Revolutionär!
Eine Chemnitzer Ausstellung zur russischen Avantgarde.
Mit dem Ruf »Die Kunst der Revolution den Massen der Revolution« zog in Alexander Mittas »Leuchte mein Stern, leuchte« ein Agitator der anderen Art über Land, einer, den man sich gern gefallen lässt: die Einmanntheatergruppe von Iskremas (gespielt von Oleg Tabakow), der den ungebildeten Massen Shakespeare nahe zu bringen versucht. Leider befindet er sich dabei in aussichtsloser Konkurrenz mit einem Wanderkino, das zwar nur Schund im Programm hat, aber die bewegten Bilder sind nun mal eine größere Attraktion als Shakespeareverse.
Welch ein schier grenzenloser Glaube an die verändernde Kraft von Kunst! Man sieht es heute, da sich Kunstströmungen geschmeidig den wechselnden Marktströmungen anpassen, mit bitterer Melancholie. Die Utopie hat, trotz ihrer illusionären Vergeblichkeit, etwas Faszinierendes: Die neueste Kunst soll nicht in einem kleinen Künstlerzirkel verbleiben, sondern das Leben der Menschen grundlegend verändern! Zuerst immer ihre Art, die Welt anzusehen – und die eigene Rolle darin, einem Welttheater nicht unähnlich. Aber eben auch die damit verbundene Zumutung: Kunst schöpft eine eigene Sprache, die man lesen können muss, um sie zu verstehen.
Zuerst ist es immer eine Frage der Energie, die sich überträgt. Aufbruch in ein anderes Morgen, dieses Programm in den Händen vieler schöpferischer Geister setzt ungeahnte Kräfte frei. Natürlich konkurriert solch eine Explosion an schöpferischer Vielfalt sehr schnell mit uniformieren wollender Ideologie, der es um politische Machterhaltung geht. Aber in einem bestimmten Zeitraum vermag der geistig-künstlerische Aufbruch der ideologischen Gleichmacherei zu widerstehen – in der Sowjetunion immerhin gut ein Jahrzehnt lang nach der Revolution von 1917. Ende der 20er Jahre beginnt dann der Kampf gegen »Abweichler« auch in der Kunst, die Revolution ist unter Stalin zur Reaktion geworden. Das spiegelt sich im offiziellen Bild der Kunst – der Theaterrevolutionär Meyerhold wurde ermordet und Majakowski beging Selbstmord. Viele der Avantgardekünstler gingen in den zwanziger Jahren nach Westeuropa, auch nach Deutschland. Wassily Kandinsky etwa gehörte zu den Mitinitiatoren des Weimarer Bauhauses. Anfangs reisten sie einfach zu ihren Avantgardebrüdern – Fritz Mierau hat dazu in den achtziger Jahren bei Reclam-Leipzig den schönen Band »Russen in Berlin« herausgegeben. Doch Ende der zwanziger, Anfang der dreißiger Jahre, als Kunst wieder bloßer Naturalismus sein sollte, wurden aus den Reisenden Exilanten.
Die Kunstsammlungen Chemnitz, die sich regelmäßig an große Projekte wagen, haben nun die Ausstellung »Revolutionär! Russische Avantgarde« aus der Sammlung Wladimir Tsarenkow initiiert, zeigen 400 Leihgaben von 110 Künstlern aus den Jahren 1907 bis 1930. Eine in Inhalt und Form gewaltige Schau, die vor allem eins offenbart: Die Kunstavantgarde von Futurismus und Symbolismus bis zum Konstruktivismus des ersten Drittels des 20. Jahrhunderts war eine gesamteuropäische. In ihr spielten russische und sowjetische Künstler eine wichtige Rolle. In Zeiten, da man von Russland in manchen Medien nur noch ein demagogisch verfälschtes Bild vermittelt bekommt, ist es umso verdienstvoller, darauf hinzuweisen, wie konstitutionell gerade die russische Avantgarde für das moderne europäische Bewusstsein wurde.
Die Schau macht Entdeckungen, auch bei Künstlern, die man zu kennen glaubte, wie Wassily Kandinsky, El Lissitzky, Kusma Petrow-Wodkin oder Kasimir Malewitsch. Bei diesen prominentesten Vertretern lässt sich besonders gut der Wandlungsprozess im Werk nachvollziehen, der schließlich zu jenen genial-einfachen Ausdrucksformen führte, für die man sie heute kennt. So führt etwa der Weg zu Malewitschs »Schwarzem Quadrat auf weißem Grund« über eine lange Reihe von überaus farbigen, geradezu folkloristischen Bildmotiven, die Elemente des Impressionismus und des Jugendstils verarbeiten. Dann jedoch die plötzliche Kargheit der Konzentration auf das Elementare: den Schwarz-Weiß-Kontrast, wie in »Bauer beim Wassertragen« aus den zwan- ziger Jahren, in denen das Figürliche zugunsten einer geometrischen Architektur des Bildes zurückgenommen wird. Das ist kein Zufall, denn viele Künstler beschränkten sich nicht darauf, ein Bild zu Papier (oder auf Leinwand) zu bringen, sie griffen weiter aus und planten, Lebensräume aus dem Geist der Kunst zu schaffen. So entstanden sowohl Stadtentwürfe wie auch Gebrauchsgestände, simple Teller oder Bestecke, die funktional und zugleich auch schön sein wollten. Kunst ist dazu da, dass wir anders zusammen leben!, so die Botschaft dieser Arbeiten. Der Weg dazu ist vielgestaltig und im Mut zum Experiment liegt der Reichtum des Neuen!
So kann man die Arbeiten von Kandinsky verstehen. Auch von ihm zeigt die Ausstellung Unvermutetes, wie »Dame im Reifrock« von 1917/18. Das ist lupenreiner Jugendstil, der geradezu nach der kargen Geometrie von Strich und Punkt jener Arbeiten verlangt, die wenig später entstanden. Kandinskys Wandlungen sind erstaunlich, auch seine wichtigen Arbeiten als Theoretiker, vor allem »Über das Geistige in der Kunst« und »Essays über Kunst und Künstler«. So lesen wir in »Über Bühnenkomposition«: »Jede Kunst hat eine eigene Sprache, das heißt die nur ihr eigenen Mittel. So ist jede Kunst etwas in sich Geschlossenes. Jede Kunst ist ein eigenes Leben. Sie ist ein Reich für sich.« Darum handelt es sich: Die Kunst der Avantgarde, die voran geht, ist kein Vehikel der Politik, auch nicht des Marktes. Sie ist autonom: eine Gegenwelt zum Vorfindlichen. Daraus bezieht sie ihre visionäre Kraft. Da ist Abstraktion nie Selbstzweck, sondern eine auf das Elementare reduzierte Form. Diese Kunst will hin zu einem neuen Ursprung, dem Punkt, wo es mit einer »innerlichen Notwendigkeit« entspringt.
Ebenso interessant sind die zu besichtigenden Arbeiten von El Lissitzky, der mit seinen »Rosta-Fenstern« berühmt wurde. Das waren jene Comics, die sich an die analphabetische Landbevölkerung wandten, ihnen von der neuen Zeit zu erzählen. In Chemnitz ist er mit Arbeiten zu sehen, die ihn als Plakatkünstler zeigen, aber auf eine sich vordergründiger ideologischer Verwendbarkeit entziehende Weise. Die Überraschung: Der Künstler, der für seine Volksbildungsideen berühmt wurde, macht sich vorsätzlich unverständlich, kontert im eigenen Werk wieder die doch selbst betriebene Simplifizierung. So in »Suprematische Komposition« von 1922, die er gleich in einer ganzen Serie variiert, darauf rote und schwarze Quadrate, Kreise und ausnahmsweise auch einmal ein roter Stern. Doch dieser führt ein Eigenleben, seine Zacken wachsen in verschiedene Richtungen. El Lissitzky verfolgt die Idee einer »Schaumaschine«, das ist gleichsam die multimedial gedachte Wiederkehr des Gesamtkunstwerkes, nur jetzt auch zusammengebaut aus Alltagsgeräuschen, Schall, Geschwindigkeit und elektrischem Licht.
Das Besondere von »Revolutionär!« ist jedoch, dass hier nicht nur die Stars von Kandinsky bis Malewitsch gezeigt werden, sondern über hundert weitere Künstler, die zum Teil wenig oder gar nicht bekannt wurden, jedoch Sehenswertes schufen. Einer wie Pawel Mansurow, der 1896 in Petersburg geboren wurde und während des Ersten Weltkriegs mit den Ideen der Avantgarde in Berührung kam. Sein Leben in der postrevolutionären Sowjetunion glich zeitweise einer Odyssee. So wurde er bei einem Besuch seiner Eltern in Kasan als Deserteur verhaftet.
Er überlebte und kehrte zurück nach Petersburg, wo er als Szenograph und Illustrator für Majakowskis »Mysterium buffo« tätig war. In Chemnitz zu sehen: »Form II« von 1918, eine graue Fläche, darauf ein hauchzart-gerader schwarzer Strich unten und oben eine wie zufällig entstandene leicht gebogene weiße Linie, die sich kaum vom hellen Untergrund abhebt. Man kann sich die Wut faustgrober Spießer angesichts dieser malerischen Denkübung vorstellen. 1928 verließ er Russland, um Westund Südeuropa zu bereisen. Daraus wurde dann, wie bei so vielen russischen Avantgardekünstlern, ein Exil. Mansurow starb 1983 in Nizza.
Kunst ist dazu da, dass wir anders zusammen leben!, so die Botschaft dieser Arbeiten. Der Weg dazu ist vielgestaltig und im Mut zum Experiment liegt der Reichtum des Neuen!