Wurzeln der Eurokrise
Vor 25 Jahren wurde der Vertrag von Maastricht unterschrieben.
Trotz europäischer Zerfallstendenzen: Die herrschenden Kräfte verteidigen die Maastricht-Prinzipien mit Zähnen und Klauen – und verschärfen sie noch.
Rückblickend erscheinen die wichtigsten Momente des europäischen Integrationsprozesses oft als lineare Abfolge von Vertragswerken. Doch so gerät aus dem Blick, welche progressiven Alternativen zur heutigen EU in den entscheidenden Auseinandersetzungen historisch verschüttet gingen.
Das ist vielleicht nirgendwo so deutlich wie beim im Februar 1992 unterzeichneten Vertrag von Maastricht. Dieser begründete nicht nur die institutionelle Architektur der EU in ihrer jetzigen Form. Er legte auch alle wesentlichen, neoliberalen Grundzüge der europäischen Wirtschaftsund Währungsunion mit dem Euro als ihrem Kernstück fest.
Heute, 25 Jahre nach dem Vertrag von Maastricht, ringt die Linke mehr denn je um ihre Position zur EU und zum Euro: Die EU zu einem solidarischen Europa umbauen? Oder Spielräume für progressive Politik auf nationalstaatlicher Ebene durch die Abkehr von der europäischen Integration zurückgewinnen? Der neoliberale Charakter der europäischen Integration ist unumstritten. Der Brennpunkt der Diskussion ist vielmehr: Wie tief – und vor allem: wie unumkehrbar wurden Neoliberalismus und deutsche »Stabilitätskultur« im Fundament der EU und ihrer Wirtschafts- und Währungsunion zementiert?
Die Entstehungsgeschichte der Wirtschafts- und Währungsunion birgt zunächst ein kurioses Paradox. Gilt der Euro heute in vielen Teilen Europas als Vehikel deutscher Dominanz, so sollte er ursprünglich – von Frankreich angestoßen – die wirtschaftspolitische Macht eines wiedervereinigten Deutschlands im Rahmen einer supranationalen europäischen Wirtschaftsordnung einhegen. Frankreich stimmte der Wiedervereinigung nur unter der Bedingung einer europäischen Gemeinschaftswährung zu, die die BRD in den 1980er Jahren immer wieder blockiert hatte.
Der deutschen Seite gelang es in den entscheidenden Verhandlungen Anfang der 1990er Jahre jedoch, die Wirtschafts- Währungsunion gemäß ihren Vorstellungen und Prinzipien zu gestalten. Die deutsche »Stabilitätskultur« traf sich mit dem Interesse konservativer Parteien und neoliberal orientierter Zentralbanken anderer Länder, Gewerkschaften und linke Parteien mittels europäischer Regelungen zu disziplinieren. Theo Waigel, damals Bundesfinanzminister, verkündete nach den Verhandlungen siegesgewiss: »Wir bringen die D-Mark nach Europa ... Der vereinbarte Vertrag über die Wirtschaftsund Währungsunion trägt in allen entscheidenden Punkten die deutsche Handschrift. Unsere bewährte Stabilitätspolitik ist zum Leitmotiv für die zukünftige europäische Währungsordnung geworden.«
Berühmt-berüchtigt sind die »Maastricht-Kriterien«. Sie reduzieren die viel beschworene »Konvergenz«, also die Annäherung der europäischen Volkswirtschaften, die lange als Vorbedingung einer tieferen wirtschaftlichen Integration galt, auf einige wenige Austeritätsvorgaben: Die Beschränkung von öffentlichem Schuldenstand, Haushaltsdefizit und Inflationshöhe. Während alle EuroLänder gleichermaßen zu sparen hatten (nominale Konvergenz) – wobei sich die mächtigsten wie Deutschland und Frankreich kaum daran hielten –, wuchsen die tiefer liegenden Asymmetrien zwischen den Volkswirtschaften im Euroraum (reale Divergenz). Denn der Maastricht-Vertrag sah keine weitergehenden, geschweige denn progressiven Komponenten einer europäischen Wirtschaftsordnung vor: weder eine europäische Sozial- noch eine wirksame Fiskal-, Struktur-, oder Regionalpolitik, die zu einer Überwindung der Ungleichgewichte zwischen Regionen und Ländern hätte beitragen können.
Stattdessen verschärfte der Euro die Ungleichgewichte, die in der Eurokrise ab 2010 eskalierten. Die südeuropäischen Länder konnten ihre preisliche Wettbewerbsfähigkeit vor der Euro-Einführung durch regelmäßige Wechselkursabwertungen erhalten. Mit dem Verlust dieses Inst- ruments fielen die südeuropäischen Industrien in der Weltmarktkonkurrenz immer weiter zurück. De-Industrialisierung und die Abhängigkeit von Importen verschärften sich.
Darüber hinaus verhalf der Vertrag von Maastricht dem Monetarismus, dem geldpolitischen Arm des Neoliberalismus, zum endgültigen Durchbruch in Europa. Die Konstruktion der Europäischen Zentralbank folgte seinen drei Kernprinzipien. Die EZB ist politisch unabhängig, d.h. trotz ihrer enormen wirtschaftspolitischen Macht von demokratischen Entscheidungsverfahren fast vollständig abkoppelt. Sie ist der Preisstabilität bzw. Inflationsbekämpfung als oberstem Ziel verpflichtet, d.h. sie muss diesem, gemäß ihrem Statut, Vorrang geben vor allen anderen wirtschaftspolitischen Zielen. Und ihr ist es verboten, öf- fentliche Haushalte direkt mit Zentralbankgeld zu versorgen.
Gerade das letzte Prinzip – das sogenannte Verbot monetärer Staatsfinanzierung – trug entscheidend zur Eskalation der Eurokrise bei. Der EZB wurde anfänglich nicht zugetraut, die »Krisenländer« vor der Staatspleite zu bewahren. Erst mit der Entscheidung im Sommer 2012, ihre Staatsanleihen auf dem Sekundärmarkt notfalls unbegrenzt aufzukaufen, beruhigte sich die Situation. Doch knüpfte die EZB den Aufkauf an die Bedingung, die Auflagen der Troika zu akzeptieren und den Fiskalpakt zu ratifizieren. Mit der außerordentlichen Macht, die ihr die Konstruktion der Wirtschafts- und Währungsunion verleiht, erzwingt die EZB seither die Umsetzung von Austeritätspolitik.
Allerdings ist auch die EZB machtlos gegenüber den tiefer liegenden Ursachen der Ungleichgewichte im Euroraum. Sie zu überwinden, würde eine radikale Abkehr von den neoliberalen Maastricht-Prinzipien erfordern. Doch die herrschenden Kräfte verteidigen sie mit Zähnen und Klauen und verschärfen sie trotz immer deutlicherer Zerfallstendenzen. So hat der Vertrag von Maastricht die europäische Integration wie wohl kein anderer in den letzten Jahrzehnten geprägt, aber auch jene Widersprüche hervorgebracht, die den Integrationsprozess in seine vielleicht tiefste Krise gestürzt haben – und möglicherweise sein Ende besiegeln. Vom Autor erscheint in Kürze das Buch »Raus aus dem Euro – rein in die Abhängigkeit? Perspektiven und Grenzen alternativer Wirtschaftspolitik außerhalb des Euro« (240 S., 16,80 €, VSAVerlag).