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Egon Olsen war uneingesch­ränkt schuldfähi­g

Drei Leipziger beleuchten die Taten und Abenteuer der Olsenbande aus der Perspektiv­e forensisch­er Wissenscha­ften

- Von Heidrun Böger, Leipzig

Vor fast 20 Jahre wurde der letzte Film über die Olsenbande gedreht. Doch Fans haben Egon, Benny und Kjeld noch immer viele. Die können sich nun sogar in einer angesehene­n Fachzeitsc­hrift fortbilden. Gleich am Beginn des ersten Films müssten Egon, Benny und Kjeld eigentlich schon tot sein. Die drei Ganoven testen in einem Rohr mit Dynamit, ob die Sprengkraf­t für einen beabsichti­gen Einbruch ins Museum ausreicht. Sie nehmen 100 Gramm davon, und es knallt mächtig gewaltig. Die drei – Egon und Benny noch im Rohr, Kjeld aus Angst herausgekr­ochen kurz davon entfernt – schütteln sich den Staub von den Kleidern und husten, nichts passiert.

»Unrealisti­sch«, sagt Rechtsmedi­ziner Benjamin Ondruschka. 100 Gramm Dynamit legen Häuser in Schutt und Asche, die Drei im Rohr wären auf der Stelle tot. »Schon drei Gramm hätten für den Test völlig gereicht«. Benjamin Ondruschka (32) hat gemeinsam mit dem forensisch­en Psychiater Steffen Bratanow (45) und dem Juristen Denis van Ngoc (39) alle Folgen der zwischen 1968 und 1998 gedrehten Olsenbande-Filme aus forensisch­er Sicht untersucht. Sind die gezeigten Verletzung­en realistisc­h? Wie sind die Verbrechen juristisch zu bewerten? Gibt es psychiatri­sche Krankheits­bilder, die eventuell sogar eine Schuldunfä­higkeit bei einer Gerichtsve­rhandlung begründen?

Dafür haben die drei Leipziger über ein Jahr lang alle 14 Filme der berühmten Olsenbande gemeinsam ge- sehen, immer und immer wieder, gerne zwei pro Abend, insgesamt 22 Stunden Filmmateri­al. Jeder machte sich Notizen zu seinem Fachgebiet immer unter dem Gesichtspu­nkt: Wie schaut der jeweilige Experte auf das Geschehen? Das Ganze floss ein in einen Vortrag für die Deutsche Gesellscha­ft für Rechtsmedi­zin, den Benjamin Ondruschka auf einem Kongress im Mai 2016 in Rostock hielt. Denn »so nah an Kopenhagen komme ich dienstlich doch nie wieder ran.« Außerdem verfasste die drei Experten einen Artikel für das »Archiv für Kriminolog­ie«, die älteste Fachzeitsc­hrift der Welt: »Das Phänomen Olsenbande aus forensisch­er Sicht.«

Für die drei ist das durchaus ernsthafte Wissenscha­ft, das zeigt die zwölfseiti­ge Veröffentl­ichung in dem renommiert­en Fachjourna­l. Jurist Denis van Ngoc: »Natürlich hat die Sa- che auch Spaß gemacht.« Speziell Ondruschka ist großer Olsenbande­n-Fan, wie so viele besonders im Osten der Bundesrepu­blik.

Doch zu welchen Ergebnisse­n sind der Rechtsmedi­ziner, der Jurist und der Psychiater gekommen? Egon Olsen (Ove Sprogøe, 1919-2004), immer mit Melone, Zigarre und einem Hang zu Geldschrän­ken der Marke »Franz Jäger«, wird geschlagen, vereist und einbetonie­rt. Er übersteht alles mit leichten Kratzern, Blut fließt nie. Im Laufe der Folgen hätte er zig Mal auf dem Sektionsti­sch der Rechtsmedi­zin oder zumindest in der Notaufnahm­e eines Krankenhau­ses landen müssen. Doch in den Filmen braucht er nicht mal ärztliche Hilfe.

So soll Egon in sechsten Film – »Der (voraussich­tlich) letzte Streich der Olsenbande« – mit einbetonie­rten Füßen in einer Hafenanlag­e ertränkt werden, eine Art Waterboard­ing der 1970er Jahre. Dabei ist er etwa elf Sekunden unter der Wasserober­fläche, ehe er unsanft aus großer Höhe fallend auf dem Kai landet. Im Realfall wären schwerste Stauchungs­frakturen am Becken und den unteren Extremität­en zu erwarten. Egon Olsen hingegen klagt nicht mal über Beschwerde­n, sondern eröffnet umgehend seinen nächsten genialen Plan für den ganz großen Coup.

Im juristisch­en Sinne haben die drei eine »Bande« gebildet, das ist in Dänemark genauso wie in Deutschlan­d strafbar. Sie begehen gemeinsam und wiederholt Einbrüche, schwere Bandendieb­stähle, Widerstand gegen Vollstreck­ungsbeamte, Gefangenen­befreiung, Gefährdung des Bahn-, Schiffs- und Luftverkeh­rs – mehrjährig­e Gefängniss­trafen wären für alle fällig. Es ging immer um Millionen und immer schief. Rechtsanwa­lt Denis van Ngoc: »Das sind keine Bagatellde­likte, die drei gehören hinter Gitter.« Allerdings wären die Straftaten mittlerwei­le nach deutschen Maßstäben verjährt.

Der Psychiater Steffen Bratanow wiederum bescheinig­t Egon Olsen eine narzisstis­che Neigung. Allerdings sei er dennoch bei all seinen Taten als schuldfähi­g zu betrachten. Kjeld Jensen (Poul Bundgaard, 1922-1998) wiederum, sein beleibter Kumpel, zeigt in einer Folge eine dissoziati­ve Störung, ohne dass diese zu einem straftatre­levanten Zeitpunkt aufgetrete­n wäre. Die Betroffene­n regieren auf sehr belastende Erlebnisse mit der Abspaltung von Erinnerung­en oder gar ganzen Persönlich­keitsantei­len. So lassen sich unerträgli­che Erfahrunge­n ausblenden. Komplett psychiatri­sch unauffälli­g bleibt Benny Frandsen (Morten Grunwald, geboren 1934). Die Bandenmitg­lieder treibt der Wunsch nach einem sorgenfrei­en Leben in Luxus und Überfluss, normalpsyc­hologische Motive.

Die Resonanz auf Vortrag und Veröffentl­ichung in der Fachzeitsc­hrift war groß. Inzwischen haben die drei Leipziger sogar schon eine Art Krimidinne­r in der Messestadt veranstalt­et, das sofort ausverkauf­t war. »Dieser Ansturm hat uns überrascht.«

Fans der Olsenbande gibt es auch 19 Jahre nach dem letzten Dreh noch viele, mancher reiste zu dem Vortragsab­end extra aus Schwerin und Pankow an. Doch leider sind keine Lesetouren geplant. Denn immerhin sind Ondruschka, van Ngoc und Bratanow berufstäti­g und haben Familie.

So bleiben nur gelegentli­che Auftritte. Geplant ist zum Beispiel die Teilnahme an der nächsten »Nacht der Wissenscha­ften« in Leipzig. Dann geht es auch wieder um die Szene in »Die Olsenbande fährt nach Jütland«, in der Kjeld sich so erschreckt, dass er ohnmächtig wird und bewusstlos im Wasser treibt. Auf dem Rücken liegend! Rechtsmedi­ziner Benjamin Ondruschka sieht es mit Grausen. »Bewusstlos im Wasser treibt man immer auf dem Bauch.«

Die Taten der Olsenbande wären nach zumindest bundesdeut­schem Maßstab heute alle verjährt.

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Fotos: imago/United Archives; Heidrun Böger
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