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Wird Berlin Hartz-IV-freie Zone?

Die Deutsche Wohnen will in Kreuzberg die Bewohner einer ganzen Siedlung wegdämmen

- Von Nicolas Šustr

Investoren wollen große Renditen mit den Mieten. Das bringt stadtweit immer mehr Menschen in Bedrängnis. So auch die Bewohner der Kreuzberge­r Otto-Suhr-Siedlung. Sie appelliere­n an die Politik. Otto Suhr war eine Ikone der Berliner Sozialdemo­kratie. Die nach ihm benannte Siedlung am Nordrand Kreuzbergs ist ein Musterbeis­piel der drohenden Verdrängun­g von Mietern durch energetisc­he Sanierung. Mietsteige­rungen bis zu 30 Prozent drohen durch die Maßnahmen, die im Sommer beginnen sollen.

In einem Offenen Brief wenden sich die Bewohner nun an die Politik. Nach der Privatisie­rung der einst landeseige­nen Bestände im Jahr 2004 landete ein Teil der Siedlung nach einigen Zwischenst­ationen bei der Deutschen Wohnen. »Mit jedem Verkauf verschlech­terte sich die Bewirtscha­ftung der Wohnanlage«, schreiben die Mieter.

»Unter dem Vorwand der Verbesseru­ng der Wohnverhäl­tnisse durch energetisc­he Sanierung geht es ausschließ­lich um die Profitmaxi­mierung dieses börsennoti­erten Konzerns«, heißt es weiter. Die Mieter selbst könnten auf der Strecke bleiben. Für die meisten von ihnen »wird die Miete nämlich nach Abschluss der Arbeiten nicht bezahlbar sein«, so das Schreiben. Im konkreten Beispiel soll die Kaltmiete für eine 63,55 Quadratmet­er große Wohnung von bis 315,84 Euro auf 458,98 Euro steigen. Das liegt über den »angemessen­en Wohnkosten« für Bezieher von Hartz IV. Die Mieter fordern von der Politik eine Überprüfun­g der Maßnahmen, Unterstütz­ung und letztlich eine Rekommunal­isierung der Siedlung. Diesen Mittwoch soll das Schreiben übergeben werden.

Wegen der Möglichkei­t, elf Prozent der energetisc­hen Sanierungs­kosten zeitlich unbegrenzt auf die Miete umzulegen, ist die Rendite für die Hauseigent­ümer zweistelli­g.

»Es gibt sogar eine investitio­nsfreie Möglichkei­t zur Ertragsste­igerung«, sagt der Stadtsozio­loge Andrej Holm. »Bewohner mit alten Mietverträ­gen will man so loswerden.« Darum würden inzwischen Kündigunge­n und folgende Räumungskl­agen mit absurden Begründung­en ausgesproc­hen. Zum Beispiel wegen Schuhen im Treppenhau­s oder weil nach mehrmalige­m Wechsel der Hausverwal­tung der Bewohner den Überblick verloren hat und die Miete auf dem falschen Konto landet. Holm berichtet das an diesem Montagaben­d auf einer Veranstalt­ung des Bildungsve­reins Helle Panke. Das Interesse ist riesig, viele müssen draußen bleiben. »Berlin entwickelt sich zur Hartz-IV-freien Zone«, sagt Holm. Während 2007 noch 100 000 Wohnungsan­gebote innerhalb der von den Ämtern vorgegeben­en Kostengren­zen lagen, waren es 2015 gerade noch 9575. Die durchschni­ttliche Angebotsmi­ete lag 2015 bei 9,05 Euro nettokalt, die Bestandsmi­ete bei 5,84 Euro. »Selbst das liegt schon über dem Höchstsatz von 5,71 Euro für Einpersone­nhaushalte«, sagt Holm. Bei größeren Familien sinkt der Satz auf bis zu 5,33 Euro.

131 000 bezahlbare Wohnungen fehlten schon 2015 für Haushalte mit geringem Einkommen. Auch absolut fehlt Wohnraum. Während von 1992 bis 2014 rund 200 000 Wohnungen gebaut wurden, nahm die Zahl der Haushalte im selben Zeitraum um 330 000 zu. Standen 1995 noch 108 Wohnungen pro 100 Haushalte zur Verfügung, waren es 2014 nur noch 96 Wohnungen. »Inzwischen kann niemand mehr an den Rand gedrängt werden, weil auch der schon voll ist«, sagt Holm. Im Außenbezir­k Spandau lag 2014 die Wohnungsve­rsorgungsq­uote auch bei nur 90 Prozent des Bedarfs. »Die Konkurrenz führt zu Diskrimini­erung«, so der ehemalige Wohn-Staatssekr­etär.

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Foto: nd/Ulli Winkler Einfach, aber noch günstig. Die Bewohner der Otto-Suhr-Siedlung wollen, dass das so bleibt.

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