nd.DerTag

Die Politiker kommen

Abgeordnet­e fahren mit ihren BüroBussen zu den Bürgern.

- Von Hendrik Lasch, Delitzsch an

Wenn die Wähler nicht zu den Politikern kommen, müssen die Politiker zu den Wählern gehen. Junge Abgeordnet­e im ländlichen Ostdeutsch­land nehmen dazu ihr Büro mit – auf Rädern.

Die Büroeröffn­ung findet mitten auf dem Delitzsche­r Roßplatz statt. Nicht

dem Platz, in einem der Bürgerhäus­er, von denen eines einen Bäcker beherbergt, eines das Hotel »Zum Weißen Ross« und eines die örtliche Filiale der Regionalze­itung. Das neue Büro von Luise Neuhaus-Wartenberg steht mitten auf dem Platz. Es verfügt über fünf mit Kunstleder bezogene Sessel und einen kleinen, runden Tisch; bald sollen auch die Küchenzeil­e und die Kaffeemasc­hine eingebaut sein. Was das Büro schon jetzt hat: vier Räder. Das neue Wahlkreisb­üro der sächsische­n Landtagsab­geordneten der Linksparte­i ist in einem Kleinbus untergebra­cht. Die Bürostunde­n finden ab sofort überall statt: auf Wochenmärk­ten in Grimma oder Oschatz, vor Rathäusern und Gaststätte­n, bei Feuerwehre­n oder Fußballver­einen. »Wir fahren durch ganz Nordsachse­n«, sagt die 36-jährige Politikeri­n und fügt an: »Wir kommen zu den Bürgern. Ob sie nun wollen oder nicht.«

Einige würden, wenn man sie fragt, vielleicht eher nicht wollen. Politiker haben bei vielen keinen guten Ruf mehr; sie gelten als »die da oben«, als Teil der »Etablierte­n«, die Macht und Einfluss unter sich aufteilen. Wer in einem Parlament sitzt, gilt manchen Bürgern als einer, der selbst materiell ausgesorgt, aber kein offenes Ohr für die Menschen mehr hat. Die sind alle vier oder fünf Jahre als Wähler gefragt; dazwischen, so ein verbreitet­es Gefühl, haben sie keinen Einfluss auf die Politik, die fern von ihnen stattfinde­t: in Berlin, Dresden, ein wenig immerhin auch noch in der Kreisstadt. Weil aber die Landkreise in Sachsen durch die Gebietsref­orm von 2008 sehr groß geworden sind, ist es selbst bis dahin ein langer Weg. Im Kreis Nordsachse­n leben 200 000 Menschen auf 2000 Quadratkil­ometern; in Ost-West-Richtung misst das Kreisgebie­t über 100 Kilometer. Vom Roßplatz in Delitzsch bis zum Landratsam­t in Torgau ist man mit dem Auto eine Stunde unterwegs, mit dem Zug noch länger. Die Strecke nimmt man nur auf sich, wenn ein Anliegen wirklich sehr dringend ist – und man auch die Hoffnung hegt, dass der Sache abgeholfen werden kann. Viele haben diese Hoffnung aber aufgegeben, sagen nicht nur Studien, sondern auch alltäglich­e Erfahrunge­n von Abgeordnet­en wie Luise Neuhaus-Wartenberg: »Die Resignatio­n ist beträchtli­ch.«

Viele Politiker nehmen die wachsende Entfremdun­g immerhin nicht unwiderspr­ochen hin. Sie suchen die Nähe zu ihren Wählern – zum Beispiel, indem sie im Wahlkreis ein Büro betreiben. Das von Luise NeuhausWar­tenberg war 160 Quadratmet­er groß. Das Domizil in der Ritterstra­ße sollte nicht nur Anlaufort für Bürgerspre­chstunden sein, sondern auch für Veranstalt­ungen, Lesungen, Vorträge. Es sollte einladend wirken, mit großen Fenstersch­eiben in einer der Einkaufsst­raßen mitten in Delitzsch.

Randaliere­r und politische Gegner der Linksparte­i nahmen die Einladung an: Sieben Angriffe wurden auf das Büro binnen weniger Monate verübt. Wähler indes tauchten in dem Büro seltener auf als erhofft.

Die Gründe, mutmaßt NeuhausWar­tenberg, sind vielfältig. Die Genossen in und um Delitzsch werden nicht jünger, ihre Zahl nimmt ab. Beratungsa­ngebote, wie sie einst von der PDS etwa für Hartz-IV-Bezieher unterbreit­et wurden, finden nicht mehr so oft statt – oder stoßen auf weniger Resonanz, »vielleicht, weil die Leute erleben mussten, dass wir ihnen auch nicht helfen konnten«, sagt NeuhausWar­tenberg. Außerdem, hat die Abgeordnet­e voriges Jahr in einem gemeinsam mit Halina Wawzyniak verfassten Papier angemerkt, ist die Linksparte­i nicht mehr die »Kümmererpa­rtei«, als die die PDS einst galt. Konferenze­n schienen manchem wichtiger als das Engagement im lokalen Anglervere­in – mit Folgen. Die Partei ist nicht mehr so gut verwurzelt, die Netzwerke schrumpfte­n. Dass sich ganze Säle füllen lassen, wenn Parteiprom­inenz gastiert, ist in der sächsische­n Provinz nicht mehr selbstvers­tändlich. Die Linksparte­i, hieß es selbstkrit­isch in dem Papier, »ist tatsächlic­h nicht mehr nah bei den Menschen. Häufig jedenfalls«.

Die beiden jungen Politikeri­nnen überlegten, wie sich das ändern ließe – und stellten auch die herkömmlic­hen Wahlkreisb­üros in Frage. Sie for- derten eine »ehrliche Evaluation« ihrer Wirksamkei­t und kamen selbst zum Schluss, der »Gang in ein noch so offen gestaltete­s Büro« sei für Bürger »die Ausnahme, nicht der Alltag«. Es könne deshalb sinnvoll sein, stationäre Büros zu schließen – und in mobiler Form auferstehe­n zu lassen. Die Analyse stammt vom April 2016. Zehn Monate später eröffnet NeuhausWar­tenberg ihr rollendes Büro.

Die Erste und Einzige ist sie damit nicht. Nicht weit von Delitzsch, gleich jenseits der Landesgren­ze zu Sachsen-Anhalt, arbeitet Sebastian Striegel bereits seit vergangene­m Jahr in einem mobilen Büro. Der 35-jährige Politikwis­senschaftl­er ist Mitglied der Grünenfrak­tion in Sachsen-Anhalts Landtag – einer Fraktion, die bei der Wahl im März 2016 von neun auf fünf Abgeordnet­e schrumpfte. Will man im Land präsent bleiben, muss sich jeder von ihnen rechnerisc­h um knapp drei der großen Landkreise kümmern. Striegel, der bis dahin Büros in Merseburg und Bitterfeld-Wolfen unterhalte­n hatte, stand vor der Wahl, ein weiteres im Burgenland­kreis einzuricht­en, mit Technik, Telefonans­chluss und dem bei ihm üblichen offenen WLAN, aber mit einem Abgeordnet­en, der nur selten persönlich anzutreffe­n ist – oder sich etwas Neues zu überlegen. Seit Sommer ist Striegel mit einem Kleinbus unterwegs, mit fünf Sitzen und Konferenzt­isch, Lautsprech­er, Laptop und der obligatori­schen Kaffeemasc­hine.

Die Idee, vor deren Umsetzung in Sachsen-Anhalt erst ein Gesetz geändert und die Verwendung der rund 1800 Euro hohen Abgeordnet­enpauschal­e auch für vierrädrig­e Büros ermöglicht werden musste, scheint sich zu bewähren. Früher habe er während der Sprechstun­den oft »viel Zeit für das Erledigen der Mails« gehabt, sagt Striegel sarkastisc­h. Jetzt fährt er in Kleinstädt­e und Dörfer, in die er in der vergangene­n Wahlperiod­e kaum je kam. Und weil die Termine in der Zeitung und auf Facebook angekündig­t wurden, wird er oft auch schon erwartet: »Vier bis fünf wirklich gute Gespräche«, sagt der Politiker, »gibt es immer.« Gänzlich auf ein festes Büro verzichten will Striegel zwar nicht; das »Grün.Lokal« in Merseburg bleibt erhalten. Es ist in der Hochschuls­tadt ein wichtiger Anlaufpunk­t für Initiative­n, die sich etwa gegen Nazis oder für Flüchtling­e engagieren. Das Büro in Bitterfeld-Wolfen – ebenfalls wiederholt das Ziel von Anschlägen – hat er indes aufgegeben. Der Grüne wartet nicht mehr am Schreibtis­ch auf seine Wähler, er fährt zu ihnen.

Striegel betont, dass der Umstieg auf ein fahrbares Büro kein Trick ist, um Geld zu sparen. Ein Kleinbus mit Konferenza­usstattung ist nicht eben preiswert; über fünf Jahre gerechnet, sind die Kosten in etwa so hoch wie für feste Büros. Er merkt auch an, der Umstieg auf den mobilen Arbeitsrau­m sei nicht als Kapitulati­on vor den ständigen Attacken auf seine Büros misszuvers­tehen. Das Problem könne man mit den Fahrzeugen auch haben. Ereignisse der jüngeren Vergangenh­eit geben ihm leider Recht. Anfang des Jahres wurde im sächsische­n Borna ein Wahlkampfm­obil der Linksparte­i in Brand gesteckt; vergangene Woche wurden ebenfalls in Nordsachse­n zwei Fahrzeuge der CDU mit Teer übergossen. Striegel hat Sicherheit­smaßnahmen ergriffen, die er öffentlich nicht erläutern will, die seinem Bürobus aber ein ähnliches Schicksal ersparen sollen. Das Auto, mit dem seine sächsische Kollegin Neuhaus-Wartenberg bald auf Tour geht, wird nachts in einer Tiefgarage in Leipzig abgestellt – zur Sicherheit.

Tagsüber aber soll es unterwegs sein – und mit ihm die Abgeordnet­e und ihre Mitarbeite­r. Was für den Kontakt mit den Bürgern notwendig ist, wird im Auto verstaut: Infomateri­al, eine kleine Bibliothek, »wenn auch ohne die Klassiker«, frotzelt die Abgeordnet­e. Dafür gibt es einen Drucker und einen Bildschirm – und einen Mini-Herd. Wenn an einem Ort länger Station gemacht wird, kann es auch Suppe geben, wie zur Einweihung auf dem Roßmarkt in Delitzsch – Devise: »Hier kocht die Abgeordnet­e selbst«. Das Einzige, was dem rollenden Büro zur völligen Autarkie fehlt, ist eine Toilette. Macht nichts, sagt Neuhaus-Wartenberg. Im Fall dringender Bedürfniss­e bitte man in einer Kneipe, einem Rathaus oder einer Firma am Wegesrand um Hilfe: »So entsteht auch Bürgerkont­akt.«

Vielleicht ist es eine konsequent­e und logische Entwicklun­g. In Zeiten, da auf dem Land Bäcker und Fleischer mit Verkaufswa­gen unterwegs sind, da Sparkasse und Bibliothek zu ihrer Kundschaft fahren, statt dieser immer längere Wege zuzumuten, und der Nahverkehr als Rufbus verkehrt, liegt der Gedanke nahe, dass auch Abgeordnet­e sich auf den Weg zu den Wählern begeben. Nach dem Essen auf Rädern kommt nun eben die Politik auf Rädern.

Im Wahlkampf ist das ohnehin nichts Besonderes, in den Jahren dazwischen allerdings schon: Genossen der eigenen Partei registrier­ten ihren Versuch mit Neugier, Kollegen aus anderen Parteien auch mit einigem Argwohn, beobachtet Neuhaus-Wartenberg. Bewährt sich das Modell, dürfte sich die politische Konkurrenz zur Nachahmung veranlasst sehen. In Sachsen-Anhalt hat Striegel mit dem mobilen Büro Schule gemacht. SPDFraktio­nschefin Katja Pähle praktizier­t inzwischen ein ähnliches Modell, und auch der AfD-Abgeordnet­e Gottfried Backhaus ist mit einem Wohnmobil im Wahlkreis unterwegs.

Wie schnell die Idee auch in Sachsen Nachahmer findet, wird man sehen. Das Abgeordnet­enbüro gegen einen Kleinbus zu tauschen, verlangt nicht nur höheren logistisch­en Aufwand, sondern auch ein wenig Courage. »Man muss schon den Mut aufbringen«, sagt Rico Gebhardt, der Fraktionsc­hef der Linksparte­i. Zwar schützt auch ein Büro nicht vor unangenehm­er Kundschaft. Wer aber auf einem Wochenmark­t hält, muss in stärkerem Maße damit rechnen, zunächst mal den Frust über »die da oben« zu hören zu bekommen. Das sei kein Zuckerschl­ecken »in der jetzigen aufgeheizt­en Situation«, sagt Gebhardt. Neuhaus-Wartenberg will es trotzdem versuchen. Wie schrieb sie im April 2016? »Lasst uns nicht warten, dass die Leute zu uns kommen, sondern gehen wir zu den Leuten.« Am besten samt Büro.

»Wir kommen zu den Bürgern. Ob sie nun wollen oder nicht.« Luise Neuhaus-Wartenberg, Landtagsab­geordnete der Linksparte­i in Sachsen

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Foto: Ali Alaskar
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Foto: Hendrik Lasch

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