Die Politiker kommen
Abgeordnete fahren mit ihren BüroBussen zu den Bürgern.
Wenn die Wähler nicht zu den Politikern kommen, müssen die Politiker zu den Wählern gehen. Junge Abgeordnete im ländlichen Ostdeutschland nehmen dazu ihr Büro mit – auf Rädern.
Die Büroeröffnung findet mitten auf dem Delitzscher Roßplatz statt. Nicht
dem Platz, in einem der Bürgerhäuser, von denen eines einen Bäcker beherbergt, eines das Hotel »Zum Weißen Ross« und eines die örtliche Filiale der Regionalzeitung. Das neue Büro von Luise Neuhaus-Wartenberg steht mitten auf dem Platz. Es verfügt über fünf mit Kunstleder bezogene Sessel und einen kleinen, runden Tisch; bald sollen auch die Küchenzeile und die Kaffeemaschine eingebaut sein. Was das Büro schon jetzt hat: vier Räder. Das neue Wahlkreisbüro der sächsischen Landtagsabgeordneten der Linkspartei ist in einem Kleinbus untergebracht. Die Bürostunden finden ab sofort überall statt: auf Wochenmärkten in Grimma oder Oschatz, vor Rathäusern und Gaststätten, bei Feuerwehren oder Fußballvereinen. »Wir fahren durch ganz Nordsachsen«, sagt die 36-jährige Politikerin und fügt an: »Wir kommen zu den Bürgern. Ob sie nun wollen oder nicht.«
Einige würden, wenn man sie fragt, vielleicht eher nicht wollen. Politiker haben bei vielen keinen guten Ruf mehr; sie gelten als »die da oben«, als Teil der »Etablierten«, die Macht und Einfluss unter sich aufteilen. Wer in einem Parlament sitzt, gilt manchen Bürgern als einer, der selbst materiell ausgesorgt, aber kein offenes Ohr für die Menschen mehr hat. Die sind alle vier oder fünf Jahre als Wähler gefragt; dazwischen, so ein verbreitetes Gefühl, haben sie keinen Einfluss auf die Politik, die fern von ihnen stattfindet: in Berlin, Dresden, ein wenig immerhin auch noch in der Kreisstadt. Weil aber die Landkreise in Sachsen durch die Gebietsreform von 2008 sehr groß geworden sind, ist es selbst bis dahin ein langer Weg. Im Kreis Nordsachsen leben 200 000 Menschen auf 2000 Quadratkilometern; in Ost-West-Richtung misst das Kreisgebiet über 100 Kilometer. Vom Roßplatz in Delitzsch bis zum Landratsamt in Torgau ist man mit dem Auto eine Stunde unterwegs, mit dem Zug noch länger. Die Strecke nimmt man nur auf sich, wenn ein Anliegen wirklich sehr dringend ist – und man auch die Hoffnung hegt, dass der Sache abgeholfen werden kann. Viele haben diese Hoffnung aber aufgegeben, sagen nicht nur Studien, sondern auch alltägliche Erfahrungen von Abgeordneten wie Luise Neuhaus-Wartenberg: »Die Resignation ist beträchtlich.«
Viele Politiker nehmen die wachsende Entfremdung immerhin nicht unwidersprochen hin. Sie suchen die Nähe zu ihren Wählern – zum Beispiel, indem sie im Wahlkreis ein Büro betreiben. Das von Luise NeuhausWartenberg war 160 Quadratmeter groß. Das Domizil in der Ritterstraße sollte nicht nur Anlaufort für Bürgersprechstunden sein, sondern auch für Veranstaltungen, Lesungen, Vorträge. Es sollte einladend wirken, mit großen Fensterscheiben in einer der Einkaufsstraßen mitten in Delitzsch.
Randalierer und politische Gegner der Linkspartei nahmen die Einladung an: Sieben Angriffe wurden auf das Büro binnen weniger Monate verübt. Wähler indes tauchten in dem Büro seltener auf als erhofft.
Die Gründe, mutmaßt NeuhausWartenberg, sind vielfältig. Die Genossen in und um Delitzsch werden nicht jünger, ihre Zahl nimmt ab. Beratungsangebote, wie sie einst von der PDS etwa für Hartz-IV-Bezieher unterbreitet wurden, finden nicht mehr so oft statt – oder stoßen auf weniger Resonanz, »vielleicht, weil die Leute erleben mussten, dass wir ihnen auch nicht helfen konnten«, sagt NeuhausWartenberg. Außerdem, hat die Abgeordnete voriges Jahr in einem gemeinsam mit Halina Wawzyniak verfassten Papier angemerkt, ist die Linkspartei nicht mehr die »Kümmererpartei«, als die die PDS einst galt. Konferenzen schienen manchem wichtiger als das Engagement im lokalen Anglerverein – mit Folgen. Die Partei ist nicht mehr so gut verwurzelt, die Netzwerke schrumpften. Dass sich ganze Säle füllen lassen, wenn Parteiprominenz gastiert, ist in der sächsischen Provinz nicht mehr selbstverständlich. Die Linkspartei, hieß es selbstkritisch in dem Papier, »ist tatsächlich nicht mehr nah bei den Menschen. Häufig jedenfalls«.
Die beiden jungen Politikerinnen überlegten, wie sich das ändern ließe – und stellten auch die herkömmlichen Wahlkreisbüros in Frage. Sie for- derten eine »ehrliche Evaluation« ihrer Wirksamkeit und kamen selbst zum Schluss, der »Gang in ein noch so offen gestaltetes Büro« sei für Bürger »die Ausnahme, nicht der Alltag«. Es könne deshalb sinnvoll sein, stationäre Büros zu schließen – und in mobiler Form auferstehen zu lassen. Die Analyse stammt vom April 2016. Zehn Monate später eröffnet NeuhausWartenberg ihr rollendes Büro.
Die Erste und Einzige ist sie damit nicht. Nicht weit von Delitzsch, gleich jenseits der Landesgrenze zu Sachsen-Anhalt, arbeitet Sebastian Striegel bereits seit vergangenem Jahr in einem mobilen Büro. Der 35-jährige Politikwissenschaftler ist Mitglied der Grünenfraktion in Sachsen-Anhalts Landtag – einer Fraktion, die bei der Wahl im März 2016 von neun auf fünf Abgeordnete schrumpfte. Will man im Land präsent bleiben, muss sich jeder von ihnen rechnerisch um knapp drei der großen Landkreise kümmern. Striegel, der bis dahin Büros in Merseburg und Bitterfeld-Wolfen unterhalten hatte, stand vor der Wahl, ein weiteres im Burgenlandkreis einzurichten, mit Technik, Telefonanschluss und dem bei ihm üblichen offenen WLAN, aber mit einem Abgeordneten, der nur selten persönlich anzutreffen ist – oder sich etwas Neues zu überlegen. Seit Sommer ist Striegel mit einem Kleinbus unterwegs, mit fünf Sitzen und Konferenztisch, Lautsprecher, Laptop und der obligatorischen Kaffeemaschine.
Die Idee, vor deren Umsetzung in Sachsen-Anhalt erst ein Gesetz geändert und die Verwendung der rund 1800 Euro hohen Abgeordnetenpauschale auch für vierrädrige Büros ermöglicht werden musste, scheint sich zu bewähren. Früher habe er während der Sprechstunden oft »viel Zeit für das Erledigen der Mails« gehabt, sagt Striegel sarkastisch. Jetzt fährt er in Kleinstädte und Dörfer, in die er in der vergangenen Wahlperiode kaum je kam. Und weil die Termine in der Zeitung und auf Facebook angekündigt wurden, wird er oft auch schon erwartet: »Vier bis fünf wirklich gute Gespräche«, sagt der Politiker, »gibt es immer.« Gänzlich auf ein festes Büro verzichten will Striegel zwar nicht; das »Grün.Lokal« in Merseburg bleibt erhalten. Es ist in der Hochschulstadt ein wichtiger Anlaufpunkt für Initiativen, die sich etwa gegen Nazis oder für Flüchtlinge engagieren. Das Büro in Bitterfeld-Wolfen – ebenfalls wiederholt das Ziel von Anschlägen – hat er indes aufgegeben. Der Grüne wartet nicht mehr am Schreibtisch auf seine Wähler, er fährt zu ihnen.
Striegel betont, dass der Umstieg auf ein fahrbares Büro kein Trick ist, um Geld zu sparen. Ein Kleinbus mit Konferenzausstattung ist nicht eben preiswert; über fünf Jahre gerechnet, sind die Kosten in etwa so hoch wie für feste Büros. Er merkt auch an, der Umstieg auf den mobilen Arbeitsraum sei nicht als Kapitulation vor den ständigen Attacken auf seine Büros misszuverstehen. Das Problem könne man mit den Fahrzeugen auch haben. Ereignisse der jüngeren Vergangenheit geben ihm leider Recht. Anfang des Jahres wurde im sächsischen Borna ein Wahlkampfmobil der Linkspartei in Brand gesteckt; vergangene Woche wurden ebenfalls in Nordsachsen zwei Fahrzeuge der CDU mit Teer übergossen. Striegel hat Sicherheitsmaßnahmen ergriffen, die er öffentlich nicht erläutern will, die seinem Bürobus aber ein ähnliches Schicksal ersparen sollen. Das Auto, mit dem seine sächsische Kollegin Neuhaus-Wartenberg bald auf Tour geht, wird nachts in einer Tiefgarage in Leipzig abgestellt – zur Sicherheit.
Tagsüber aber soll es unterwegs sein – und mit ihm die Abgeordnete und ihre Mitarbeiter. Was für den Kontakt mit den Bürgern notwendig ist, wird im Auto verstaut: Infomaterial, eine kleine Bibliothek, »wenn auch ohne die Klassiker«, frotzelt die Abgeordnete. Dafür gibt es einen Drucker und einen Bildschirm – und einen Mini-Herd. Wenn an einem Ort länger Station gemacht wird, kann es auch Suppe geben, wie zur Einweihung auf dem Roßmarkt in Delitzsch – Devise: »Hier kocht die Abgeordnete selbst«. Das Einzige, was dem rollenden Büro zur völligen Autarkie fehlt, ist eine Toilette. Macht nichts, sagt Neuhaus-Wartenberg. Im Fall dringender Bedürfnisse bitte man in einer Kneipe, einem Rathaus oder einer Firma am Wegesrand um Hilfe: »So entsteht auch Bürgerkontakt.«
Vielleicht ist es eine konsequente und logische Entwicklung. In Zeiten, da auf dem Land Bäcker und Fleischer mit Verkaufswagen unterwegs sind, da Sparkasse und Bibliothek zu ihrer Kundschaft fahren, statt dieser immer längere Wege zuzumuten, und der Nahverkehr als Rufbus verkehrt, liegt der Gedanke nahe, dass auch Abgeordnete sich auf den Weg zu den Wählern begeben. Nach dem Essen auf Rädern kommt nun eben die Politik auf Rädern.
Im Wahlkampf ist das ohnehin nichts Besonderes, in den Jahren dazwischen allerdings schon: Genossen der eigenen Partei registrierten ihren Versuch mit Neugier, Kollegen aus anderen Parteien auch mit einigem Argwohn, beobachtet Neuhaus-Wartenberg. Bewährt sich das Modell, dürfte sich die politische Konkurrenz zur Nachahmung veranlasst sehen. In Sachsen-Anhalt hat Striegel mit dem mobilen Büro Schule gemacht. SPDFraktionschefin Katja Pähle praktiziert inzwischen ein ähnliches Modell, und auch der AfD-Abgeordnete Gottfried Backhaus ist mit einem Wohnmobil im Wahlkreis unterwegs.
Wie schnell die Idee auch in Sachsen Nachahmer findet, wird man sehen. Das Abgeordnetenbüro gegen einen Kleinbus zu tauschen, verlangt nicht nur höheren logistischen Aufwand, sondern auch ein wenig Courage. »Man muss schon den Mut aufbringen«, sagt Rico Gebhardt, der Fraktionschef der Linkspartei. Zwar schützt auch ein Büro nicht vor unangenehmer Kundschaft. Wer aber auf einem Wochenmarkt hält, muss in stärkerem Maße damit rechnen, zunächst mal den Frust über »die da oben« zu hören zu bekommen. Das sei kein Zuckerschlecken »in der jetzigen aufgeheizten Situation«, sagt Gebhardt. Neuhaus-Wartenberg will es trotzdem versuchen. Wie schrieb sie im April 2016? »Lasst uns nicht warten, dass die Leute zu uns kommen, sondern gehen wir zu den Leuten.« Am besten samt Büro.
»Wir kommen zu den Bürgern. Ob sie nun wollen oder nicht.« Luise Neuhaus-Wartenberg, Landtagsabgeordnete der Linkspartei in Sachsen