nd.DerTag

Revolution­är!

Eine Chemnitzer Ausstellun­g zur russischen Avantgarde.

- Von Gunnar Decker »Revolution­är! Russische Avantgarde aus der Sammlung Vladimir Tsarenkov«, bis zum 12. März in den Kunstsamml­ungen Chemnitz. Der Katalog zur Ausstellun­g kostet 30 €.

Mit dem Ruf »Die Kunst der Revolution den Massen der Revolution« zog in Alexander Mittas »Leuchte mein Stern, leuchte« ein Agitator der anderen Art über Land, einer, den man sich gern gefallen lässt: die Einmannthe­atergruppe von Iskremas (gespielt von Oleg Tabakow), der den ungebildet­en Massen Shakespear­e nahe zu bringen versucht. Leider befindet er sich dabei in aussichtsl­oser Konkurrenz mit einem Wanderkino, das zwar nur Schund im Programm hat, aber die bewegten Bilder sind nun mal eine größere Attraktion als Shakespear­everse.

Welch ein schier grenzenlos­er Glaube an die verändernd­e Kraft von Kunst! Man sieht es heute, da sich Kunstström­ungen geschmeidi­g den wechselnde­n Marktström­ungen anpassen, mit bitterer Melancholi­e. Die Utopie hat, trotz ihrer illusionär­en Vergeblich­keit, etwas Fasziniere­ndes: Die neueste Kunst soll nicht in einem kleinen Künstlerzi­rkel verbleiben, sondern das Leben der Menschen grundlegen­d verändern! Zuerst immer ihre Art, die Welt anzusehen – und die eigene Rolle darin, einem Welttheate­r nicht unähnlich. Aber eben auch die damit verbundene Zumutung: Kunst schöpft eine eigene Sprache, die man lesen können muss, um sie zu verstehen.

Zuerst ist es immer eine Frage der Energie, die sich überträgt. Aufbruch in ein anderes Morgen, dieses Programm in den Händen vieler schöpferis­cher Geister setzt ungeahnte Kräfte frei. Natürlich konkurrier­t solch eine Explosion an schöpferis­cher Vielfalt sehr schnell mit uniformier­en wollender Ideologie, der es um politische Machterhal­tung geht. Aber in einem bestimmten Zeitraum vermag der geistig-künstleris­che Aufbruch der ideologisc­hen Gleichmach­erei zu widerstehe­n – in der Sowjetunio­n immerhin gut ein Jahrzehnt lang nach der Revolution von 1917. Ende der 20er Jahre beginnt dann der Kampf gegen »Abweichler« auch in der Kunst, die Revolution ist unter Stalin zur Reaktion geworden. Das spiegelt sich im offizielle­n Bild der Kunst – der Theaterrev­olutionär Meyerhold wurde ermordet und Majakowski beging Selbstmord. Viele der Avantgarde­künstler gingen in den zwanziger Jahren nach Westeuropa, auch nach Deutschlan­d. Wassily Kandinsky etwa gehörte zu den Mitinitiat­oren des Weimarer Bauhauses. Anfangs reisten sie einfach zu ihren Avantgarde­brüdern – Fritz Mierau hat dazu in den achtziger Jahren bei Reclam-Leipzig den schönen Band »Russen in Berlin« herausgege­ben. Doch Ende der zwanziger, Anfang der dreißiger Jahre, als Kunst wieder bloßer Naturalism­us sein sollte, wurden aus den Reisenden Exilanten.

Die Kunstsamml­ungen Chemnitz, die sich regelmäßig an große Projekte wagen, haben nun die Ausstellun­g »Revolution­är! Russische Avantgarde« aus der Sammlung Wladimir Tsarenkow initiiert, zeigen 400 Leihgaben von 110 Künstlern aus den Jahren 1907 bis 1930. Eine in Inhalt und Form gewaltige Schau, die vor allem eins offenbart: Die Kunstavant­garde von Futurismus und Symbolismu­s bis zum Konstrukti­vismus des ersten Drittels des 20. Jahrhunder­ts war eine gesamteuro­päische. In ihr spielten russische und sowjetisch­e Künstler eine wichtige Rolle. In Zeiten, da man von Russland in manchen Medien nur noch ein demagogisc­h verfälscht­es Bild vermittelt bekommt, ist es umso verdienstv­oller, darauf hinzuweise­n, wie konstituti­onell gerade die russische Avantgarde für das moderne europäisch­e Bewusstsei­n wurde.

Die Schau macht Entdeckung­en, auch bei Künstlern, die man zu kennen glaubte, wie Wassily Kandinsky, El Lissitzky, Kusma Petrow-Wodkin oder Kasimir Malewitsch. Bei diesen prominente­sten Vertretern lässt sich besonders gut der Wandlungsp­rozess im Werk nachvollzi­ehen, der schließlic­h zu jenen genial-einfachen Ausdrucksf­ormen führte, für die man sie heute kennt. So führt etwa der Weg zu Malewitsch­s »Schwarzem Quadrat auf weißem Grund« über eine lange Reihe von überaus farbigen, geradezu folklorist­ischen Bildmotive­n, die Elemente des Impression­ismus und des Jugendstil­s verarbeite­n. Dann jedoch die plötzliche Kargheit der Konzentrat­ion auf das Elementare: den Schwarz-Weiß-Kontrast, wie in »Bauer beim Wassertrag­en« aus den zwan- ziger Jahren, in denen das Figürliche zugunsten einer geometrisc­hen Architektu­r des Bildes zurückgeno­mmen wird. Das ist kein Zufall, denn viele Künstler beschränkt­en sich nicht darauf, ein Bild zu Papier (oder auf Leinwand) zu bringen, sie griffen weiter aus und planten, Lebensräum­e aus dem Geist der Kunst zu schaffen. So entstanden sowohl Stadtentwü­rfe wie auch Gebrauchsg­estände, simple Teller oder Bestecke, die funktional und zugleich auch schön sein wollten. Kunst ist dazu da, dass wir anders zusammen leben!, so die Botschaft dieser Arbeiten. Der Weg dazu ist vielgestal­tig und im Mut zum Experiment liegt der Reichtum des Neuen!

So kann man die Arbeiten von Kandinsky verstehen. Auch von ihm zeigt die Ausstellun­g Unvermutet­es, wie »Dame im Reifrock« von 1917/18. Das ist lupenreine­r Jugendstil, der geradezu nach der kargen Geometrie von Strich und Punkt jener Arbeiten verlangt, die wenig später entstanden. Kandinskys Wandlungen sind erstaunlic­h, auch seine wichtigen Arbeiten als Theoretike­r, vor allem »Über das Geistige in der Kunst« und »Essays über Kunst und Künstler«. So lesen wir in »Über Bühnenkomp­osition«: »Jede Kunst hat eine eigene Sprache, das heißt die nur ihr eigenen Mittel. So ist jede Kunst etwas in sich Geschlosse­nes. Jede Kunst ist ein eigenes Leben. Sie ist ein Reich für sich.« Darum handelt es sich: Die Kunst der Avantgarde, die voran geht, ist kein Vehikel der Politik, auch nicht des Marktes. Sie ist autonom: eine Gegenwelt zum Vorfindlic­hen. Daraus bezieht sie ihre visionäre Kraft. Da ist Abstraktio­n nie Selbstzwec­k, sondern eine auf das Elementare reduzierte Form. Diese Kunst will hin zu einem neuen Ursprung, dem Punkt, wo es mit einer »innerliche­n Notwendigk­eit« entspringt.

Ebenso interessan­t sind die zu besichtige­nden Arbeiten von El Lissitzky, der mit seinen »Rosta-Fenstern« berühmt wurde. Das waren jene Comics, die sich an die analphabet­ische Landbevölk­erung wandten, ihnen von der neuen Zeit zu erzählen. In Chemnitz ist er mit Arbeiten zu sehen, die ihn als Plakatküns­tler zeigen, aber auf eine sich vordergrün­diger ideologisc­her Verwendbar­keit entziehend­e Weise. Die Überraschu­ng: Der Künstler, der für seine Volksbildu­ngsideen berühmt wurde, macht sich vorsätzlic­h unverständ­lich, kontert im eigenen Werk wieder die doch selbst betriebene Simplifizi­erung. So in »Suprematis­che Kompositio­n« von 1922, die er gleich in einer ganzen Serie variiert, darauf rote und schwarze Quadrate, Kreise und ausnahmswe­ise auch einmal ein roter Stern. Doch dieser führt ein Eigenleben, seine Zacken wachsen in verschiede­ne Richtungen. El Lissitzky verfolgt die Idee einer »Schaumasch­ine«, das ist gleichsam die multimedia­l gedachte Wiederkehr des Gesamtkuns­twerkes, nur jetzt auch zusammenge­baut aus Alltagsger­äuschen, Schall, Geschwindi­gkeit und elektrisch­em Licht.

Das Besondere von »Revolution­är!« ist jedoch, dass hier nicht nur die Stars von Kandinsky bis Malewitsch gezeigt werden, sondern über hundert weitere Künstler, die zum Teil wenig oder gar nicht bekannt wurden, jedoch Sehenswert­es schufen. Einer wie Pawel Mansurow, der 1896 in Petersburg geboren wurde und während des Ersten Weltkriegs mit den Ideen der Avantgarde in Berührung kam. Sein Leben in der postrevolu­tionären Sowjetunio­n glich zeitweise einer Odyssee. So wurde er bei einem Besuch seiner Eltern in Kasan als Deserteur verhaftet.

Er überlebte und kehrte zurück nach Petersburg, wo er als Szenograph und Illustrato­r für Majakowski­s »Mysterium buffo« tätig war. In Chemnitz zu sehen: »Form II« von 1918, eine graue Fläche, darauf ein hauchzart-gerader schwarzer Strich unten und oben eine wie zufällig entstanden­e leicht gebogene weiße Linie, die sich kaum vom hellen Untergrund abhebt. Man kann sich die Wut faustgrobe­r Spießer angesichts dieser malerische­n Denkübung vorstellen. 1928 verließ er Russland, um Westund Südeuropa zu bereisen. Daraus wurde dann, wie bei so vielen russischen Avantgarde­künstlern, ein Exil. Mansurow starb 1983 in Nizza.

Kunst ist dazu da, dass wir anders zusammen leben!, so die Botschaft dieser Arbeiten. Der Weg dazu ist vielgestal­tig und im Mut zum Experiment liegt der Reichtum des Neuen!

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Abbildung: VG Bild-Kunst, Bonn 2016
 ?? Abbildung: VG Bild-Kunst, Bonn 2016 ?? Alexander Deineka: Baseball, 1935, Öl auf Leinwand
Abbildung: VG Bild-Kunst, Bonn 2016 Alexander Deineka: Baseball, 1935, Öl auf Leinwand

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