Flensburg hat mehr zu bieten, als Strafpunkte von Autofahrern zu verwalten.
Denen würde er es schon zeigen. Haben sie ihn doch einfach nicht zur Taufe eingeladen, obwohl Hinz und Kunz dabei sein werden! »Axel« ist wütend, sehr wütend sogar. In der Nacht zum 5. Januar, elf Tage vor dem Fest, kann er einfach nicht mehr an sich halten und schickt seine Rache übers Meer nach Flensburg, exakt dorthin, wo der Täufling, das nagelneue »Kreuzfahrtschiff« »Hafen Flensburg«, fest verankert an der Schiffsbrücke vis-à-vis dem Museumshafen liegt. Als mächtige Sturm- Walter Braasch liebt und lebt Rum. flut kommt Axel daher, dringt durch Türen und Fenster und tobt sich in dem schönen, neuen Hotel aus, noch ehe es offiziell eröffnet wird.
Doch wer sich mit der Crew um »Kapitänin« Kirsten Herrmann anlegt, muss damit rechnen, dass die sich wehrt. Die 38-jährige Mecklenburgerin musste nicht mal nach ihrer Mannschaft rufen, alle kamen und packten mit an, damit die Taufe nicht ins von Axel geschickte Wasser fällt. Hatten sich doch alle schon so auf den Tag gefreut, an dem sie das neue Flaggschiff der Stadt feiern würden, das exakt an der Stelle gebaut wurde, wo vor 150 Jahren das einst renommierte Hotel »Kayser’s Hof« die Gäste in Scharen anlockte. Viele Jahre stand das verfallene Hotel nur noch als hässliche Ruine an einem der schönsten Plätze der Fördestadt, ehe behutsam acht Häuser, die zwischen dem 16. und 21. Jahrhundert erbaut wurden, saniert und verbunden wurden, um wieder ganz in der maritimen Tradition Gästen aus aller Welt ein Ankerplatz auf Zeit zu werden.
Bevor kurz vor Ultimo auch die letzten Spuren von Axel weggewischt waren und am 16. Januar die Champagnerkorken zur Taufe knallen konnten, brauchte die erschöpfte Hotelmannschaft auf den Schreck erst einmal was Stärkeres. Da kam natürlich nur eines infrage: Rum! Flensburger Rum natürlich, der seit rund 300 Jahren zur Stadt gehört, wie die Schiffe im Hafen.
Im 18. Jahrhundert war die damals noch zu Dänemark gehörende Stadt einer der bedeutendsten Seehandelshäfen der Westindien Flotte. 1755 erlaubte der dänische König den Flensburgern den Handel mit Waren aus der Karibik, sofort machten sich einige Mutige auf den gefahrvollen Seeweg in die dänische Kolonie »Dansk Vestindien« und ab 1864, als Flensburg nach dem Deutsch-Dänischen Krieg preußisch wurde, nach Jamaika, das »weiße Gold« Zucker zu holen. Daneben brachten sie auch den daraus hergestellten Rum mit, der mit seinen über 70 Prozent Alkohol allerdings viel zu stark zum Trinken war. Sie ließen ihn in den Kellern reifen, bevor sie ihn mit Wasser auf Trinkstärke verdünnten. Als 1887 das Deutsche Reich mit hohen Zöllen auf ausländische Produkte die heimische Spirituosenindustrie zu schützen versuchte, rettete ein Chemiker das Geschäft der Flensburger Rumhändler. Er erfand nämlich den »German Flavoured Rum Type«, der so ultrahochkonzentriert ist, dass bereits kleinste Mengen davon reichten, um Korn oder Kartoffelschnaps so zu veredeln, dass deren Aroma dem von echtem Rum in nichts nachstand. Der Rum-Verschnitt war erfunden. Wie Pilze schossen nun die Rumhäuser aus dem Boden. Rund 200 waren es in besten Zeiten, 1976 existierten noch 26 Firmen, heute gibt es noch zwei.
Die Firma Johannsen, gegründet, am 1. Mai 1878, gehört zu den ältesten Rumhäusern überhaupt und wird heute in der vierten Generation von Martin Johannsen geführt. In den Kellern der Marienstraße 8 reifen neben echtem Rum auch viele unterschiedliche Rum-Verschnitte, die man dort auch verkosten kann. Walter Braasch hingegen gründete sein Unternehmen erst gut 100 Jahre später – aus Liebe und Leidenschaft zum Rum, wie er sagt. Längst hat sich der gelernte Destillateur zu einem echten Experten entwickelt, der seine Gäste gern auf einen Schluck in sein Der Oluf-Samson-Gang: der einst romantischste Puff Nordeuropas kleines Rummuseum entführt, das er 2014 gleich neben der Manufaktur in der Roten Straße 26 eingerichtet hat. Es liegt garantiert nicht nur am Rum, wenn man das Museum ganz beschwingt wieder verlässt, denn der 62-Jährige weiß auch überaus charmant zu plaudern – über Rum ebenso wie über »Gott und die Welt«.
Beschwingt waren mit Sicherheit auch die Seeleute und andere Männer, die einst im Oluf-Samson-Gang ein- und ausgingen. In der nur 100 Meter langen Gasse wurden sie nämlich seit 1918 von sogenannten Freudenmädchen erwartet, die alle kein schlechtes Geschäft machten. Bis in die 80er Jahre war die, auch als »romantischster Puff Nordeuropas« bezeichnete Animiermeile das Zuhause von rund 70 Liebesdienerinnen, dann verschwand eine nach der anderen und die Gasse verfiel zunehmend. Bald schon wurden Stimmen laut, die alten Häuser abzureißen. Glücklicherweise entschied man sich letztendlich, sie zu sanieren. Heute ist der Oluf-Samson-Gang ein Domizil für brave Bürger und ein Touristenmagnet. In einigen Häusern kann man sich sogar für ein paar Wochen einmieten. Wenn man(n) dann zu Hause erzählt, Urlaub in einem Freudenhaus gemacht zu haben, kann man(n) sich der Aufmerksamkeit sicher sein.
Aufmerksamkeit ganz anderer Art erheischen die zu Hunderten quer über die Norderstraße aufgehängten ausgelatschten Schuhe. So richtig weiß keiner, was das bedeuten soll, Interpretationen aber gibt es unzählige. Beispielsweise die, dass Flensburger, die ihrer Heimatstadt den Rücken kehren, statt eines Koffers ihre alten Schuhe zurücklassen. Was eigentlich keinen Sinn macht, denn: Wer verlässt schon freiwillig eine so schöne Stadt? Egal, wohin man sich Es gibt viele Deutungen, warum Hunderte ausgelatschte Schuhe über der Norderstraße hängen. wendet, sie hat Flair und bietet Lebenskultur. Man muss nur mal rechts und links in die Durchgänge der alten Häuser in der rund 3,2 Kilometer langen Großen Straße schauen. Traumhaft schöne Kaufmannshöfe tun sich da auf, insgesamt gibt es mehr als 70, fast alle sind öffentlich zugänglich und 25 von ihnen beherbergen kleine Oasen mit Gaststätten, Geschäften und Ruheplätzen.
Alljährlich am Himmelfahrtswochenende, wenn die »Rumregatta« auf der Förde ausgetragen wird, wird es eng in Flensburg. Tausende Schaulustige zieht das Rennen der Gaffelsegler an, bei dem es nicht nur darum geht, seinen Segler in schönster Vollkommenheit zu präsentieren, sondern auch darum, die begehrte Trophäe, eine edle Drei-Liter-Flasche Johannsen Rum mit geblähten Segeln nach Hause zu fahren. Die allerdings bekommt nicht der Sieger, sondern traditionell der Zweitplatzierte. Wen wundert’s da, dass es die Schiffe nicht so eilig haben, ins Ziel zu segeln.
Übrigens: Wer wissen will, wie Segelyachten entstehen, oder historische Segler saniert werden, der sollte sich die Zeit nehmen, und im Robbe & Berking Yachting Heritage Centre vorbeischauen. Dort kann man darüber alles erfahren und außerdem die mit 8500 Bänden weltweit größte Bibliothek über Yachtsportliteratur bewundern. Zurzeit werden hier zwei historische Beiboote des 1908 erbauten Salondampfers »Alexandra« nachgebaut, der gerade in einer Werft in Husum saniert wurde. Ab der Rumregatta soll das letzte seetüchtige Passagierdampfschiff Deutschlands wieder mit Touristen durch die Förde schippern, vorbei am »Hotel Hafen«, wo sich inzwischen alle Aufregung um Axel gelegt hat.