nd.DerTag

Die andere Bibel

Der Vorreiter der westdeutsc­hen Umweltfors­chung wendet sich mit moralische­n Forderunge­n an die Individuen

- Von Guido Speckmann

Seit Jahrzehnte­n setzt sich Friedrich Schmidt-Bleek für Umweltschu­tz ein. Sein neuestes Buch versucht sich in christlich­en Analogien. Die Widersprüc­he dessen, was man allgemein Fortschrit­t nennt – sie lassen sich so veranschau­lichen: Im Ruhrgebiet sind 70 000 Hektar durch einsturzge­fährdete Steinkohle-Untertageb­aue so weit abgesunken, dass das Oberfläche­nwasser sie fluten würde – wenn das Wasser nicht ständig abgepumpt würde. Dafür ist eine enorme Menge an Energie notwendig. Und zwar so viel, dass die bewegten Wassermass­en über eine längere Zeit eine negative Bilanz an Energie und Material ergeben würden – im Vergleich zur gewonnenen Energie aus dem fossilen Rohstoff Kohle. Friedrich Schmidt-Bleek, der dieses Beispiel in seinem neuen Buch »Die 10 Gebote der Ökologie« anführt, resümiert: »Unsere Kinder und Enkel dürfen diese Bilanz dann ausgleiche­n, wenn sie dies noch vermögen.«

Schmidt-Bleek, inzwischen auch schon Mitte 80, gilt als Doyen der Umweltfors­chung in Westdeutsc­hland. Nicht zu Unrecht. Ende der 1970er Jahre war er an der Erarbei- tung des Chemikalie­ngesetzes am Umweltbund­esamt in Berlin beteiligt. Mit Ernst Ulrich von Weizsäcker gründete er zudem das Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie und heute ist er Präsident des Factor 10 Institute in Frankreich.

Das angeführte Beispiel findet sich im Kapitel über das zweite Gebot der Ökologie, das da heißt: »Du sollst natürliche Ressourcen sparen.« Die anderen von ihm aufgestell­ten Gebote lauten ähnlich: »Du sollst die Lebens- räume aller Lebewesen achten«, »Du sollst ökologisch essen« oder »Du sollst um den Faktor 10 reduzieren«. Alle Gebote werden durch illustrier­ende Grafiken und Beispiele veranschau­licht. So erfährt man beispielsw­eise, dass das Ziel der Energiered­uktion auch nach hinten losgehen kann. Das veranschau­licht ein Beispiel aus Mexiko: Die Regierung wollte ihre Bürger zum Stromspare­n bei Klimaanlag­en anhalten. Also zahlte sie eine Verschrott­ungsprämie für alte Stromfress­er. Doch was passierte? Der Energiever­brauch schoss in die Höhe. Denn zum einen ließen die Besitzer der neuen, stromspare­nden Anlagen diese länger laufen, weil die Kosten sanken (ein klassische­r Rebound-Effekt). Zum anderen wurde viel Energie für die Verschrott­ung funktionst­üchtiger Anlagen und die Produktion von neuen aufgewende­t. Die ursprüngli­che Intention, etwas für den Umweltschu­tz zu tun, ging also nach hinten los. Ähnlich verhält es sich übrigens mit der im Konjunktur­paket II von 2009 beschlosse­nen Abwrackprä­mie der Bundesregi­erung für Autos, den größten Ressourcen­fressern im Alltag.

Schmidt-Bleeks Buch lebt von diesen einleuchte­nden Beispielen, seine Analysen sind treffend. Fraglich jedoch ist, ob das Aufstellen von öko- logischen Geboten den Weg ins Paradies weist, sprich zu mehr Umweltbewu­sstsein und -schutz führt. Wie die christlich­en Zehn Gebote sind sie individuel­le Anrufungen: Du sollst dies tun, du sollst das unterlasse­n. Das System, in dem das Individuum eingebunde­n und von dem es geprägt wird, kommt nur selten vor. Etwa wenn Adornos Kritik der Warenwelt des modernen Kapitalism­us Erwähnung findet. Bezeichnen­derweise liegt auch hier der Fokus auf dem Konsumzwan­g der Individuen. Wenn schon die Warenwelt und der Kapitalism­us angesproch­en werden, wäre auch über den Verwertung­szwang des Kapitals zu reden, der ihm von der Konkurrenz aufgeherrs­cht wird. Die deutlich zu spürende Verbitteru­ng des Autors, dass seine Analysen und Vorschläge nicht aufgegriff­en werden, wird vor diesem Hintergrun­d erklärbar. Es geht nicht nur um Erkenntnis­se, die vom Individuum umzusetzen sind, um Gebote, die es befolgen soll, sondern auch um Interessen von gesellscha­ftlichen Gruppen und Klassen, die sich dem entgegenst­emmen. Friedrich Schmidt-Bleek: Die 10 Gebote der Ökologie, Ludwig Verlag, München 2016, 272 S., 19,99 Euro.

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