scheinwerfer erleuchtet das Crüwellhaus aus dem 16. Jahrhundert, ein Prachtbau der Weserrenaissance mit reich verziertem Sandsteingiebel. Ein Skateboarder klackert über das teure indische Pflaster, das sich die chronisch klamme Stadt gegönnt hat. Im Nieselregen schimmert es goldbraun. Hinter der Altstädter Nikolaikirche flattert eine Krähe krächzend davon.
»Bewusstes Hinhören entspannt«, flüstert Klangkünstler, Tönesammler und Komponist Marcus Beuter. Aus rumpelnden Baugeräten, brummenden Autos, Stimmen, Schritten, Fetzen vorbeiklingender Musik, Polizeisirenen und Schlachtrufen von Fußballfans komponiert er akustische Bilder unseres Alltags. Nun lauscht er wieder, geht zurück in den »Hörmodus«, der ihm »Ruhe und Gelassenheit gibt«.
Bielefeld produziert leise Töne. Über dem Zentrum thront auf einem Höhenzug des Teutoburger Waldes die Sparrenburg, eine mächtige Festung aus dem 13. Jahrhundert. Sie ist das Wahrzeichen der 330 000 Einwohner zählenden Stadt in Nordrhein-Westfalen. Die Altstadt zu ihren Füßen ist nicht alt, die Neustadt nicht neu. In den 50er Jahren baute man beide eilig wieder auf, nachdem der Krieg nicht viel von ihnen übrig gelassen hatte.
Brigitte Brand kam als Archäologin nach Bielefeld, um hier mittelalterliche Siedlungsreste auszugraben. Sie freute sich auf eine »spannende Aufgabe«, sah die Stadt und »wollte sich lieber arbeitslos melden als hier bleiben«. Inzwischen leitet sie das Bielefelder Kulturamt und möchte »auf keinen Fall wieder weg«. Sie schwärmt von der »unglaublichen Kulturszene, den vielen freien Theatern, den kleinen, schrägen Galerien, dem Drei-Sparten-Theater, dem »Leuchtturm Kunsthalle« und den vielen Menschen, die sich – oft im Stillen – für ihre Stadt engagieren.
In Bielefeld vermisst die Kunsthistorikerin und Archäologin nur das bunte, pralle Leben großer Städte und das Meer. Bloß einen Stausee gibt es, an dessen Ufer ein künstlicher Sandstrand im Sommer Urlaubsstimmung schafft. Die Besucher entspannen sich in Liegestühlen, spielen Beachvolleyball und holen sich ihre Cocktails an der tropisch anmutenden, aus rohem Holz gezimmerten Bar. Zum Baden ist der Obersee zu schmutzig.
Diese Stadt liebt man auf den zweiten Blick, meint Künstlerin Marie-Pascale Gräbener. Sie schätzt die Überschaubarkeit und die verlässlichen Netzwerke, die sie sich hier geschaffen hat. »Hohe künstlerische Lebensqualität« nennt sie die enge Zusammenarbeit der vielen Maler, Musiker, Bildhauer, Theaterleute und anderen Kreativen. Hier fühle sie sich aufgehoben und sicher. »Eine ungefährliche Heimat: keine Erdbeben, keine Überschwemmungen«, ergänzt sie mit einem hintergründigen Lächeln, das auch ihren humorvollen, zuweilen bissigen und stets fröhlichen Zeichnungen innewohnt.
Den versteckten Charme der Stadt schaffen die Menschen, die ihren Lebensraum mit ihrem Engagement bereichern. Zahlreiche Initiativen heißen Flüchtlinge willkommen, organisieren Begegnungen und helfen, wo sie können.
Scharen von Kabarettisten arbeiten sich an den angeblich so wortkargen, abweisenden Ostwestfalen ab. Jürgen Rittershaus zum Beispiel fährt als Heinz Flottmann mit Besuchern in einem Linienbus durch die Stadt, um ihnen die Perlen seiner Heimat zu erschließen. An einer der vielen Ampeln bringt der Komiker im karierten Sakko mit blauem Pullover und grün-weiß gestreifter Krawatte das städtische Verkehrskonzept auf dem Punkt: Hinter der Ampelschaltung stecke das Stadtmarketing, das die Übernachtungszahlen in die Höhe treiben wolle. »Das funktioniert«, ergänzt der 60-Jährige mit ernster Stimme und zeigt das halbrunde Weiß der Stadthalle, die an einen ge- strandeten Dampfer erinnern soll. Das Kunstwerk davor, ein rund drei Etagen hoher leerer Metallrahmen, diene dem örtlichen Bundesligaverein Arminia zum Torwandschießen, sagt er. »Da treffen sogar die.«
Die Bielefelder lieben ihren Fußballklub. Kaum eine Mannschaft ist so oft auf- und abgestiegen wie die Schwarz-Weiß-Blauen. Spielt die Arminia zu Hause, hallen die Gesänge und Anfeuerungsrufe durch den ganzen Bielefelder Westen. Das Stadion liegt inmitten eines Wohngebiets zwischen Innenstadt und Universität. Wie es zu seinem einstigen Namen »Alm« kam, liegt im Dunkeln der Vereinsgeschichte. Inzwischen trägt es den Namen seines Hauptsponsors.
Die kabarettistische Busreise führt zum 2013 neu gestalteten Kesselbrink, einem zentralen Platz in der Innenstadt. Im 17. Jahrhundert habe man dort eine Heilquelle gefunden, die bald danach wieder versiegt sei, erfahren die Gäste. Der Platz wurde Weide, Marktplatz, Parkplatz, Busbahnhof. Mit seiner Umgestaltung zur Grünanlage mit Wasserspielen und einem der größten Skaterparks Deutschlands wollten die Planer Raum vor allem für junge Leute schaffen. Der grüne Würfel am Rande des Platzes beherbergte ein Café, das sich nicht halten konnte. Kein Wunder, lästert Rittershaus, habe er doch in dem von Efeu überwachsenen Bau eher »das Hauptquartier des NATO-Herbstmanövers« als ein Gasthaus vermutet.
Nach dem Zweiten Weltkrieg haben die Stadtplaner nicht weniger zerstört als die Bomber gegen Ende des Krieges. Erst in letzter Minute verhinderte eine Bürgerinitiative den Abriss der Ravensberger Spinnerei. Das um 1850 im Tudorstil erbaute Fabrikschloss, einst größte Flachsspinnerei in Europa, sollte einer Straßenkreuzung weichen. Schließlich baute es die Stadt zum Bildungs- und Tagungszentrum mit Volkshochschule um. Inzwischen hat der Bau als Vorbild für die kulturelle Nutzung ehemaliger Industriebauten zahlreiche Architekturpreise gewonnen.
Was Krieg und Stadtsanierer vom alten Bielefeld übrig ließen, wird heute liebevoll gepflegt: Fachwerkhäuser aus mehreren Jahrhunderten, die Reste eines Kloster aus der Renaissance in der Altstadt, der Siegfriedplatz im studentischen Westen mit seinen Bürgerhäusern aus dem frühen 20. Jahrhundert, ein Adelshof aus dem 16. Jahrhundert, in dem der Kunstverein oft gewagte und umstrittene Ausstellungen zeigt, der Park der Kunsthalle und viele Bauten aus dem 19. und frühen 20. Jahrhundert.
Kabarettist Jürgen Rittershaus beklagt das mangelnde Selbstbewusstsein seiner Heimatstadt. Man versuche krampfhaft, keine Provinz zu sein, und mache sich damit erst recht zum Hinterwäldler.
Mitten durch die Stadt verläuft der Teutoburger Wald auf rund einem Fünftel der Stadtfläche. Dazu kommen zahlreiche Parks und 580 Kilometer Wanderwege. Von fast jedem Punkt der Stadt aus sieht man das Grün. Mancherorts scheinen die Bäume über den Häuserdächern zu schweben.
Zurück von seiner Klangexpedition durch die Bielefelder Altstadt überlegt Tonkünstler Marcus Beuter, bevor er die Frage nach den Besonderheiten seiner Heimatstadt beantwortet: »Wir suchen unsere Identität in der Vergangenheit, der Familie, der Nation oder unserer Heimatstadt. Damit schließen wir andere aus, die nicht dazu gehören.« Er finde es viel interessanter, eine »Identität zu schaffen, die möglichst viele einschließt«.